2012 | Forum

Blinde Flecken der Sichtbarkeit

Das Forum 2012 startet gewohnt vielfältig ins Festival. Im Interview spricht Sektionsleiter Christoph Terhechte über neue Generationenkonflikte, die Sucht des Zuschauers nach Bildern und eine fast verlorene Kinematographie.

Filmbilder aus dem Forum-Programme 2012

‚Um die Welt in 38 Filmen’ – Könnte so das Motto des diesjährigen Forums lauten?

Die Intention ist nicht, das globale Filmschaffen umfassend abzubilden. Ich habe mir neulich eine Weltkarte mit Ländergrenzen ausgedruckt und alle Staaten eingefärbt, aus denen wir Filme haben – da bleiben natürlich große weiße Flecken. Wir haben nichts aus Indien, nichts aus China, Australien, Neuseeland. Auch in Mittel- und Lateinamerika gibt es große weiße Flecken und aus Afrika haben wir auch nur zwei Länder. Es geht aber nicht darum, proportional eine Verteilung von Ländern nach Quoten anzustreben. Wir versuchen Jahr für Jahr unsere Schwerpunkte an anderen Stellen zu setzen, je nachdem, wo etwas Interessantes passiert. Geografische Überlegungen spielen eine gewisse Rolle, aber wir haben auf keinen Fall den Anspruch, eine Reise um die Welt anzuleiten.

Generationenkonflikte waren letztes Jahr das zentrale Thema der Sektion und bilden auch 2012 einen Schwerpunkt. Hat sich in diesem Zusammenhang Neues aufgetan?

Die Generationenkonflikte, die im diesjährigen Programm zu sehen sind, sind im Wesentlichen solche zwischen Erwachsenen. Mit Ausnahmen: Zum Beispiel erzählt der tschechische Beitrag Prílis mladá noc (A Night Too Young) von Olmo Omerzu von zwei Jungen, die plötzlich in die Erwachsenwelt geworfen werden. Sie verbringen eine Nacht mit Menschen Ende 20, Anfang 30 und sehen mit großen Augen, was ihnen selbst noch bevorsteht.

Hingegen wählten Stefan Butzmühlen und Cristina Diz in Sleepless Knights einen Endzwanziger als Protagonisten. Er kehrt aus Madrid in sein Heimatdorf zurück und überlegt, ob er bleiben soll, weil die Aussichten auf Arbeit in der Hauptstadt alles andere als rosig sind. Er stößt auf eine sehr konservative Bevölkerung, die Generation seiner Eltern. Das erfordert eine Art von Zusammenleben der Generationen, das er aus der Großstadt nicht kennt.

Besuch bei der alten Dame: Formentera von Ann-Kristin Reyels

Im zweiten deutschen Film Formentera von Ann-Kristin Reyels, der wie Sleepless Knights in Spanien gedreht ist, geht es um ein Paar aus Berlin, das auf die Insel kommt, um die Mutter des jungen Mannes zu besuchen. Sie lebt mit einer Gruppe von 68ern in einer Art Wohngemeinschaft. Diese Gruppe hat ihre eigenen Vorstellungen vom Leben, ist geprägt von den 1960er und 70er Jahren. Als die jungen Leute ankommen, entstehen Konflikte zwischen den verschiedenen Lebensauffassungen. Das Interessante ist, dass diese Auseinandersetzungen dazu führen, dass dieses Paar selbst überprüft, ob die eigenen Lebensvorstellungen zueinander passen.

Der Schweizer Film Hiver nomade (Winter Nomads) von Manuel von Stürler zeigt eine junge Frau, die mit einem älteren Schäfer über den Winter eine Schafherde durch die französische Schweiz treibt. Diese Existenz ist ein großer Anachronismus, eigentlich das Leben einer früheren Generation, aber sie entscheidet sich bewusst dafür.

