Berlinale Notes
Versammelt persönlich, skizzenhaft und in aller Kürze Beobachtungen und Reflexionen.
Note #5: Statement zur Eröffnung der 75. Berlinale und was uns wichtig ist
notiert von Tricia Tuttle
Zu Beginn der Eröffnung habe ich einen Wunsch für die 75. Berlinale geäußert, als ich sagte: „Ich hoffe, wir können zuhören“. Zuhören den Filmschaffenden und Künstler*innen, die viel über die Welt zu sagen haben, das hörenswert ist. Ihre Gabe ist es, in die Tiefe zu denken, manchmal Dinge zu sehen, die wir nicht sehen, und sie zu uns zurückzuspiegeln, oft auf sehr magische Art und Weise. Wir haben die Dankesrede von Tilda Swinton gehört, die in diesem Jahr den Goldenen Ehrenbären erhalten hat, und ich dankte ihr für ihre eloquenten, nachdenklichen und zu Herzen gehenden Worte.
Dieses Festival wurde 1951 gegründet, um durch Film zu kommunizieren und zu verbinden, und das ist auch 75 Jahre später noch relevant und notwendig. Wir sind ein offenes Publikumsfestival, und sowohl im Filmprogramm der Berlinale als auch in vielen Teilen unseres Branchenprogramms stehen das Publikum und die Filmschaffenden gemeinsam im Mittelpunkt. Das macht uns einzigartig. Wir sind eines der größten Publikumsfilmfestivals der Welt, mit über 324.000 Besucher*innen im letzten Jahr. Wir sind aber auch ein bedeutender internationaler Filmmarkt, mit einem Branchenprogramm für Fachleute aus aller Welt und sehen Verleiher*innen auf Entdeckungstour, die zur Berlinale kommen, um ein mutiges neues Kino zu finden und ihrem Publikum vorzustellen.
Bevor wir zu den kommenden Festivaltagen aufbrechen, möchte ich mir einen Moment der Besinnung nehmen. Wir alle kommen von vielen verschiedenen Orten und sprechen mit vielen unterschiedlichen Stimmen. Aber ich bin mir sicher, dass viele von Ihnen Menschen im Herzen tragen - liebe Freund*innen, Kolleg*innen, die Mitglieder unserer erweiterten Filmfamilie, die nicht hier sind, aber die im vergangenen Jahr so tief gelitten haben. Kolleg*innen in Los Angeles, in der Ukraine, im Sudan, in Gaza und im Westjordanland, im Iran, in Israel, in Georgien, im Libanon. Und jene, die an ungenannten Orten leiden. Das Kino wird die unzähligen Probleme, mit denen wir alle konfrontiert sind, nicht lösen, aber es kann uns Momente der Gnade schenken und uns helfen, uns etwas Besseres vorzustellen.
Zum Abschluss des heutigen Abends und um Tildas wundervolle Formulierung aufzugreifen: In diesem grenzenlosen „State of Cinema“, den wir in den nächsten zehn Tagen gemeinsam erschaffen werden, tragen wir diejenigen mit uns, die nicht hier sein können.
13. Februar 2025
Note #4: Anmerkungen zu Meinungsfreiheit, Brave Spaces und Film
notiert von Tricia Tuttle
Wir sind ein Filmfestival. Aber die Berlinale ist auch eine Gemeinschaft von Menschen, die sich in ihrem Bestreben treffen, ein integratives, offenes Umfeld für das Kino zu schaffen.
Auch wenn wir es nicht als selbstverständlich ansehen können - weder eine gesunde Zukunft für das unabhängige Kino noch die Art von kulturellem Umfeld, das wir erhalten wollen - gibt es für beides Grund zur Hoffnung. Wir schätzen und schützen das Recht auf freie Meinungsäußerung. Aber wie wir in Online-Räumen auf der ganzen Welt sehen, reicht es nicht aus sich für die Meinungsfreiheit einzusetzen. Wir müssen Wohlwollen zeigen, uns um die Fakten kümmern und den Wunsch äußern, nicht nur zu sprechen, sondern auch zu hoffen, dass uns auch zugehört wird.
Vielleicht müssen wir zuerst nach gegenseitigem Verständnis streben. Das Kino selbst verlangt danach, und besonders die Art des Kinos, das die Berlinale liebt und fördert. Wir wissen, dass wir angesichts der zunehmend fragmentierten Debatten hinter den Erwartungen mancher Menschen zurückbleiben werden. Eine Woche vor der 75. Berlinale wollen wir unsere Entschlossenheit bekräftigen, diesen Ort als das integrative Umfeld zu sehen, das Filmemacher*innen, die Filmindustrie und das Publikum verdienen.
