2021 | Generation

Über Zugehörigkeit, Außenseitertum und die Kraft der Fantasie

Die Filme in der Auswahl der Generation 2021 sind eine Einladung, über das Offensichtliche, Dominante, Laute hinauszugehen und genauer hinzuschauen. Im Interview spricht Sektionsleiterin Maryanne Redpath über die vielfältigen Welten, in denen junge Menschen heute aufwachsen und über die Kunst, dabei auch die kleinen Dinge wahrzunehmen, die von Bedeutung sind.

Kristine Kujath Thorp und Nader Khademi in Ninjababy von Yngvild Sve Flikke

Vor zwei Jahren trat die Fridays-for-Future-Bewegung als bedeutende neue Kraft im Kampf für Klimagerechtigkeit auf den Plan. Ihre Bemühungen sind durch das Coronavirus gebremst worden. Spiegeln die Filme, die für das diesjährige Generation-Programm ausgewählt wurden, eine Sorge um die Umwelt wider, und glaubst du, dass das für zukünftige Generationen weiterhin ein wichtiges Thema sein wird?

Junge Menschen haben hier und heute, mit oder ohne Pandemie, keine Wahl: sie sind mit dem Klimawandel konfrontiert und mit dem Mangel an echten Veränderungen, den wir alle erleben. Es ist ihre Zukunft, die auf dem Spiel steht, neben der des Planeten. Ich bin eine ausgesprochene Verfechterin der Fridays-for-Future-Bewegung und ihres Engagements, ihrer Kraft und ihres Glaubens an die Wissenschaft. Eigentlich sollten jedoch wir als Erwachsene uns dringend mit dieser Krise befassen. Greta Thunberg fragt, wie wir es wagen können, den Kindern die Verantwortung für ihre Zukunft und die des Planeten zu übertragen. Und ich denke genauso: Wie können wir als Erwachsene es wagen, einfach nichts zu tun?

In Bezug auf die Filmauswahl von Generation 2021 gibt es mehrere Filme, die direkt oder indirekt mit der Klimakrise in Zusammenhang stehen und die das menschliche Wesen untersuchen sowie unsere Beziehung zur Natur. Nehmen wir zum Beispiel den dänischen Dokumentarfilm From the Wild Sea von Robin Petré, der anregt, genau darüber nachzudenken. Das Klima bildet den Ausgangspunkt – die Wellen und die Stürme, die gegen die englische Südwestküste peitschen. Durch diese Stürme, die viel heftiger sind als früher, werden viele Meerestiere verletzt und müssen gerettet werden. Andere Wildtiere leiden darunter und sterben daran, dass sie Plastik mit ihrer Nahrung aufnehmen oder von Schiffen gerammt und verletzt werden. Auf der Leinwand sehen wir einigen von ihnen tatsächlich beim Sterben zu. Der Film eröffnet dem Publikum Raum, das bewusst wahrzunehmen – und dabei auch sich selbst. Er moralisiert nicht mit erhobenem Zeigefinger, er eröffnet einfach diesen Raum. In langen, poetischen Einstellungen beobachten wir die Tiere und sie schauen direkt zurück. Auf diese Weise treten wir mit ihnen in einen Dialog, der tiefgreifend ist und uns am Ende mit vielen Fragen zurücklässt. Es gibt keine einfachen Antworten, aber wenn man Veränderungen initiieren möchte, muss man damit anfangen, bewusst darüber nachzudenken, was auf dem Spiel steht. Dieser Film zielt auf Konfrontation, jedoch auf sehr behutsame, poetische und schlussendlich herzzerreißende Art.