Der Pole Przemysław Wojcieszek beschäftigt sich in Sekret (Secret) ebenfalls mit der Generationenfrage. Ein junger Mann besucht seinen Großvater auf dem Land und konfrontiert ihn mit einer Geschichte, die er erfahren hat - dass der Großvater möglicherweise in der Nazizeit einen versteckten Juden verraten hat. Sekret thematisiert das Schwulsein, das Judentum und die Identitätsproblematik innerhalb der rigiden katholischen, polnischen Gesellschaft.

Das sind alles Geschichten, die sich mit der Verantwortung für andere Generationen beschäftigen. Und mit der Art und Weise, wie sich Muster wiederholen. Escuela normal (Normal School) von Celina Murga zeigt Schüler, die an einem argentinischen Gymnasium Politik proben. Dabei repetieren sie Muster und Modelle, die sie aus dem Fernsehen kennen und die man von ihnen erwarten wird, wenn sie die Schule absolviert haben und selbst ins öffentliche Leben treten. Dieser Wahlkampf ist erschreckend wenig eigenständig und stark kopiert.

Solche Themen ziehen sich durchs Programm, auch weil wir bei der Auswahl immer darauf achten, welche Filme zueinander passen, wo Korrespondenzen entstehen. Ein Filmprogramm besteht ja nicht einfach aus den besten eingereichten Filmen, sondern gewinnt seine Qualität über die Querverbindungen zwischen den einzelnen Arbeiten. Das Angebot an Filmen, die die Frage nach der Wahl des richtigen Lebensmodells stellen, ist im Moment wirklich vielfältig. Gerade weil familiäre Strukturen heute in vielen Ländern der Welt stark gefährdet sind, beschäftigen sich die Filmemacher, die Künstler damit. Also: Die Auseinandersetzung zwischen den Generationen ist ein roter Faden im Programm, wir haben versucht, in diesem Bereich Akzente zu setzen

Die sichtbare und die unsichtbare Katastrophe: Nuclear Nation von Funahashi Atsushi

Blinde Flecken der globalen Sichtbarkeit

Mit drei Filmen, die sich mit dem Tsunami und Fukushima beschäftigen, setzt ihr einen weiteren Schwerpunkt. Wie nähern sich die Regisseure dem havarierten Reaktor, aus dessen Inneren es keine Bilder gibt?

Die Filme sind sehr unterschiedlich, folgen alle einem eigenen Ansatz. Mit Mujin chitai (No Man’s Zone) dringt Fujiwara Toshi unmittelbar in die verbotene Zone um Fukushima ein – wie ein Stalker im Sinne Tarkowkijs. Er erbeutet Bilder der Menschen, die dort verblieben sind, obwohl sie längt hätten evakuiert sein sollen. Fujiwara reflektiert diese unsichtbare Verseuchung und wie wir mit Bildern von Katastrophen umgehen, wonach wir suchen, was eigentlich ein Bild der Zerstörung ist. Der Tsunami ist ja dermaßen gründlich über Städte hinweggefegt, dass da jetzt einfach gar nichts mehr ist. Da fehlt das Bild für die Dimension der Katastrophe. No Man’s Zone ist ein essayistischer Film über unsere Sucht nach Bildern der Katastrophe und über das Fehlen dieser Bilder. Denn in der Zone findet er vor allem eine sehr schöne Natur, blühende Kirschbäume - nichts weist auf die radioaktive Verseuchung hin.

Im zweiten Film diskutiert Iwai Shunji den Umstand, dass man nach besonders tragischen Situationen auch neue Freunde findet, dass man sich plötzlich die Argumente von Leuten anhört, die einen vorher nicht interessiert haben. Deshalb heißt Shunjis Film friends after 3.11. Am 11. März ist der Tsunami über das Land hereingebrochen. Er spricht mit diesen neuen Freunden über Japan, die Zukunft, die Wissenschaft, die Nutzung von Atomkraft – in Sachen Klimaveränderung gibt es einige sehr unorthodoxe Stellungnahmen.

