2017 | Berlinale Shorts

„Reframing the Image“

Von vermeintlich Dokumentarischem, einem philosophischen Computerspiel, sinnlich-direktem Kino und Filmen mit Sprengkraft. Berlinale-Shorts-Kuratorin Maike Mia Höhne spricht im Interview über die Chance eines Kurzfilmprogramms, verschiedene Perspektiven bieten zu können, und die Einladung an das Publikum, besondere Blicke wahr- und einzunehmen.

Agustín Alcides Otero in Centauro (Zentaur) von Nicolás Suárez

Wie ist das diesjährige Leitmotiv „Reframing the Image“ zu verstehen?

„Reframing the Image“ bedeutet für mich in erster Linie zu hinterfragen, durch welche Klischees unsere Realität besetzt ist. Es ist eine Einladung zur Neujustierung der eigenen Wahrnehmung, eine Einladung, die eigene Vorstellung von etwas und jemandem anders zu gestalten, indem der Blick eine neue Perspektive einnimmt. So wie es beispielsweise Esteban Arrangoiz Julien aus Mexiko in seinem Film Ensueño en la Pradera (Träumerei in der Prärie) auf bemerkenswert schlichte und nachhaltig eindrucksvolle Weise macht. Die Totale zeigt eine karge Weidelandschaft. In einiger Distanz unterhält sich ein junges Paar, während sich aus weiter Entfernung ein Auto nähert. Vom Erzähler erfahren wir aus dem Off, dass der junge Mann vor einem Jahr aus den Vereinigten Staaten nach Mexiko zurückgekehrt ist, weil er seine Heimat vermisst hat. Eine Heimat, die fest im Griff der Drogenkartelle ist. Erpressungen und Entführungen sind an der Tagesordnung. Dazu das sich nähernde Auto. Dann Schwarzbild, später ein Schuss. Und sofort haben die Zuschauer*innen das Gefühl die Situation zu erfassen, weil aus x Spielfilmen bekannt ist, wie das Drogengeschäft läuft. Dieses Moment des scheinbaren Verstehens wird gebrochen durch die Entlarvung des vermeintlich Dokumentarischen als Fiktion: Die Geschichte ist erfunden, so der Erzähler weiter. Dann - wieder auf Schwarzbild – sprechen kleine Kinder von ihren Träumen. Wenn sie groß sind, wollen sie Drogenbosse werden. Eine wirklich beeindruckende Annäherung an die Vorstellung von dem, was passiert ist. Danach brauchst du erstmal Luft zum Atmen, weil du so gebannt bist.

Everything von David OReilly

David OReilly (Please Say Something, Goldener Bär für den Besten Kurzfilm 2009 & RGB XYZ, Lobende Erwähnung, Berlinale Shorts 2008) hebt in seinem Computerspiel Everything das Leitmotiv auf eine andere Ebene, indem er einen philosophischen Ansatz wählt. Für den Film hatte er zwei Inspirationsquellen: zum einen die Schriften des englischen Religionsphilosophen Alan Watts, der sich vor allem mit der Philosophie des Zen, des Buddhismus und des Daoismus auseinandergesetzt hat. Zum anderen den Kurzfilm Powers of Ten von Charles und Ray Eames aus dem Jahr 1977, in dem die Kamera anfangs auf ein picknickendes Paar im Park gerichtet ist und sich dann in Zehnerpotenzschritten immer weiter bis ins Weltall entfernt, um schließlich wieder zurück bis ins Innere des Körpers zu fahren. Everything ist die Einladung alles und jede*r zu sein und das kleine bedürftige Ich zu überwinden. Auch das bedeutet „reframing“. Im Rahmen von Berlinale Talents wird David OReilly über Philosophie und Ästhetik sprechen, dabei wird er das Spiel als Spiel präsentieren.

The Boy from H2 (Der Junge aus H2) von Helen Yanovsky

Wie passt das mit dem diesjährigen Titel „The Stars Down to Earth“ von Forum Expanded und der daran geknüpften Aussage zusammen, den Blick vom Himmel abzuwenden und auf den Boden der Tatsachen zu richten, sei in einer aus den Fugen geraten Welt nötiger denn je?