John Russel Rey "Reyboy" Paño in Last Days at Sea (Letzte Tage am Meer) von Venice Atienza

Ein anderer Film, der in direktem Bezug zum Thema Klimagerechtigkeit steht, ist die dokumentarische Form Last Days at Sea (Letzte Tage am Meer) von Venice Atienza. Der Film ist aus der gemeinsamen Arbeit der Regisseurin und einem Jungen entstanden, der in einem Fischerdorf lebt, das vollkommen vom Rest der Philippinen abgeschieden ist. Es liegt an der Küste und keine Straße führt dorthin. Wir erleben die letzten Tage, bevor Reyboy in die große Stadt umziehen muss, um dort eine weiterführende Schule zu besuchen. Er steht auf der Brücke zwischen Kindheit und Jugend, kurz davor, den großen Schritt in die Welt draußen zu gehen. Die Regisseurin fängt nicht nur auf sehr schöne Weise seine Gedankenwelt und seine Beziehung zu seinem Zuhause ein, sie zeigt auch das Dorf, seine Gemeinschaft und deren Umwelt. Von außen gesehen mag das alles sehr idyllisch erscheinen, doch leben die Menschen dort in einer sich stark verändernden Welt. Die Ozeane werden von der Fischindustrie überfischt, ihre großen Fischerboote operieren zu nahe an der Küste, weshalb die Fischer des Dorfes immer weiter hinausfahren müssen, was mit ihren kleinen Booten schnell gefährlich wird. Außerdem wird an der Küste jede Menge Plastik angespült, was es unmöglich macht, diesen Ort als unberührtes Paradies zu verklären. So beleuchtet der Film unter anderem die Zusammenhänge zwischen Klima(un)gerechtigkeit und sozialer (Un)Gerechtigkeit.

Mehrere Filme befassen sich dieses Jahr mit Außenseiter*innen, die von der Gesellschaft ausgegrenzt werden – sei es ein autistisches Mädchen in Una escuela en Cerro Hueso (Eine Schule in Cerro Hueso), oder Hauptfiguren, die in anderen Ländern Zuflucht suchen wie in den Filmen Ensilumi (Erster Schnee) und Fighter, oder Beans, die mit der Bedrohung ihrer Gemeinschaft der Mohawk First Nations konfrontiert ist. Wie finden diese Protagonist*innen einen Ausweg aus ihrer Marginalisierung?

In Una escuela en Cerro Hueso, dem Spielfilmdebüt von Betania Cappato aus Argentinien, geht es um ein Mädchen mit einer Autismus-Spektrum-Störung. Emas Familie ist nach Cerro Hueso gezogen, einem kleinen Ort in ländlicher Umgebung, um ihrer Tochter dort ein Umfeld zu bieten, das sie akzeptiert und unterstützt, nachdem sie bereits an 17 anderen Schulen abgelehnt wurde. Was diesen Film so besonders macht ist der Umstand, dass wir als Zuschauer*innen den Eindruck bekommen, die Welt durch die Augen der autistischen Hauptfigur wahrzunehmen. Es ist in den Filmen von Generation häufig so, dass die Welt aus der Perspektive einer jungen Protagonistin oder eines jungen Protagonisten gezeigt wird. Aber autistische Kinder sind in ihrer Fähigkeit, auszudrücken, was sie denken, empfinden oder wahrnehmen, sehr stark eingeschränkt. Auf sehr sensible Weise porträtiert der Film also diese junge Protagonistin, die ein für sie neues Umfeld erkundet und weder diesem Umgang, noch ihren Reaktionen darauf, so richtig Ausdruck verleihen kann. Das Zauberhafte des Films liegt in den Augenblicken, in denen wir sehen, wie sie ein wenig aus sich herauskommt. Auch für ihre Eltern ist es eine große Erleichterung zu sehen, dass ihre Tochter von anderen Menschen akzeptiert wird, wie sie anfängt, Schritt für Schritt auf andere zuzugehen, ein Pferd berührt und kleine Dinge tut, die andere Kinder gerne tun.