Den dritten Film finde ich beeindruckend, weil er fast komplett ohne Bilder der Tragödie auskommt. Funahashi Atsushi porträtiert in Nuclear Nation die Bewohner einer Kleinstadt, die sich direkt neben dem Atomreaktor befunden hat und jetzt nicht mehr existiert, weil sie zu 90 Prozent durch den Tsunami zerstört worden ist. Den Rest hat der nukleare Fallout besorgt. Von den ursprünglich 9000 Einwohnern dieses Ortes sind 1400 in einem alten Schulgebäude in einem Vorort von Tokio untergebracht. Der Bürgermeister, eine ganz tragische Figur, wie ein shakespearscher König ohne Reich, versucht seine Gemeinde zusammenzuhalten. Was auf lange Sicht natürlich aussichtslos ist, weil die ehemaligen Einwohner nie wieder in einer Gemeinde zusammenleben werden. Sie können nicht zurück in ihre Stadt, sie werden aber auch nicht für ewig zusammen in einer Turnhalle quartieren. Funahashi nähert sich der Katastrophe über die sozialen Strukturen, ohne ständig die Bilder der Flutwelle oder des geborstenen Atomreaktors zu evozieren.

Puos Keng Kang (The Snake Man) von Tea Lim Koun

Ein anderer blinder Fleck, den ihr beleuchtet, ist das kambodschanische Kino…

Das ist eine wirklich spannende Angelegenheit, auch wenn wir nur drei einzelne Vorführungen im Arsenal machen können – ein erster, notwendiger Schritt, um überhaupt an die Bewahrung dieser Filme denken zu können. Kambodscha war das einzige Land in Südostasien, das nach der Entkolonialisierung eine Demokratie hervorgebracht hat. Sihanouk wurde Präsident des Landes, ein Mann mit sozialdemokratischen Vorstellungen. Er hat das Land modernisiert und war gleichzeitig ein Filmfan, der selbst ganz viele Filme inszeniert hat. Während seiner Präsidentschaft in den 60ern und danach in den frühen 70ern sind 300-400 Spielfilme entstanden. Als 1975 die Roten Khmer die Macht übernahmen, haben sie die meisten der Regisseure, Filmtechniker und Schauspieler ermordet. Nur wenige konnten ihr Leben retten, geschweige denn ihre Filme. Deswegen existieren nur die wenigsten dieser Werke noch. Und natürlich wurde das Material nicht unter den besten Konditionen gelagert. Das heißt, wir hatten für diese kleine Reihe sehr hart zu kämpfen. Zum einen mussten wir die Regisseure überzeugen, die Filme überhaupt zu zeigen. Das gelang uns nicht zuletzt mithilfe des Regisseurs Davy Chou, der in Frankreich geboren ist und kambodschanische Wurzeln hat. Von ihm stammt der Dokumentarfilm Le sommeil d'or (Golden Slumbers) über das Goldene Zeitalter des kambodschanischen Kinos, der auch im Forum 2012 zu sehen sein wird. Und wir haben es letztlich tatsächlich geschafft, drei der alten Filme in vorführbaren, wenn auch prekären Kopien nach Deutschland zu bringen – eine abenteuerliche Reise.

Gab es in Kambodscha eine richtige Infrastruktur im Sinne eines Studiosystems?

Kein Studiosystem, die Werke entstanden unter extremen Low-Budget-Bedingungen. Die Regisseure waren gezwungen, ihre eigenen Filmtricks, ihren eigenen Stil zu entwickeln. Das ist auch in den Arbeiten zu sehen, die sehr naiv mit äußerst simplen Mitteln Filmzauber herstellen. Puthisen Neang Kongrey (12 Sisters) von Ly Bun Yim erinnert an Ray Harryhausens frühe Special-Effects, die in diesem Film quasi noch einmal erfunden werden in Unkenntnis dessen, was andere schon gemacht haben. Daraus entsteht jedoch der große Charme dieser Filme. Der bekannteste ist wohl Puos Keng Kang (The Snake Man) von Tea Lim Koun, der in einer 90-minütigen, technisch völlig inakzeptablen Kopie in Kambodscha auf dem Schwarzmarkt noch zirkuliert. Wir zeigen ihn in einer guten DVD-Fassung. Das ist mit Sicherheit nicht die beste Lösung, aber trotzdem eine Offenbarung, weil der Film in Wirklichkeit nicht 90, sondern 164 Minuten lang ist. Das Forum präsentiert diese Fassung zum ersten Mal seit jener Zeit und sie weist Tea Lim Koun als großes erzählerisches Talent aus. Die jungen Kambodschaner kennen diese Filme entweder nur von miserablen Video-CDs oder gar nicht. Die ältere Generation kann sich erinnern. Wenn man so will, dann geht es auch hier um Generationen, um eine Generation, die die Erinnerung ihrer Eltern verloren hat.

