Berlinale Kamera

Bei den 75. Internationalen Filmfestspielen Berlin wird der Filmwissenschaftler und Künstlerische Direktor der Deutschen Kinemathek Rainer Rother mit der Berlinale Kamera geehrt.
Die Verleihung der Berlinale Kamera findet am 20. Februar 2025, 14:30 Uhr in der Akademie der Künste am Hanseatenweg statt. Die Laudatio hält Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für Politische Bildung. Im Rahmen von Berlinale Special wird anschließend der prämierte Berlinale-Film Yella von Christian Petzold gezeigt.
Dr. Rainer Rother ist seit April 2006 Künstlerischer Direktor der Deutschen Kinemathek und Leiter der Retrospektive der Berlinale. Er zeichnet auch für die Berlinale Classics verantwortlich. Für die Berlinale kuratierte er u.a. Werkschauen von Regisseuren wie Buñuel und Bergman oder mit Themenschwerpunkten etwa zu den Arbeiten von Regisseurinnen oder zu Independent-Filmen aus den Archiven der Kinemathek. Gleichzeitig engagierte er sich auch für filmästhetische Betrachtungen von innovativen Verfahren wie Technicolor oder 70mm. Rainer Rother hat bereits vielfach zur Filmgeschichte publiziert und ist Autor mehrerer Bücher. Von 2001 bis 2019 war er Mitglied der Auswahlkommission für den Wettbewerb der Berlinale.
Berlinale-Intentandin Tricia Tuttle sagt: „Wir ehren Rainer Rother für sein langjähriges Wirken im Dienst der Erhaltung der cineastischen Geschichte und als Brückenbauer zwischen Historie und Gegenwartskino. Unter seiner Leitung erschließt die Deutsche Kinemathek erfolgreich das lebendige Erbe der Filmkunst, schafft Voraussetzung für dessen Digitalisierung und entwickelt Strategien, um es für neue Publikumskreise zu öffnen. Wir danken Rainer Rother besonders für seine Arbeit als leidenschaftlicher Kurator, der unzählige Besucher*innen der Berlinale mit seinen Retrospektiven begeistert hat.“
„Mehr zeigen als den Kanon!“

Das Plakat zur Retrospektive 2009
Rainer Rother über seine Zeit als Leiter der Retrospektive 2006 - 2025
Sie sind seit 2006 Künstlerischer Direktor der Deutschen Kinemathek und seit 2007 Leiter der Retrospektive der Berlinale – ein Traumjob, den Sie nun abgeben. Ihre Ära zeichnet sich durch themenbezogene Programme aus. Nur dreimal lag ihnen ein biografischer Ansatz zugrunde – bei Buñuel (2008), Bergman (2011) und zuletzt King Vidor (2020). Ist hierin so etwas wie Ihre „Handschrift“ zu erkennen?
In gewisser Weise setzten die themenbezogenen Reihen eine Tradition der Retrospektive fort. Wir haben technische Aspekte behandelt. Wir haben 70-mm-Filme und Technicolor präsentieren können – wobei wir in beiden Fällen quasi die letzte Gelegenheit am Schopf gepackt haben, denn für 70-mm-Projektionen muss man über die entsprechenden Kinos und beim technischen Personal über das entsprechende Knowhow verfügen. Wir haben uns Perioden gewidmet – das war auch vor meiner Zeit schon der Fall. Wir haben ästhetische Fragen behandelt, indem wir das „Glorious Technicolor“ mit der „Ästhetik der Schatten“ im Schwarzweißkino verglichen. Es gab also durchaus Kontinuitäten zu den älteren Retrospektiven, die sich etwa mit dem Farbfilm oder mit CinemaScope beschäftigten. Das wollten wir bewusst fortsetzen. Tatsächlich ist es aber auch so, dass wir uns in den letzten Jahren etwas weiter vom Kanon wegbewegt haben, als das in den Jahren zuvor der Fall war. Dies passt aber auch, glaube ich, in die Zeit. Wir müssen nicht immer nur die großen Namen präsentieren. Es gibt ein Publikum, das neugierig ist und sich Filme anschaut, weil es Entdeckungen dabei erwartet. Diese Entdeckungen macht man natürlich leichter, wenn man nicht die Reihe von Pabst, Murnau, Lang und anderen Regiegrößen verfolgt. Hinzu kommt, dass ich ein gewisses Misstrauen gegenüber dem Geniekult habe, wenn es um Film geht. Es ist dies eine Kunst, die sehr stark vom Kollektiv geprägt ist.