Aran-Sina Keshvari in Ensilumi von Hamy Ramezan

In Hamy Ramezans Film Ensilumi wartet eine Familie auf die Annahme oder Ablehnung ihres Asylantrags und führt vor Augen, was gesellschaftliche Ausgrenzung bedeutet. Als der Ablehnungsbescheid kommt, verheimlicht der Sohn Ramin das erst einmal. Ihm und seiner jüngeren Schwester bleibt nichts anderes übrig, als das Schicksal ihrer Familie zu akzeptieren, das ein wirklich unbarmherziges ist. Als Familie allerdings funktionieren sie sehr gut zusammen, und es ist die Liebe ihrer Familie, die sie immer wieder durchhalten und an eine bessere Welt glauben lässt. Gleichzeitig befindet sich Ramin in der Pubertät und ihn beschäftigen all die Fragen, die man hat, wenn man erwachsen wird. Er fragt seinen Vater, wie man Mädchen anspricht und macht seine ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht. Das Ende des Films ist sehr beeindruckend. Trotz aller Widrigkeiten bleiben Ramin und seine Familie stark, würdevoll und liebevoll, behalten ihren Familien- und Gemeinschaftssinn und ihre Sehnsucht nach einem Ort, den sie ihr Zuhause nennen können.

Fighter von Jéro Yun handelt auch vom Dasein als Außenseiterin. Jina ist aus Nordkorea geflüchtet und versucht, mit dem Leben in Seoul zurechtzukommen. Ihre Mutter ist schon Jahre zuvor aus dem Norden geflohen und hat irgendwo in der Stadt eine neue Familie. Jina will sie ausfindig machen, aber Mutter und Tochter hatten schon seit Jahren keinen Kontakt mehr. Ihr Vater will ebenfalls weg aus Nordkorea, wird aber an der chinesischen Grenze festgehalten. So ist die junge Frau völlig auf sich allein gestellt, sucht einen Job und arbeitet Tag und Nacht hart, um über die Runden zu kommen. Der Film spielt in einem Boxstudio, in dem sie anfangs als Putzkraft arbeitet. Aber sie kann auch boxen – sie hat es beim Militär in ihrer Heimat gelernt. Es gibt da eine fantastische Szene, in der sie der Boxtrainer fragt, ob sie wieder mit dem Boxen anfangen möchte, und sie antwortet: „Nein, ich will nicht kämpfen.“ Und er sieht sie an und sagt: „Aber Boxen ist nicht Kämpfen, es ist ein Sport.“ Das bringt den Mentalitätsunterschied zwischen Nord- und Südkorea auf den Punkt. Irgendwann fängt Jina an, sich an ihre neue Umgebung zu gewöhnen. Sie entdeckt sogar, wie es ist, Gefühle zu haben, und obwohl sie sich nicht vollkommen an die neue Gesellschaft, in der sie lebt, anpasst, lernt sie doch einiges, was ihr dabei hilft, diesen Prozess erfolgreich zu gestalten.

Die junge Protagonistin in Beans, einem Film der kanadischen Filmemacherin Tracey Deer, stammt von den Mohawk First Nations People ab. Als indigene Person, die sich an einer Eliteschule bewirbt, ist sie eine Außenseiterin. Tekehentahkhwa, von allen nur Beans genannt, ist hochintelligent und möchte es im Leben weit bringen. Das Ganze spielt vor dem Hintergrund einer Blockade, bei der sich die Mohawk-Gemeinschaft mutig gegen weiße Rassisten stellt, die ihre Souveränität bedrohen. Ein Ereignis, das auf der tatsächlichen Oka-Krise 1990 in der Stadt Oka in der kanadischen Provinz Quebec beruht. Bean lernt, wer ihre Verbündeten sind, und wie sie ihr Halt, Stabilität und ein starkes Zugehörigkeitsgefühl geben. Das ist ein wesentlicher Aspekt der indigenen Lebensweise und der Film zeigt die Dimension auf, die Herkunft und Engagement haben – für die Menschen, für die Familien und das Land.