Prekäre Umstände: Suzaki Paradaisu Akashingo (Suzaki Paradise: Red Light)

Ein noch unentdeckter japanischer Regisseur und ein ironischer Leckerbissen

Neben den Kambodschanern zeigt ihr als Special drei Filme von Kawashima Yuzo, der in den Shochiku-Studios unter anderem als Regieassistent von Shibuya Minoru tätig war, dem ihr letztes Jahr eine kleine „Retrospektive“ gewidmet habt.

Das sind Generationen von Filmemachern, die bei uns noch unentdeckt sind. Kawashima ist im Ausland kaum bekannt, obwohl er Bakumatsu taiyoden (The Sun in the Last Days of the Shogunate) realisiert hat, der in Japan immer wieder zu den zehn wichtigsten japanischen Filmen überhaupt gezählt wird. Als Künstler hat er sich dem gesellschaftlichen Wandel verschrieben und greift das Thema immer wieder auf. Bakumatsu taiyoden erzählt von der ausgehende Zeit des Shogunats vor der Meiji-Restauration. Das Setting ist ein Bordell, in dem die verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte wirken. Suzaki Paradaisu Akashingo (Suzaki Paradise: Red Light) und Kino to ashita no aida (Between Yesterday and Tomorrow) spielen in der Nachkriegszeit, zeigen den großen Umbruch, den die japanische Gesellschaft in dieser Zeit erlebt hat. Suzaki Paradaisu Akashingo zeigt ein Paar, das Arbeit direkt an der Brücke findet, die zum Rotlichtviertel führt. Ständig stehen sie in der Versuchung, diese Schwelle zu übertreten, ins Rotlichtviertel zurückzukehren, wo sie schon einmal gestrandet waren. Gleichzeitig wollen sie aber ein ‚anständiges’ Leben führen. Der Film hat ganz wunderbare Darsteller und großartige Schwarzweißbilder.

Shiny happy people in Ang Babae sa Septic Tank

Noch eine letzte Frage: Der philippinische Beitrag Ang Babae sa Septic Tank (The Woman in the Septic Tank) von Marlon N. Rivera klingt im Rahmen eines europäischen Festivals reichlich selbstironisch…

Ang Babae sa Septic Tank nimmt Wahrheit und Authentizität im Film verschiedener Kulturen auf die Schippe, weil er davon ausgeht, dass die meisten philippinischen Filme sowieso nur für die Festivals gemacht werden. Er erzählt von einer Gruppe junger Leute, die einen richtig erfolgreichen Film machen wollen, der in Cannes oder Berlin gezeigt wird. Frage: Was brauchen sie dafür? Kurze Antwort: Ein philippinischer Film braucht eine Müllkippe, arme Kinder auf dieser Müllkippe, eine zerrüttete, hungrige, hundsarme Familie, und er braucht sexuellen Missbrauch. Sie schreiben eine Szene, in der all diese Elemente vorkommen, drehen sie und stellen fest, dass sie das dann doch noch mal anders machen müssen. „Vielleicht machen wir ein Musical draus!“ Im Anschluss sieht man das Ganze dann halt noch mal in Musical-Form. Die Hauptdarstellerin, eine große Diva, ruft irgendwann aus: „I want to go to Berlin.“ Was sie jetzt natürlich auch tun wird. Das finde ich eine schöne Ironie. Die Filme, die da karikiert werden, die gibt es ja wirklich. Ich für meinen Teil bin nach Ang Babae sa Septic Tank wirklich gründlich kuriert, was eine gewisse Art von philippinischem Kino betrifft!