2020 | Berlinale Series

Der wilde Puls des Seriellen

Die Programmreihe Berlinale Series läutet das sechste Jahr ihres erfolgreichen Bestehens ein. Zeit, um mit der neuen Sektionsleiterin Julia Fidel über die diesjährige Serienauswahl zu sprechen. Im Interview erzählt sie von der besonderen Kraft des Seriellen, der sektionsübergreifenden Serie und einem neuen Mainstream jenseits des Konsenses.

Cate Blanchett in Stateless

Deine erste Berlinale ist es bei weitem nicht, allerdings bist du erstmalig in der Position, eine eigenständige Programmreihe zu leiten. Kannst du etwas zu deinem ersten Jahr bei Berlinale Series erzählen?

Julia Fidel: Ich war immer schon absolute Serienguckerin. Berlinale Series verfolge ich, seit die bisherige Leiterin Solmaz Azizi das Programm ins Leben gerufen hat, mit großem Interesse und viel Begeisterung. Das von ihr übernehmen zu können, ist natürlich großartig und ich freue mich, hier nun eigene Akzente zu setzen. Bei der Zusammensetzung des Auswahlgremiums war es mir wichtig, einerseits eine gewisse Kontinuität zu wahren und Sichter*innen aus den letzten Jahren einzubeziehen, andererseits war mir auch ein fließender, fruchtbarer Austausch zur „Film-Berlinale“ wichtig, deshalb sind auch zwei Mitglieder des Wettbewerbs-Gremiums dabei. Das war auch im Sinne von Carlo Chatrian, dem Künstlerischen Leiter, der ein wichtiger Ansprechpartner im Auswahlprozess war.

Derzeit ist eine regelrechte Flut an auf den Markt gebrachten neuen Serienformaten und Streaming-Plattformen zu beobachten. Siehst du darin ein Problem, im Sinne einer möglichen Entwicklung hin zu mehr Quantität statt Qualität?

Ich glaube nicht, dass die Qualität leidet. Wir befinden uns aktuell in einer Konsolidierungsphase der Serienproduktion, in der sehr viele Potentiale erschlossen sind. Der Markt sortiert sich und unterschiedliche Möglichkeiten und Bedürfnisse werden eingeordnet.

Heute wird mehr in Serien investiert – in mehr Serien insgesamt, aber auch in die Episodenbudgets. Das mag vielleicht etwas überwältigend wirken, hat aber ebenso viele positive Auswirkungen: Wir erleben gerade, wie ein neuer Mainstream entsteht, der vielseitiger, vielsprachiger und offener gegenüber deutlich größeren Teilen unserer Gesellschaft ist. Dass zum Beispiel der Zugang zu nicht-englischsprachigen Serien viel leichter geworden ist und dass diese auch auf großes Publikumsinteresse stoßen, finde ich sehr begrüßenswert.

Wie äußert sich diese Erschließung von neuen Räumen der Serie?

Die Serieninhalte haben sich stark ausdifferenziert. Dadurch erscheint es vielleicht erstmal unübersichtlich und vielleicht vermissen Einzelne diese linearen Konsens-Serien, über die am Tag nach der Ausstrahlung alle gesprochen haben. Bei so etwas wie der Lindenstraße oder – meine Jugend – Beverly Hills 90210 konnte man davon ausgehen, dass alle Leute in deiner Klasse am Wochenende diese Serie gesehen haben. Das verbindet natürlich. Das Problem bei der Konsensbildung auf Seiten der Produzent*innen und Senderverantwortlichen ist allerdings, dass man dabei sehr viele Menschen ausschließt. Zugunsten eines angenommenen Mainstreams fällt hier viel individuelle Lebenswirklichkeit einfach weg. Wenn man sich entschließt, diese zu zeigen, öffnet das den Blick für ganz neue Weltsichten, Perspektiven und letztendlich auch gesellschaftliche Gruppen oder Identitäten. Es fühlen sich heute viel mehr Menschen in TV-Erzählungen repräsentiert. Vielleicht entdeckt hier plötzlich jemand zum ersten Mal seine Lebenswelt in einer fiktionalen Geschichte und fühlt sich ein bisschen mehr verstanden und ernstgenommen. Wenn man sich das überlegt, finde ich es verschmerzbar, dass wir jetzt vielleicht nicht mehr alle über die eine Serie reden können.

Asta Kamma August in Sex

Die Berlinale war eines der ersten Filmfestivals, das eine eigene Reihe für serielle Formate geschaffen hat, inzwischen sind andere gefolgt – wird sich diese Tendenz weiter verfestigen?