Cryptozoo von Dash Shaw

Ein weiterer Film, der vom Kampf gegen Außenseitertum handelt, ist Cryptozoo von Dash Shaw, der 2017 sein Spielfilmdebüt My Entire High School Sinking into the Sea bei Generation 14plus präsentierte. In seinem neuesten Animationsfilm sind Fabelwesen, sogenannte Cryptoide massiv bedroht. Die Wesen basieren auf mythologischen Gestalten aus der ganzen Welt, von Gorgonen aus der griechischen Antike bis hin zu japanischen Traumfressern. Sie werden verfolgt, eingefangen und in einen neueröffneten „Cryptozoo“ gesteckt. Mit dem Rücken zur Wand und dem Militär auf den Fersen lehnen sie sich auf und nutzen dafür ihre Superkräfte. So können sie ihre eigene Unabhängigkeit zurückgewinnen. In dem Film geht es auch ganz wesentlich um die Kraft der Fantasie. Der Regisseur ist davon überzeugt, dass alles, was man sich vorstellen kann, real ist. Diese Ansicht teilen die Filmemacher*innen im Programm von Generation: Sie nutzen sowohl die kreative Energie ihres Handwerks als auch die ihrer jungen Protagonist*innen, um mit ihrer Vorstellungskraft gegen so unterschiedliche Herausforderungen wie soziale Ausgrenzung, Klimawandel, religiöse Scheinheiligkeiten, Monster, die Komplikationen der (erste) Liebe, systemische Dysfunktionalitäten und andere schwerwiegende Dinge anzugehen.

Familien scheinen in mehreren der Filme zu fehlen. Würdest du sagen, dass diese Filme Freundschaft oder romantische Sehnsucht ins Zentrum rücken, was anstelle der Familie Halt und Geborgenheit gibt?

Das hängt ganz davon ab, wie man Familie definiert. Ich würde sagen, dass in vielen der Filme in Generation junge Protagonist*innen neue Formen von Familie jenseits der Kernidee von Mutter, Vater, Kind entdecken – obwohl dieses spezielle Modell auch vorkommt. In La Mif (The Fam) unter der Regie von Fred Baillif treffen jugendliche Mädchen aus wirklich schwierigen Verhältnissen in einem Wohnheim aufeinander, in dem sie zusammen mit Sozialarbeiter*innen leben. Dieses neue Umfeld, das für sie ein Zufluchtsort ist, nennen sie La Mif – The Fam. Die jungen Frauen lassen sich auf ihr neues Zuhause ein, bringen aber ihre ganzen Konflikte mit, und es ist mitunter hart, ihnen beim Austragen dieser Konflikte zuzusehen. Sie lernen aber auch, ein Gespür für Nähe oder Distanz gegenüber anderen zu entwickeln, ein Gefühl für Intimität, und zu verstehen, was sie aushalten können und was nicht. Im wirklichen Leben hat der Regisseur tatsächlich als Sozialarbeiter gearbeitet und als solcher versteht er sich gewissermaßen auch in seiner Rolle als Regisseur. Für den Film benutzt er eine interessante Struktur, indem er Szenen zwischen den jungen Frauen und ihren Sozialarbeiter*innen aus verschiedenen Perspektiven wiederholt. Der Film entstand gemeinschaftlich und die Darsteller*innen brachten ihre eigenen Erfahrungen und Hintergründe in den Dreh mit ein. Damit ist das also ein sehr starker „Familienfilm“, wenn auch nicht im klassischen Sinne.

Huang Tian und Zhang Xinyuan in Han Nan Xia Ri (Summer Blur) von Han Shuai

Im chinesischen Film Han Nan Xia Ri (Summer Blur) von Han Shuai steht ein Mädchen im Mittelpunkt, das von ihrer Herkunftsfamilie getrennt leben muss. Die 13-jährige Guo befindet sich im Übergang zwischen Kindheit und Pubertät. Sie wohnt den Sommer über in Wuhan bei der Familie ihrer Tante, von der sie nicht besonders gut behandelt wird, während ihre Mutter in Shanghai arbeitet und dort ein schillerndes Leben genießt. Die Protagonistin wird an einem für sie ungewohnten Ort mit all ihren Beobachtungen, Sehnsüchten und Geheimnissen allein gelassen. Es ist ziemlich schmerzhaft für sie, aufzuwachsen ohne die familiäre Unterstützung und Geborgenheit zu haben, die sie braucht, um sich zu entwickeln. Der Film ist nicht nur traurig – er ist auch sehr tiefgründig, zärtlich und impressionistisch – jedoch spürt man das Fehlen einer echten Familie sehr stark. Halt findet sie durch Freundschaft, und am Ende gewinnen sie und die Familie ihrer Tante anhand kleiner Dinge doch noch ein besseres Verständnis füreinander.