„Weimarer Kino – neu gesehen“ war ein Retrospektive-Titel der vergangenen Jahre. Wie programmatisch war das „neu Sehen“ der alten Filme für Ihre Programme generell?
Es gibt ja richtiggehend eine „Bewegung“, die Filmgeschichte nach jenen zu durchforsten, die bisher nicht im Rampenlicht standen. Das ist bei den Festivals, aber auch an den Universitäten so. Das finde ich sehr begrüßenswert, und „Weimar“ ist ein gutes Beispiel. Unter anderen haben wir Filme gezeigt, die wir von Regisseur*innen haben besprechen lassen. Und wenn man dann liest, wie Wim Wenders auf Richard Eichbergs Song. Die Liebe eines armen Menschenkindes guckt oder wie Dietrich Brüggemann auf Joe Mays Ihre Majestät die Liebe schaut oder Andres Veiel auf Der Katzensteg von Gerhard Lamprecht – und die Rückmeldung aus diesen Texten kommt: Das sind wunderbare Filme – dann merkt man auch, dass plötzlich Qualitäten in Filmen zutage treten, die lange Zeit nur als Unterhaltungskino oder als Preußenfilm abgelegt worden waren. Dies ist eine wichtige Aufgabe der Retrospektive mittlerweile: mehr zu zeigen als den Kanon, zu überraschen, herauszufordern. Für meine Generation waren Filmemacher wie John Ford, Jean Renoir oder Yasujirō Ozu Entdeckungen einer ganz neuen Filmwelt. Das funktioniert jetzt nicht mehr so eindeutig. Die Entdeckung wird jetzt woanders gesucht.

Rainer Rother im Gespräch mit Paolo Cherchi Usai vom George Eastman House, Rochester
Mehrere Retrospektiven entstanden in Kooperation mit dem Museum of Modern Art in New York. Im dortigen Metrograph-Kino und im Academy Museum in Los Angeles wurden Ende letzten Jahres auch die Filme der Retrospektive 2024 „Das andere Kino – Aus dem Archiv der Deutschen Kinemathek“ gezeigt. Wie wichtig waren die internationalen Kontakte für Ihre kuratorische Arbeit?
Wir hätten die Retrospektive zu Technicolor ohne die wunderbare Kooperation mit dem George Eastman House niemals realisieren können. Wir hätten die „Ästhetik der Schatten“ ohne die Unterstützung des Museum of Modern Art und der Japan Foundation, die dafür ganz wesentlich war, nicht machen können. Unsere Retrospektiven unterliegen nicht allein den Kooperationen mit Universitäten, sondern auch der Vernetzung der Archive untereinander, die sehr viel stärker geworden ist und sich durch regelmäßige Treffen auf Festivals auszeichnet – Festivals unter anderem in Bologna und Pordenone, aber mittlerweile auch dem Filmerbe-Festival der Deutschen Kinemathek „Film Restored“ in Berlin. Dort gibt es einen intensiven Austausch darüber, was man gesehen hat, woran man arbeitet.
Über welche Funde und Wiederentdeckungen freuen Sie sich heute noch am meisten?
