2018 | Panorama

Der Geist des Widerstandes

Seit diesem Sommer verantwortet Paz Lázaro als Sektionsleiterin das Panorama und kuratiert zusammen mit Michael Stütz und Andreas Struck das Programm. Sie haben Wieland Speck, der 25 Jahre die Geschicke der Sektion leitete, abgelöst. Im Interview sprechen Paz Lázaro und Michael Stütz über ihre neue Funktion und das Panorama-Programm 2018.

Kinshasa Makambo von Dieudo Hamadi

Zuerst die offensichtlichste Frage: Wie geht es weiter nach der Ära Speck?

PL: „Ära Speck“ ist schön gesagt. Tatsächlich ist in diesem Jahr alles neu. Wir sind 20 Jahre jünger als Wieland und arbeiten in einer ganz anderen Konstellation. Die Ära Speck war sehr fokussiert auf die Person des Kurators, der die Identität der Sektion geprägt hat. Jetzt diskutieren wir zu dritt die Auswahl der Filme und haben 2018 ein buchstäbliches Panorama, also ein extrem reichhaltiges Spektrum an Arbeiten, zusammengestellt. Wir haben uns Freiräume geschaffen jenseits der Erwartungen. Deshalb gibt es in diesem Jahr weniger Filme als im letzten und das Programm ist kompakter geworden.

MS: Der Prozess der Diskussion war mit dem Luxus verbunden, sich Zeit zu lassen, nicht sofort entscheiden zu müssen und über einen längeren Zeitraum hinweg immer wieder in die Diskussion zurückzukehren. So konnten wir die einzelnen Filme vor dem größeren, wachsenden Bild sehen. Das war ein wichtiger organischer Prozess für uns. Die Freiheit zu haben, die eigene Einstellung auch zu ändern. Wir haben uns gegenseitig angespornt und befruchtet.

Ex Pajé (Ex Shaman) von Luiz Bolognesi

Über Grenzen

Ich finde das diesjährige Programm trägt deutlich Eure Handschrift und ist in meinen Augen sehr stringent kuratiert. Es zeugt von einer zersplitterten globalen Welt und schaut sehr genau in bestimmte Milieus. Verbunden ist das mit dem Thema der „Grenze“ oder der „Grenzüberschreitungen“. Etwa Ex Pajé (Ex Shaman) von Luiz Bolognesi erzählt von einem einstmals isolierten Ort, an dem jetzt die Welten aufeinanderprallen...

PL: Genau wie Land von Babak Jalali. Beide Filme zeigen die Versuche indigener Völker, in der Welt der Weißen zu überleben. Ihr kulturelles Erbe ist im Verschwinden begriffen. Die Hauptfigur, der Schamane in Ex Pajé fasst das gut zusammen: „Früher sind die Leute zum Schamanen gegangen, heute nehmen sie Aspirin“.

MS: Die Grenzen und die Grenzüberschreitungen finden sich hier zwischen der ursprünglichen und einer westlich-kolonialisierten, katholischen Welt, in die das indigene Volk missioniert werden soll. Ihre Verlorenheit zeigt sich etwa an ihrer absoluten Teilnahmslosigkeit in der Kirche. Der Westen hat ihnen diese Religion aufgezwungen, aber sie bedeutet ihnen nichts. Eine weitere Szene macht diese Zerrissenheit sehr deutlich: Eine Frau erleidet einen Schlangenbiss und der Schamane versucht sie mit seinen natürlichen Mitteln zu heilen. An dieser Stelle überschreitet der Film die Grenze zum Übersinnlichen.

Valene Kane in Profile von Timur Bekmambetov

Digitale Welt

Ex Pajé zeigt auch, wie die westlichen Kommunikationsmittel – etwa das Smartphone – Einzug halten. Wie pathologisch die Wahrnehmung der Welt über Medien und vor allem über das Internet werden kann, zeigt Timur Bekmambetovs Profile, der nur über Screens die Geschichte einer Journalistin erzählt, die sich als IS-Kämpferin rekrutieren lässt. Gibt es mehr Filme im Programm, die sich mit der Digitalisierung der Welt beschäftigen?

PL: Das Thema ist sehr präsent. Garbage von Q erzählt von einer Frau, die auf der Flucht ist, weil sich ein heimlich gefilmtes Sexvideo mit ihr viral im Netz verbreitet. In Tinta Bruta (Hard Paint) von Marcio Reolon und Filipe Matzembacher ist der Protagonist extrem abhängig vom Internet.

MS: In Chatrooms kann er zwar seinen Lebensunterhalt verdienen, aber er versteckt sich hinter seiner virtuellen Identität, die ihm hilft, seine sozialen Phobien zu überwinden. Jegliche Kommunikation verläuft nur auf körperlicher Ebene.. Als er im Netz einen jungen Mann kennenlernt, ist das für ihn der Auslöser, die Schatten zu verlassen und tatsächliche Nähe und Interaktion zuzulassen. An diesem Punkt fangen die Probleme an und er muss sich mit seinen Phobien auseinandersetzen. Die Regisseure des Films sind jung und werfen einen äußerst zeitgemäßen Blick auf ihre Generation.