In Jong chak yeok (Bis ans Ende der Welt) vom Regie-Duo Kwon Min-yo und Seo Hansol aus Südkorea sieht man die Familien der vier Mädchen, die im Mittelpunkt des Films stehen, kaum; untereinander entwickeln sie aber eine starke Verbundenheit. Mit analogen Wegwerfkameras ausgerüstet, gehen sie auf Entdeckungsreise ans Ende der Welt, um Aufnahmen für den Fotoclub ihrer Schule zu machen. Der Film zeigt, wie diese digitalisierten Mädchen mittels analoger Kameras die Welt selbständig wahrnehmen und dabei immer mehr das Interesse an ihren Smartphones verlieren. Sie reflektieren und sprechen über ihr neues Umfeld, ihre zwischenmenschlichen Beziehungen, aber auch über ihre Gefühle, ihre Heimat und ihr Verhältnis zu ihren Großeltern. Neben Freundschaft gibt es auch einen gewissen Familiensinn unter ihnen. Die vier Mädchen schließen Bündnisse und auch wenn sie nicht immer alle zusammen im Bild sind, wissen wir doch, dass sie eine Gemeinschaft bilden und sich gegenseitig den Rücken freihalten. Das führt zu einer Stabilität, die von einer anderen Art von Familie herrührt, würde ich sagen.

In Stop-Zemlia, dem Spielfilmdebüt von Kateryna Gornostai, geht es um eine Gruppe ukrainischer Gymnasiast*innen. Der Film schildert eine starke, herzliche und sich gegenseitig unterstützende Freundschaft dreier Jugendlicher. Eine von ihnen, Masha, verliebt sich in einen unerreichbaren Jungen aus ihrer Klasse und macht sich darüber Gedanken, wie sie ihn ansprechen und dazu bringen kann, sie überhaupt wahrzunehmen. Die Erzählung entwickelt sich sehr fließend. Der Film navigiert durch das Gefühlschaos und die romantischen Sehnsüchte von Teenagern, die darauf warten, dass das Leben endlich anfängt.

In Tabija (The White Fortress) von Igor Drljača lebt Faruk, ein junger Mann, bei seiner Großmutter in Sarajevo. Um ihn herum gibt es viel Kriminalität und es besteht die Gefahr, dass auch er dahin abdriftet, weil seine Großmutter sich nicht wirklich um ihn kümmern kann. Gleichzeitig begegnet er einer jungen Frau aus dem „besseren“ Teil der Stadt. Der familiäre Halt und das sichere Umfeld, das es zum Aufwachsen braucht, ist für beide Hauptfiguren eher schwach vorhanden, wenn nicht korrupt. Daher bleibt den beiden, deren Liebe unter einem schlechten Stern steht, nur die Flucht nach vorn. Das heißt, sie müssen den Ort verlassen, der einmal ihr Zuhause war. Der Film ist in vielerlei Hinsicht wie ein Märchen, wirkt in vielen Szenen aber auch sehr gefährlich.

Romy Lou Janinhoff in Mission Ulja Funk von Barbara Kronenberg

Mehr als 60% der diesjährigen Filme bei Generation sind von weiblichen Regisseurinnen gedreht worden. Erklärt das die Fülle eigenwilliger weiblicher Hauptfiguren? Und würdest du sagen, dass hier eine ausgesprochen weibliche Perspektive zu sehen ist?

Jede*r der 16 Regisseur*innen, egal ob männlich oder weiblich, hat ihre/seine eigene Perspektive, die in die Filme einfließt. Abgesehen davon: Ja, wir haben dieses Jahr durchaus viele weibliche Heldinnen, die sehr mutig, tapfer und schlau sind.