Im Weimar-Programm war es sicher Der Katzensteg. Es ist ein Film des Kinemathek-Gründers Gerhard Lamprecht, dementsprechend sollten wir alle ihn gekannt und geschätzt haben. Dem ist so aber nicht gewesen. Wir haben in der Retrospektive auch nur eine 16-mm-Kopie in nicht perfekter Qualität vorführen können. Nun aber hat der Film Karriere gemacht, denn inzwischen ist er restauriert worden – dies eben auch durch die Kooperation mit zwei internationalen Archiven, mit dem Archiv in Belgrad und dem in Prag, wo noch Nitrokopien aus den 1920er-Jahren vorhanden waren, sodass der Film jetzt viel, viel schöner aussieht und in dieser Qualität auch auf anderen Festivals gelaufen ist. Ich denke aber auch an DEFA-Filme aus der Retrospektive „Selbstbestimmt“, an Entdeckungen wie Die Taube auf dem Dach oder Das Fahrrad. Die Retrospektive, die wir 2019 ausschließlich Regisseurinnen gewidmet haben, war im Grunde selbst die Entdeckung.

Die Darstellerinnen von Katja von Garniers Bandits - der im Rahmen der Retrospektive „Selbstbestimmt - Perspektiven von Filmemacherinnen“ gezeigt wurde - kamen 2019 zum Screening: Rainer Rother mit Jasmin Tabatabai, Andrea Sawatzki, Nicolette Krebitz, Katja Riemann und Jutta Hoffmann
Anders als bei Werkschauen Verstorbener konnten Sie in den Retrospektiven immer wieder Gäste begrüßen. Das ist doch wohl ein Zugewinn?
Wir haben uns natürlich immer bemüht, möglichst viele Regisseur*innen, Kameraleute, Darsteller*innen in die Kinos zu bringen. Das ist für das Publikum großartig. Aber es ist auch für uns selbst eine beglückende Erfahrung, wenn man mit diesen Gästen ins Kino geht und der Saal proppenvoll ist. Denn das ist auch für jene, die an dem Film beteiligt waren, eine wunderbare Erfahrung. Manchmal bringen Gäste ihre ganzen Teams mit. Wir haben da schon sehr große Versammlungen gehabt! Ja, das ist neu für die Retrospektive. Die ist lebendiger geworden. Das schätzen wir sehr!
Dank digitaler Restaurierungen kommen zurzeit zahlreiche alte Filme neu auf den Markt, was sich in den „Classics“-Reihen internationaler Festivals – auch der Berlinale – widerspiegelt. Sind sie die Retrospektiven der Zukunft?
Ich hoffe sehr, dass das nicht der Fall ist! Die Entwicklung der Digitalisierung und Restaurierung wollen wir bei der Berlinale natürlich abbilden, das sind wir der filmhistorischen Tradition des Festivals schuldig und das hat sich auch sehr gut entwickelt. Die filmhistorische Tradition der Berlinale ist jedoch wirklich eine, was die A-Festivals angeht, einzigartige – eine kuratierte Reihe, und das unterscheidet sie von den Berlinale Classics. Die Berlinale Classics sind eine Auswahl aus Einreichungen, die wir aus aller Welt erhalten, während die Retrospektive eine bewusste Entscheidung für ein Thema, eine Periode, ein persönliches Werk ist. Dies ermöglicht einen anderen Blick auf die Filmgeschichte. Da die Berlinale seit langem das einzige A-Festival ist, das dies kontinuierlich leistet und mit diesem „Blick“ zuletzt über 23.000 Zuschauer*innen erreicht hat, hoffe ich, dass wir mit einem verbesserten Budget in der Zukunft auch wieder über 15 Filme hinauskommen.
Das ist Ihrer Nachfolgerin sehr zu wünschen! Was wünschen Sie ihr noch?
Heleen Gerritsen wird sicher eigene Ideen in die Retrospektive einbringen. Ich wünsche ihr, dass sie genauso viel Freude an der Zusammenarbeit mit dem Team hat wie ich.