Susi Sánchez und Bárbara Lennie in La enfermedad del domingo (Sunday’s Illness) von Ramón Salazar

PL: La enfermedad del domingo (Sunday’s Illness) von Ramón Salazar beginnt mit einem Aufeinandertreffen von Mutter und Tochter, die sich seit 30 Jahren nicht gesehen haben. Auf die Frage der Mutter: „Wie hast du mich gefunden?“ antwortet die Tochter: „Ich hab dich einfach gegoogelt.“ Also auch hier spielt das Internet, wenn auch auf einer ganz banalen Ebene, eine entscheidende Rolle.

Až přijde válka (When the War Comes) von Jan Gebert

Der Aufschwung der Rechten und der Verfall der Linken

Auch für die rechtsradikale paramilitärische Gruppe in Až přijde válka (When the War Comes) von Jan Gebert spielt das Internet eine Rolle...

MS: Ja. Die Gruppe sucht die Öffentlichkeit ganz bewusst für propagandistische Zwecke und – analog zu den Islamisten in Profile - um zu rekrutieren. Sie trainieren für den Ernstfall, den Krieg der Kulturen, den sie heraufbeschwören.

Die Gruppe scheint extrem isoliert von der Außenwelt, trainiert in Wäldern. Wie reagiert das Umfeld auf ihr Treiben?

PL: Mit Gleichgültigkeit. Die Gesellschaft schaut zu und unternimmt nichts. Eine Mutter fährt ihren kleinen Jungen zu seiner paramilitärischen Übung, als wäre es ein Fußballspiel. Diese Gleichgültigkeit ist sehr entscheidend für den Aufschwung des Rechtsradikalismus

MS: Až přijde válka ist ein Beispiel für den neuen Nationalismus, den konservativen Backlash, der auf globaler Ebene zu beobachten ist. Viele Filme im Programm zeigen die Auswirkungen dieser Denkart und was der Wandel für Frauen, queere Menschen und generell Menschen, die sich nicht der Norm anpassen wollen, bedeutet.

Der Aufschwung der Rechten ist verknüpft mit dem Verfall der Linken. Ist Hotel Jugoslavija ein Film, der sich mit diesem Niedergang beschäftigt?

MS: Der Regisseur Nicolas Wagnières ist in der Schweiz geboren und aufgewachsen. Seine Mutter kommt aus Serbien, deshalb war er als Kind oft dort. Das titelgebende Hotel Jugoslavija steht repräsentativ für die Zeit vor dem Fall des Eisernen Vorhangs, wurde aber auch während des Bürgerkriegs genutzt und wird so zum Symbol für die wechselnden politischen Zeiten. Wagnières nutzt Archivmaterial und Voice-Over für eine konzentrierte und sehr persönliche Reflektion über den Zerfall Jugoslawiens.

PL: In Interviews sprechen die Hotelangestellten über die Vergangenheit, aber auch die Gegenwart. Sie sind Zeugen des gesellschaftlichen und politischen Wandels. Mitunter scheint eine gewisse Nostalgie durch, eine Sehnsucht nach dem früheren Gemeinschaftsgefühl vor der Privatisierung des Hotels. Mit dem Kapitalismus und dem Bürgerkrieg ging die Menschlichkeit verloren. Unter dem Eindruck des Verfalls der Linken werden „die alten Zeiten“ schnell romantisiert, das findet sich auch in Je vois rouge (I See Red People), in dem die Filmemacherin Bojina Panayotova ihre Eltern nach ihren bulgarischen Wurzeln fragt. Bis zu ihrem 30. Lebensjahr dachte sie, dass der Kommunismus die versprochene Utopie und ihre Kindheit in Bulgarien wunderschön war. Dann beginnt sie nachzufragen, es kommt zu extremen Konflikten mit ihren Eltern und die Wahrheit über ihre Vergangenheit kommt ans Licht. In beiden Filmen bündelt der Blick zurück mitunter die Energie und verhindert, dass im Heute gehandelt wird. Auch wenn der Blick in die Geschichte natürlich die Voraussetzung für den Blick in die Zukunft und eine Frage der Identität ist, kann er hemmend wirken.

The Silk and the Flame von Jordan Schiele

Familienkonflikte und die Rückkehr in die Heimat spielen auch in The Silk and the Flame eine Rolle...