Die große Chance eines Kurzfilmprogramms ist ja gerade die Möglichkeit des Wechsels, sowohl das Eine als auch das Andere zeigen und verschiedene Perspektiven bieten zu können.
Mahdi Fleifel gewährte mit seinem Film A Man Returned (Silberner Bär für den Besten Kurzfilm 2016) differenzierte Einblicke in das größte palästinensische Flüchtlingslager Libanons - jenseits aller vorgefassten Vorstellungen. Mit The Boy from H2 (Der Junge aus H2) findet sich in diesem Jahr eine ähnlich konkrete Arbeit im Stil des Direct Cinema im Programm, die das Erleben eines zwölfjährigen Palästinensers in der geteilten Stadt Hebron für den Zuschauer unmittelbar erfahrbar macht. Der Sektor H2 ist unter Kontrolle der Israelis und die Bewegungsfreiheit der Palästinenser stark eingeschränkt. Der Protagonist nimmt uns mit auf die Straße, wir folgen ihm auf seinen alltäglichen Wegen durch die zahlreichen Checkpoints, die Teilung der Stadt wird direkt spürbar. Ein Albtraum.

Die große Frage, die hinter vielen Arbeiten steht: Wie kann ein Gleichgewicht hergestellt werden in dieser aus den Fugen geratenen Welt? Das diesjährige Programm wird von den Farben Schwarz und Grün bestimmt. Für mich Ausdruck der Notwendigkeit, wieder in einen Dialog zu treten – mit unseren Mitmenschen, mit der Natur - und der Notwendigkeit, weniger zu konsumieren, und das, ohne dass die Filme moralisierend sind. Sie lassen genug Raum für den wandernden Geist des Zuschauers.

Oh Brother Octopus von Florian Kunert

In Oh Brother Octopus von Florian Kunert ist das Gleichgewicht der Welt aus den Fugen geraten. Die Apokalypse nähert sich in Form einer künstlichen Welt, die mich an Dubai erinnert. Sie vernichtet die Lebensgrundlage der Menschen und ist gleichzeitig ein Heilsversprechen.

Letztes Jahr hast Du Deine eigene Handschrift als Kuratorin mit den Begriffen Sex und Politik sowie Sinnlichkeit und Körper beschrieben. Wo findet sich das Sinnlich-Körperliche im diesjährigen Programm?

Fuera de Temporada (Außerhalb der Saison) von Sabrina Campos aus Argentinien ist eine Erzählung ohne Klimax. Der Film erzählt von einer Liebe, die war, aber nicht mehr ist. Die Sinnlichkeit entsteht durch die Inszenierung der sich suchenden Körper. Ohne Höhepunkt, ohne Drama.

Doch mit Sinnlichkeit meine ich keineswegs nur das Sexuelle. Ich meine das Direkte, das Feinporige, das Anfassbare. Das Klischee, das sich auflöst, indem man es aufdröselt.

Balthazar Monfé, Vincent Minne und Jean-Benoît Ugeux in Le film de l'été (Der Film des Sommers) von Emmanuel Marre

In Le film de l'été (Der Film des Sommers) von Emmanuel Marre gibt es eine Szene, in der sich zwei Freunde unterhalten. Der eine ist frisch verliebt. „Dann habt ihr bestimmt gefickt wie die Kaninchen?“, fragt der Andere. „Nein, eigentlich nicht. Wir waren einfach nur beieinander. Und seither benutze ich immer das Duschgel, das sie gekauft hat.“ Was für ein tolles, greifbares Bild für die Liebe! Während der eine ganz im Hier und Jetzt ist, ist der andere gefangen in seiner Welt der Vorstellung, die mit der realen Welt seines Gegenübers gar nichts zu tun hat.

Auch ein Gebäude kann ein Körper sein, wenn in Fishing is Not Done on Tuesdays das Haus zum Kinematografen wird, durch den wir hindurchgucken und der den Blick führt. Die abgebildeten Handlungen entziehen sich einer eindeutigen Lesart. Konkret und damit fassbar ist nur der Beton des Hauses.