Vieles wurde der Berlinale letztes Jahr vorgeworfen, auch Widersprüchliches, das nicht alles gleichzeitig stimmen kann. An meinem zehnten Tag im Amt, im April letzten Jahres, wurde ich vor den parteiübergreifenden Kultur- und Medienausschuss des Deutschen Bundestages geladen, um Fragen zu Antisemitismusvorwürfen während der letzten Berlinale zu beantworten. Ein schwieriges Erbe, bei dem ich viel Zeit damit verbrachte, die Dynamiken zu verstehen und sowohl der eigenen Versuchung als auch dem Druck von außen zu widerstehen, die Dinge zu vereinfachen.
Kürzlich habe ich meine damaligen Ausführungen vor dem Bundestagsausschuss nachgelesen: „Als internationales Festival ist es wirklich wichtig, dass wir weiterhin offen und einladend gegenüber allen Menschen auf der Welt sind ... wir versuchen Räume zu bewahren, wo israelische und palästinensische Filmschaffende sich so ausdrücken können, dass sie sich sicher fühlen. Wenn der Dialog eskaliert oder es zu böswilligen Falschdarstellungen kommt, ist das nie hilfreich. Ich glaube wirklich, dass wir hier eine Gefahr für die Filmemacher*innen schaffen, und deshalb ist es für mich besonders wichtig, dass wir als Verantwortliche deeskalieren, das Bewusstsein weiter schärfen und aus dem Dialog lernen."
Ein sorgsamer Umgang mit der Sprache schützt unsere Filmemacher*innen und stärkt die Fähigkeit, miteinander ins Gespräch zu kommen und einander zuzuhören. Auch wenn im Kontext des letzten Jahres über Israel und Palästina gesprochen habe, gelten diese Gedanken für alle unsere Filmemacher*innen und Gäste aus der ganzen Welt. Sie schaffen Filme oftmals auch entgegen der Schwierigkeiten - und manchmal auch gegen Widerstände und Gefahren. Filme, die den Kampf von Vielen dokumentieren und reflektieren: mit prekären Wirtschaftsverhältnissen, Krieg, wachsendem Nationalismus und Autoritarismus, zunehmender Bigotterie und Frauenfeindlichkeit, Gesundheitskrisen und Mangel an Wohnraum, den Auswirkungen des Klimawandels sowie politischer und rechtlicher Entmündigung. Dass unsere Filmemacher*innen die Themen mit so viel Schärfe, Menschlichkeit und außerordentlichem kreativem und erzählerischem Geschick angehen, macht uns immer wieder demütig.
Über das Sprechen
Wenn die Berlinale zur Story gemacht wird, nehmen wir den Filmen und Filmschaffenden ihre Aufmerksamkeit. Oftmals ist es in einer konflikthungrigen Welt schwer genug, den nötigen Raum für Diskussionen über das Kino zu öffnen. Aber manchmal müssen wir reden. Und genau das tue ich jetzt in der Hoffnung, dass die Filme und Filmemacher*innen der 75. Berlinale vom 13. bis 23. Februar eben diese Aufmerksamkeit bekommen. Eine Aufmerksamkeit, die die vielen wundervollen Filme verdient haben.
Ich bekräftige unser Bekenntnis zur Meinungsfreiheit und dass wir uns weiterhin gegen Hassreden und Diskriminierung einsetzen, wie wir es schon immer getan haben. Wir schützen das Recht der Filmschaffenden, sich mittels ihrer Arbeiten oder der Impulse dahinter selbst zum Ausdruck zu bringen. Wir glauben an das Recht von Filmemacher*innen ihre Plattformen zu nutzen, um über die Themen zu sprechen, die sie bewegen oder beunruhigen. Das ist Meinungsfreiheit. Natürlich ist es möglich, dass Menschen mit dem Gesagten nicht einverstanden sind und ihre Ablehnung zum Ausdruck bringen. Das ist ebenso Meinungsfreiheit.
Im Zusammenhang gab es rundum die Berlinale viele Falschdarstellungen, Missverständnisse oder schlicht Ängste. Es entgeht uns nicht, in welcher Weise Plattformen in Deutschland und in der Welt als feindliche Räume für Menschen empfunden wurden, die ihre Solidarität mit Palästina ausdrücken wollten. Wir sehen auch, dass eine Feindseligkeit gegenüber Israel im kulturellen Umfeld zu einem Verlust von Empathie geführt hat. Wir sind besorgt über die wachsende Islamophobie und den zunehmenden Antisemitismus sowohl in Deutschland als auch in der ganzen Welt. Wir sorgen uns um unsere Filmemacher*innen und Filmgemeinschaften, die durch den Diskurs um das Festival Schaden genommen haben. Wir wissen auch, dass Schweigen und das Gefühl des Unsichtbarmachens Menschen verletzen können.