In Ninjababy geht es um eine junge norwegische Frau, die herausfindet, dass sie schwanger ist. Sie möchte kein Kind bekommen oder Mutter werden, und das ist auch die Perspektive der Regisseurin Yngvild Sve Flikke, die sehr für das Recht von Frauen eintritt, sich das aussuchen zu können. Es ist ein mutiger Film, und für manche Menschen mag die Aussage ziemlich schockierend sein, nicht Mutter werden bzw. keine Kinder haben zu wollen. Der Film ist aber extrem unbeschwert und humorvoll in der Art, wie er uns am Leben und der Entwicklung dieser jungen Frau teilhaben lässt. Meiner Meinung nach ist das ein sehr weiblicher Film, in dem es um die Gefühle rund um die Schwangerschaft geht, aber die Entwicklung der männlichen Figuren ist dabei fast genauso interessant.

Auch Mission Ulja Funk ist von einer weiblichen Regisseurin, Barbara Kronenberg, und zeigt eine weibliche Hauptfigur, die im besten Sinne eine Heldin ist. Ulja ist ein Mädchen aus einer russisch-deutschen Gemeinde, die von der Wissenschaft fasziniert ist und die Religion hinter sich lassen möchte. Ulja ist sehr unbeirrbar, hat keine Angst vor Widerspruch und führt uns beherzt durch ein sehr unterhaltsames Roadmovie.

Matilda Gross in Nelly Rapp – Monster Agent (Nelly Rapp – Monsteragentin) von Amanda Adolfsson

In Nelly Rapp – Monster Agent (Nelly Rapp – Monsteragentin) der schwedischen Regisseurin Amanda Adolfsson will die junge Nelly genau wie ihre Mutter eine Monsteragentin werden. Nelly entdeckt eine Parallelwelt voller Monster, Vampire und Geister, und lässt sich auf ein Abenteuer ein, bei dem sie sich als absolut furchtlose Heldin beweist. Der Film ist übrigens wirklich gruselig. Ich habe die junge Schauspielerin Matilda Gross, die Nelly Rapp spielt, gefragt, ob sie sich während der Dreharbeiten gefürchtet hat, und sie hat gesagt, ja, wenn ein Werwolf versucht dich anzugreifen, wer hätte da keine Angst!

Han Nan Xia Ri ist ein weiterer Film mit einer ausgeprägt weiblichen Sensibilität. Ich habe den Eindruck, dass nur eine Frau diesen Film drehen konnte angesichts des Feingefühls für die junge Protagonistin. Während der Sichtung des Films habe ich mich öfters gefragt, warum die Hauptfigur eigentlich immer so schlecht gelaunt ist. Gegen Ende des Films erlebt sie ihre erste Periode und das ist ein riesiges Drama für sie, weil sie keine Ahnung hat, was jetzt mit ihrem Körper geschieht und ihre Mutter nicht da ist, um sich um sie zu kümmern. Die erste Menstruation spielt immer wieder eine Rolle in den Filmen, die wir über die Jahre gezeigt haben. Ich habe darüber nachgedacht und die erste Periode ist, wie alle Frauen wissen, wirklich eine große Sache.

Auch in Una escuela in Cerro Hueso scheint mir die Einfühlsamkeit der Bildsprache ebenso wie die Art und Weise, wie der Film komponiert wurde, sehr weiblich. Ich glaube wirklich, dass es so etwas wie einen weiblichen Blick gibt, aber ich denke auch, dass sich dieser aus vielen unterschiedlichen Aspekten zusammensetzt. Alle Regisseurinnen im diesjährigen Programm haben völlig einzigartige Filme geschaffen, in denen man die weibliche Perspektive erkunden, erfahren und genießen kann. Ich würde nicht sagen, dass männliche Regisseure von dieser Art der Betrachtung ausgenommen sind, ich stelle nur fest, dass Frauen es offenkundiger tun.

Melody Despont Marin und Kassia Da Costa in La Mif (The Fam) von Fred Baillif

Die meisten Regisseur*innen der diesjährigen Auswahl sind unter 40. Ist es typisch für junge Regisseur*innen, dass sie Geschichten über das Erwachsenwerden erzählen? Und können wir uns mit zunehmendem Alter immer weniger zu Kindheit in Beziehung setzen?