Martin Pleure (Martin weint) von Jonathan Vinel

Martin Pleure (Martin weint) wiederum ist rein aus einem Gefühl heraus entstanden und findet genau darin seine Stärke. Jonathan Vinel (Tant qu’il nous reste des fusils à pompe, Goldener Bär für den Besten Kurzfilm 2014 & Notre Héritage, Berlinale Shorts 2016, beide in Zusammenarbeit mit Caroline Poggi) ordnet Sequenzen aus dem Computerspiel „Grand Theft Auto V“ zu einer lyrischen Erzählung über Verlust, Sehnsucht und Wut. Er gibt seine Empfindung wieder, hat keine Angst vor großen Gefühlen oder starken Bildern und führt eben nicht den großen Diskurs über den „schädlichen“ Umgang mit Computerspielen.

Eine sinnliche Filmerfahrung bietet auch The Crying Conch durch die direkte Ansprache des Publikums - ähnlich dem Chor in der griechischen Tragödie. Ein Mann steht vor dem dunklen Meer und brüllt in die Nacht den Zuschauer*innen entgegen: Franswa Mackandal wurde im 18. Jahrhundert als Sklave nach Haiti verschleppt und dort zum Anführer der Revolte gegen die französischen Kolonialherren. Vincent Tois Film ist im Heute angesiedelt, Mackandal ein Bauarbeiter, der von seinem Vorarbeiter herumkommandiert wird. Wie damals durchschaut er die Mechanismen der Macht und setzt sich zur Wehr. Und so hallt die Geschichte als Echo in der Gegenwart wider.

The Rabbit Hunt von Patrick Bresnan

Auch ein Film wie The Rabbit Hunt bietet durch seine Direktheit nicht viele Distanzierungsmöglichkeiten für die Zuschauer*innen. Patrick Bresnan hat bereits mehrere Dokumentarfilme in der Kleinstadt Pahokee im Bundesstaat Florida gedreht. In The Rabbit Hunt zeigt er junge Männer an der Schwelle zum Erwachsenwerden, die, einem Initiationsritual gleich, auf Kaninchenjagd gehen. Wenn für die Zuckerrohrernte die Felder abgebrannt werden und die Kaninchen vor den Flammen flüchten, sind Konzentration, Schnelligkeit und Mut gefragt. Denn die Tiere werden mit bloßen Händen gefangen und getötet. Das ist sehr direktes Kino und ich bin mir sicher, dass das Publikum darauf reagieren wird. Und genau darum geht es ja: To get us activated.

Welche Herausforderungen haben sich Dir bei der Programmierung gestellt?

Die Programmierung war in der Tat sehr interessant dieses Jahr. Gerade weil jede einzelne Arbeit eine große Sprengkraft besitzt. Ich habe einen Film nach dem anderen eingeladen, das Programm Schritt für Schritt fertiggestellt und wirklich lange über die Komposition nachgedacht.

Libreta Michalchov, Marina Reines und Rita Berkowitz in Miss Holocaust von Michalina Musielak

Miss Holocaust habe ich beispielsweise entgegen meinem ersten Impuls nicht an das Ende eines Programms gesetzt, denn der Film bietet schon während der Rezeption Freiräume, über das Abgebildete nachzudenken. Seit 2012 wird im israelischen Haifa jährlich ein Schönheitswettbewerb für Überlebende des Holocaust veranstaltet. In der Vorbereitung lernen die Bewerberinnen sich zu präsentieren und proben den Gang über die Rampe des Laufstegs. In der israelischen Gesellschaft wird der Wettbewerb kontrovers diskutiert. Für die Frauen ist er etwas Positives, denn ihre Motivation ist es, die Erinnerung wachzuhalten. Gerade bei diesem Thema finde ich es eine echte Leistung, wie es die Filmemacherin Michalina Musielak schafft, eine Distanz zwischen den Zuschauer*innen und den Protagonistinnen des Films aufrechtzuerhalten, um eine Reflexion zu ermöglichen.