Wir veröffentlichen heute FAQs, in denen wir einige für uns wichtige Dinge, aber auch Missverständnisse ansprechen. Es stimmt zum Beispiel nicht, dass wir kommuniziert haben, dass Akkreditierte keine Kleidung mit Sympathiebekundungen für Palästina tragen dürfen. Falschinformationen zu korrigieren ist schwierig, insbesondere wenn sie immer und immer wieder neu verbreitet werden.
Ich erlebe mein Team, unsere Mitarbeiter*innen und freien Mitarbeiter*innen seit meinem Amtsantritt im April in einem Strudel konkurrierender Spannungen. Ich bin besorgt, wie dieser immense, manchmal unmöglich auszuhaltende Druck von allen Seiten so viele umsichtige und engagierte Kolleg*innen beeinflusst. Wir sind keine Politiker*innen. Wir sind Menschen, die ein wichtiges, faires und einladendes Filmfestival gestalten wollen. Wir wollen die Menschen, die uns am Herzen liegen, nicht im Stich lassen. Unser Team kann in dieser Situation nicht alleine stehen, und wenn wir es versuchen sollten, werden wir verlieren. Wir brauchen die Gemeinschaft unserer Community. Wir sind allen Filmemacher*innen, unseren Besucher*innen und Gästen sowie der Industrie sehr dankbar für die kommenden Begegnungen und freuen uns auf ein Wiedersehen mit denjenigen, die dieses Jahr nicht dabei sind.
Wir wissen, dass nicht alle mit einer Stimme sprechen werden, genauso wenig wie unsere Mitarbeiter*innen oder Festivalpartner. Aber die meisten kommen in der geteilten Hoffnung zusammen, voneinander zu lernen, und der Überzeugung folgende, dass Filmemacher*innen uns helfen eine bessere Welt zu sehen und uns diese vorzustellen.
Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit mit Ihnen, damit die Berlinale auch weiterhin ein Erfolg für unsere Communities bleibt.
Note #3: Danke, Tilda! Das Team der Berlinale freut sich auf Tilda Swinton
notiert von Florian Weghorn

Tilda Swinton 2014 mit Fans am Roten Teppich zu Wes Andersons The Grand Budapest Hotel
So wie das Programm wächst, steigt auch die Vorfreude auf die vielen Menschen, die mit uns im Februar am 75. Jubiläum teilnehmen werden. Die allererste Berlinale im Jahr 1951 legte den Grundstein für das, was auch heute noch die DNA unseres Publikumsfilmfestivals ausmacht: eine ungebrochene Liebe zum Kino, die wir mit möglichst vielen Menschen hinter der Kamera und vor der Leinwand teilen. Zu unserem 75. Jubiläum machen wir dies wieder in allen unseren Spielstätten (und im neuen Hub75!) erlebbar und freuen uns darauf, so das nächste Kapitel einer Erfolgsgeschichte zu schreiben, die wir mit unseren Gästen und unserem Publikum teilen. Letzte Woche haben wir unsere Preisträgerin des Goldenen Ehrenbären bekannt gegeben. Kaum eine Persönlichkeit ist so eng mit der Berlinale verbunden und wird von den Berliner*innen so bewundert wie Tilda Swinton. Sie selbst hat sich einmal als „Baby der Berlinale“ bezeichnet. Und das stimmt: Ihr erster Film als Schauspielerin lief 1986, ehe sie 1988 als Mitglied der Internationalen Jury zurückkehrte und 2009 deren gefeierte Präsidentin wurde. Dazwischen und bis in die jüngste Zeit: wunderbare Filme, Filme, Filme. Fast drei Jahrzehnte voller unvergesslicher Momente, den offiziellen auf den Roten Teppichen von Wes Andersons Festivaleröffnungen, den persönlichen im Gedenken an David Bowie und die vielen kleinen und großen Anlässe geteilter Leidenschaft mit dem Publikum (unvergesslich für mich, Tildas spontaner Besuch bei der Eröffnung von Generation im Jahr 2010). „Ich habe dieses Festival in so ziemlich jeder Funktion erlebt", sagte sie in einem Interview, „ich habe hier noch nicht sauber gemacht, aber das werde ich wahrscheinlich nächstes Jahr tun.“ Nun, dieses Mal werden wir dafür sorgen, dass der Teppich gesaugt ist. Vielen Dank, Tilda, vom ganzen Team!