MS: Der US-amerikanische Regisseur Jordan Schiele, der schon lange in Peking lebt, begleitet einen guten Freund in die Provinz, wo dessen Familie in einfachen Verhältnissen lebt. Die Eltern sind beide körperlich beeinträchtigt, beide können nicht mehr sprechen. Die Kommunikation mit den Eltern ist dadurch sehr eigenwillig. Die Familie hat ein eigenes Zeichensystem entwickelt, um miteinander zu kommunizieren. The Silk and the Flame zeigt, wie sehr die Familie ihre Erwartungen auf den Sohn projiziert. Er ist ausgebrochen, hat die Provinz verlassen, hat Erfolg und unterstützt jetzt die Familie. Die Familie erwartet von ihm, dass er endlich heiratet, obwohl er schwul ist. Das stößt ihn in eine tiefe Zerrissenheit zwischen der Loyalität zu seiner Familie und der Sehnsucht nach einem eigenen, selbstbestimmten Leben.

Verhandelt der Film seine Geschichte nur auf persönlicher Ebene oder geht es auch um soziologische Kategorien wie etwa die der Klasse?

MS: Der Film taucht sehr stark in den familiären Mikrokosmos ein, erzählt aber auch viel über China, über das Stadt-Land-Gefüge. Menschen gehen in die Stadt, aber die Verbindung zu ihren Wurzeln bleibt bestehen. So entsteht die Zerrissenheit einer ganzen Gesellschaft. Wir haben viele Filme über Intersektionalität im Programm, in denen Klasse bewusst diskutiert und reflektiert wird. Von Game Girls bis Shakedown. Von der deutschen Provinz in Familienleben bis hin zur argentinischen Peripherie in Marilyn. In den einzelnen Filmen stehen diese Dinge zunächst für sich, aber im Rahmen des Programms gibt es natürlich viele Überschneidungen und Referenzen. So entsteht ein sehr aktueller politischer Blick auf die Welt.

Game Girls von Alina Skrzeszewska

Widerstand

Widerstand zu leisten ist ein weiteres wichtiges Thema Eures Programms 2018...

MS: Durchaus. Kinshasa Makambo von Dieudo Hamadi etwa handelt dezidiert vom politischen Widerstand gegen Präsident Kabila und reflektiert, wie Einzelne zum Widerstand stehen, wie sich Widerstand organisieren lässt. Game Girls von Alina Skrzeszewska porträtiert ein afro-amerikanisches, lesbisches Paar in der Skid Row, der US-amerikanischen „Hauptstadt der Obdachlosen“. Er greift die Themen Klasse, Rasse und Geschlecht auf und zeigt Unterprivilegierte, die sich selbstbestimmt einen eigenen Raum schaffen und versuchen, die Obdachlosigkeit hinter sich zu lassen.

PL: Sie bleiben beharrlich und wollen sich nicht in die Opferrolle pressen lassen. Stattdessen suchen sie nach Lösungen und Alternativen. Diese Art des Widerstands spielt in vielen anderen Filmen ebenfalls eine Rolle. In ihnen steckt viel Energie, sie reflektieren nicht nur, sondern sagen klar: „Mit uns nicht, so geht es nicht weiter. Wir lassen uns das nicht gefallen.“ Es gibt einen extremen Kampfgeist in den Filmen dieses Jahr.

MS: Auf eine sehr introspektive Art und Weise verhandelt Marilyn von Martín Rodríguez Redondo das Thema in einer Coming-of-Age-Geschichte, die in der argentinischen Provinz angesiedelt ist. Dort sind die patriarchalen Strukturen noch stark verankert, niemand darf nach links oder rechts ausscheren. Der Protagonist steht auf Jungs und trägt gerne Kleider. Sein Wunsch nach Selbstbestimmung wird von der Familie unterdrückt, die in einer prekären Situation lebt, seit der Vater gestorben ist. Der Druck ist immens. Hier findet eine Radikalisierung im Inneren statt, die sich weder artikulieren noch ausagiert werden kann, weil es die Außenwelt nicht zulässt.

Generation Wealth von Lauren Greenfield

Eine Welt der internalisierten Zwänge scheint sich auch in Generation Wealth albtraumhaft zu entfalten...

MS: Die Zwänge des Konsums. Aber nicht nur. Lauren Greenfield interessiert sich auch für den obsessiven Umgang mit Arbeit, Schönheitsidealen oder schlicht Geld. Und die zerbrochenen Träume am Ende. Jede Figur ist auf ihre Art gebrochen und so werden auch die menschlichen Hintergründe beleuchtet.

PL: Zudem will sie die Wurzeln ihrer eigenen Besessenheit mit den grotesken Auswüchsen des amerikanischen Traums erforschen, die sich wie ein roter Faden durch ihre künstlerische Arbeit zieht. Im Zuge dieses Blicks zurück auf die eigene Herkunft interviewt sie auch ihre Mutter. An dieser Stelle ist der Film Je vois rouge und Hotel Jugoslavija sehr nahe. Generation Wealth ist auch sehr lehrreich: Dass es Schönheitsoperationen für Hunde gibt, wusste ich bisher nicht.