Im Kontrast dazu habe ich an den Anfang des Programms - noch vor Miss HolocaustKometen (Der Komet) von Victor Lindgren (Ta av mig, Teddy Award für den Besten Kurzfilm 2013) gestellt, der wiederum durch seine Konzentration von enormer Kraft ist. In weniger als 10 Bildern erzählt Lindgren Flucht, Ankommen und die Einsamkeit eines jungen Somaliers. Beide Filme verbindet die Frage, wie das Leben weitergehen kann, wenn alles am Ende ist. Sie liefern damit den Ausgangspunkt für ein Programm, das langsam aufwärts klettert.

Elisa Pestana und Mohamed Zinet in Monangambeee von Sarah Maldoror

Ein Film des diesjährigen Programms wird außer Konkurrenz gezeigt. Warum hast Du Monangambeee in die Auswahl aufgenommen?

Monangambeee öffnet den dramaturgischen Bogen, um die zeitgenössischen Filme in den Dialog mit ihren Vorgängern zu bringen. „Monangambeee“, was so viel wie „weißer Tod“ bedeutet, war einst ein Alarmruf, der vor der Ankunft der portugiesischen Sklavenhändler in Angola warnte. „Heute dient er als Signal zum Sammeln für die Volksbefreiungsfront“, so beschrieb es die Kritikerin Nadia Kasji in den 1970er Jahren. Die Regisseurin Sarah Maldoror, selbst in dem französischen Inselstaat Guadeloupe geboren, hat ihren Film wiederum in Algerien gedreht - im Geiste der Befreiung Afrikas und mit offizieller Unterstützung der C.O.N.C.P. (Konferenz der nationalen Organisationen der portugiesischen Kolonien) und der technischen Beihilfe der algerisch-nationalen Volksarmee. Sie illustriert anhand eines Missverständnisses auf exemplarische Weise die Verständigungsschwierigkeiten zwischen Kolonialherren und Unterdrückten: Eine Frau besucht ihren Mann im Gefängnis. Beim Abschied verspricht sie ihm ein „Complet“, in Algerien ein einfaches Gericht aus Bohnen und Fisch. Für die Unterdrücker bedeutet das Wort „Complet“ jedoch „Anzug“. Und so wird das Versprechen von den Wärtern als Hinweis auf den Versuch gedeutet, sich dem Urteil vor einem Tribunal zu widersetzen, und es hat schließlich schlimme Folgen für den Gefangen. Sarah Maldoror verzichtet darauf, die Unterdrückung anhand von vermeintlich realistischen Foltermethoden zu illustrieren. Sie entscheidet sich stattdessen für eine mimetische Abbildung der Empfindungen. Die eigene Kultur vom Blick der Kolonialherren zu befreien, darum geht es.

Avant l'envol (Before the Flight) von Laurence Bonvin

João Salaviza (Rafa, Goldener Bär für den Besten Kurzfilm 2012) findet in Altas Cidades de Ossadas (Hohe Städte aus Totengebein) ein ähnlich starkes Bild für die Frage nach dem Platz, den die Gesellschaft einem jeden zuweist. Der Rapper Karlon ist in einer Siedlung bei Lissabon geboren und aufgewachsen. In seinen Songs setzt er sich mit seinen kapverdisch-kreolischen Wurzeln auseinander. Salaviza übersetzt das Thema in einen fiktionalen Film über Karlon, der sich im Film aus der Siedlung in die Zuckerrohrfelder zurückzieht. Menschen aus seinem Umfeld versuchen ihn von der Rückkehr zu überzeugen, doch er will einfach nicht.

Laurence Bonvin interessiert sich in ihrem Film Avant l'envol (Before the Flight) für die Staatsarchitektur, die im Zuge der Unabhängigkeit von Frankreich in der Elfenbeinküste gebaut wurde. Das Parlament, das Rathaus, die Finanzzentrale. Man beauftrage damals Architekten aus dem Ausland. Der Franzose Henri Chomette, der 1949 nach Äthiopien ausgewandert ist, entwarf viele öffentliche Gebäude, die bis heute zu den markantesten Abidjans zählen. Auch in Avant l'envol sind die Gebäude die Körper, wird die Architektur zur Protagonistin.

Ich freue mich sehr darauf, während der Berlinale für elf Tage gemeinsam mit dem Publikum und den Filmschaffenden diese besonderen Blicke wahr- und einzunehmen.