Erwachsenwerden ist etwas, das fortlaufend, in jedem Alter stattfindet. Es kann im Alter von 80 oder 45 passieren, von zwölf oder vier, und insofern haben junge Regisseur*innen kein alleiniges Anrecht darauf, dieses Thema zu erzählen. Natürlich können sich junge Regisseur*innen möglicherweise besser an ihre Kindheit oder Jugend erinnern. Ich habe den Eindruck, dass der erste oder zweite Langfilm einer Regisseurin oder eines Regisseurs oft in irgendeiner Form auf den eigenen frühen Erinnerungen basiert.

Am wichtigsten jedoch ist die Einstellung und Offenheit der Filmemacher*in gegenüber jungen Menschen. Das ist genauso wichtig beim Kuratieren der Filme für Generation; man muss mit Respekt und ohne moralisches Urteil für die jungen Menschen an die Sache herangehen. Bei einem Film wie La Mif zum Beispiel ist es wichtig zu erkennen, dass der Regisseur seine jugendlichen Protagonist*innen niemals verurteilt. Er verurteilt sie nicht, wenn sie sich schlecht benehmen, schwierig oder aufsässig sind, ihre Eltern oder einander beschimpfen, gewalttätig sind oder sich oft beschweren. In diesen Filmen gibt es so gut wie keinen moralisierenden Unterton. Und wenn doch, dann wird er so dargestellt, dass das Publikum das moralische Urteil erkennen und kritischer sehen kann, als die im Film davon betroffene junge Person.

Fighter von Jéro Yun

Für die Filmindustrie stellte das letzte Jahr eine große Herausforderung dar. Welche Auswirkungen hatte die Pandemie auf die 15 Produktionen, die für Generation ausgewählt wurden?

Die Filmemacher*innen haben sehr unterschiedliche reagiert. Alle leiden unter den Ungewissheiten der Filmbranche, die Kinos sind ja in vielen Ländern geschlossen. Alle freuen sich aber, ihre Filme auf der Berlinale präsentieren und beim Summer Special im Juni unserem Publikum zeigen zu können. Hoffen wir, dass es klappt!

Ich habe mich mit Dash Shaw unterhalten, dem Regisseur von Cryptozoo, der Cartoonist und Animator ist und aus der Welt der Comics kommt, und er sagte: „Wenn man ein Comic liest, ist das eine Eins-zu-eins-Beziehung zwischen dir als Einzelperson und dem Raum, in den dich das Buch einlädt.“ Interessanterweise kann er auch der Situation etwas abgewinnen, einen Film alleine zu sehen. Sein Film ist allerdings optisch und akustisch so beeindruckend, dass ich sagen würde, man muss ihn auf der großen Leinwand sehen, zusammen mit vielen anderen Menschen, und sich hinterher darüber unterhalten.

Fred Baillif, der Regisseur von La Mif , sagte, er hatte Glück, dass sie die Dreharbeiten beendet hatten, bevor die erste große Welle der Pandemie die Schweiz traf. Die gewonnene Zeit haben sie genutzt, um den Film drei- oder viermal umschneiden zu können. Er hat den Film dabei vollständig umstrukturiert und hätte dazu normalerweise gar nicht die Gelegenheit gehabt.

Und zum Abschluss: Was war der erste Film, bei dem du dich erinnern kannst, ihn im Kino gesehen zu haben?

Mein erster Film war Mary Poppins – der hat bei mir persönlich den größten Eindruck hinterlassen. Ich war wirklich begeistert von der Musik und den Tänzen, dem „Löffelchen voll Zucker“ und der Magie. Wenn ich auf meine Kindheit zurückblicke, war dies das erste Mal, dass ich mich erinnere, den Zauber des Kinos wirklich bewusst wahrgenommen zu haben. Der Film ist mir lange in Erinnerung geblieben. Es gibt in dem Film vermutlich Dinge, die ich heutzutage etwas peinlich finden würde, aber als ich jung war, liebte ich alles daran. Meine Großmutter brachte mir die ganzen Lieder bei, und das hat wirklich Spaß gemacht.