Note #2: Neue Festivalorte am Potsdamer Platz
notiert von Tricia Tuttle

Der Berlinale Palast
Diese Woche haben wir unsere Pläne für die Neugestaltung unseres Festivalzentrums am Potsdamer Platz für das kommende Jahr vorgestellt. Es wird zwei neue Festivalorte in der Nähe des Berlinale Palastes geben. Der erste ist eine neue Spielstätte im Stage Bluemax Theater am Marlene-Dietrich-Platz. Nachdem unser (exzellentes) technisches Team es in einen Vorführsaal umgebaut hat, wird es 500 Personen Platz bieten und schafft für die First Feature Competition, Perspectives, sowie weitere Premieren der Sektionen einen neuen zentralen Ort. Der Berlinale HUB75 wird zu unserem Pop-up-Publikums- und Branchentreffpunkt am Marlene-Dietrich-Platz. Ein Ort, an dem wir die 75. Ausgabe der Berlinale mit unserem Publikum und Gästen feiern wollen. Vormittags werden kostenlose Talks für die Öffentlichkeit zu Themen des Programms stattfinden, nachmittags und abends wird es ein Treffpunkt für Gäste aus der Branche und Filmemacher*innen sein. Das HUB 75 ist ein dringend benötigter Raum für Begegnungen im Herzen des Festivals.
Mit den neuen Plänen reagieren wir auf den dramatischen Rückgang der Kinoflächen am Potsdamer Platz der letzten Jahre. Sie bilden ein zentrales Element unserer zukünftigen Entwicklung. Die Pläne kommen aber auch in Zeiten, in denen viele unserer Kolleg*innen aus Kunst und Kultur in der ganzen Stadt von einer einschneidenden Krise tief betroffen sind. Bildende Kunst, Film, Musik, Theater, Performance und andere kulturelle Angebote machen Berlin zu einer Destination für Reisende und Tourist*innen aus der ganzen Welt und die Stadt zu einer der lebenswertesten Städte. Die Kultur schafft viele tausend Arbeitsplätze und bereichert Leben – auch für viele unserer Mitarbeiter*innen, die nicht nur für die Berlinale, sondern während des Jahres oftmals bei anderen kulturellen Einrichtungen und Organisationen tätig sind.
Als Berlinale haben wir langjährige Verbindungen und sind tief verwurzelt in dieser vielfältigen und vibrierenden Berliner Stadtkultur. Wir veranstalten unser Festival gemeinsam mit Partnern wie dem HAU Hebbel am Ufer, dem SINEMA TRANSTOPIA und vielen anderen Kulturräumen und Kinos, die von den Haushaltskürzungen existentiell betroffen sind. Wir hoffen sehr, dass Lösungen gefunden werden können, um diese ganz besonderen Orte zu erhalten und ihnen auch weiterhin Entwicklungsmöglichkeiten offen zu halten. Unsere Solidarität gilt allen Künstler*innen und Kreativen, die diese Stadt so lebendig machen.
29. November 2024
Note #1: Ein magisches Ankommen
notiert von Tricia Tuttle

Am 1. April wurde ich als Intendantin Teil der Berlinale und bin damit mittlerweile bereits den größten Teil des Jahres im Amt. Das Versprechen auf ein freundliches Willkommen in einer Stadt und ihrer Menschen hat sich erfüllt – Menschen aus der Filmindustrie, aus Museen und Galerien, Schriftsteller*innen, Kritiker*innen, Opernsänger*innen, Kurator*innen, Musiker*innen. Ich bin an einem magischen Ort angekommen. Dass bereits acht Monate seit meinem Umzug nach Berlin vergangen sind, bedeutet auch, dass das Festival mit Riesenschritten auf uns zukommt. In den nächsten acht Wochen werden wir viele Neuigkeiten zum Programm bekanntgeben.
Die erste große Meldung kam vor Kurzem: Todd Haynes wird Präsident der Internationalen Jury, die den nächsten Gewinner des Goldenen Bären küren wird. Nur wenige Regisseur*innen haben ein so beeindruckendes Werk geschaffen. Die Reaktionen auf unsere Ankündigung haben gezeigt, wie sehr er bewundert wird. Für mich ist diese Ernennung auch persönlich von besonderer Bedeutung, denn ich habe vor vielen Jahren meine Masterarbeit über seinen Debütfilm Poison geschrieben und bewundere seitdem seine filmischen Erkundungen von Gender, Performance und Identität.
28. November 2024