Ich finde es einen Wahnsinnsverdienst, dass wir die ersten waren, die Serien auf die große Leinwand geholt haben. Inzwischen gibt es viele Beispiele internationaler Festivals, die auch Serienprogramme präsentieren. Wir suchen unabhängig von Form- und Genregrenzen nach Serien, die wie auswählen möchten und sind dabei auch innerhalb des Festivals offen, über Präsentationsformen jenseits der acht Series-Premierenslots zu sprechen. Das Forum hat schon vor zehn Jahren Im Angesicht des Verbrechens programmiert, im Berlinale Special läuft DAU. Degeneratsia. Dieses Jahr wurde bei uns Hillary eingereicht, eine dokumentarische Serie, die wir fantastisch finden, bei der allerdings von Anfang an klar war, dass sie innerhalb des Berlinale Special im Haus der Berliner Festspiele am besten präsentiert werden kann. Im Anschluss an das Screening findet dort ein Gespräch mit Regisseurin Nanette Burstein und Hillary Rodham Clinton statt.

Das Erstarken einer auf Serien basierten Streaming-Kultur wird nicht selten mit einer grassierenden Angst vor dem Kinosterben in Verbindung gebracht. Kannst du das etwas erläutern?

Die großen, vornehmlich US-amerikanischen Streaming-Unternehmen sind natürlich eine willkommene Erklärung für das Ausbleiben von Publikum in den großen Kinos. Ich finde es schade – ohne mich jetzt auf die Seite der Streamer schlagen zu wollen – dass sich so viel über diese Anbieter beschwert wird. Die Energie, mit der hier Schuldige gesucht werden, könnte auch in Ideen investiert werden, wie die unbestreitbaren Vorzüge des Films und die Magie des Kinoerlebnisses wieder besser beim Publikum ankommen können. Wenn man sich anschaut, wie wenig in Independent-Kino, Nachwuchsregisseur*innen und neue Kino-Formate investiert wird, ist es nicht verwunderlich, wenn hochkarätige Independent-Regisseur*innen die Freiheiten dankend annehmen, die ihnen Streaming-Plattformen bieten.

Leila Bekhti und Tahar Rahim in The Eddy

Auch bei Berlinale Series sind dieses Jahr einige Kino-Regisseur*innen mit Serienformaten vertreten...

Ein prägnantes Beispiel dafür ist The Eddy von Damien Chazelle, eine konsequente Weiterentwicklung von dem, was er als Filmregisseur gemacht hat. Das Ganze ist sehr kinematographisch gedacht, mit beeindruckenden Kamerafahrten, unheimlich aufwendig produziert. Zudem inszeniert er Musik auf außergewöhnliche, innovative Weise. Man spürt in The Eddy ganz stark, dass da jemand seine persönliche Begeisterung für etwas verbildlicht und vertont hat. Man darf dabei nicht vergessen, dass so eine Serie ein Mammutprojekt ist, etwas, wo man nicht nur drei Monate, sondern mehr als ein halbes Jahr alleine mit den Dreharbeiten beschäftigt ist. Das muss man schon wollen.

Auf der anderen Seite ist das natürlich eine unvergleichliche Chance, intensiv ein neues Thema zu erschließen, und Regisseur*innen, die so etwas angeboten bekommen, nehmen das an. So etwa auch Warwick Thornton und Wayne Blair, zwei vielfach ausgezeichnete Filmemacher, die mit Mystery Road 2 eine unheimlich coole, stilisierte Noir-Serie kreiert haben. Interessant ist auch Trigonometry von Athina Tsangari, die bereits diverse Inszenierungsformen ausprobiert hat, zum Beispiel auch ein Theaterstück. Sie legt ihre Möglichkeiten der seriellen Erzählung sehr frei aus, wodurch jede der Folgen eine andere Dynamik bekommt. Eine Folge ist beispielsweise komplett in langen Handkamerafahrten gedreht und gewinnt so eine ganz spezielle Form, die dem hektischen, überschäumenden Setting der Folge gerecht wird. Damit wird das Episodische noch weiter unterstrichen.

Bei Stateless, von und mit Cate Blanchett, ist es so, dass der Pilot ein Prélude darstellt, ein Vorspiel zu allem, was danach kommt. Es wird eine ganze Welt aufgebaut und vorgestellt, die sich dann ab Folge zwei weiterbewegt.

Philipp Hochmair, Ella Rumpf und Anja Kling in Freud

Aber nicht nur aus dem Filmbereich kommende Regie-Talente sind dabei, auch Stars der Serienwelt sind in der Auswahl zu finden, richtig?

Ja, Freud ist ein solches Beispiel. Marvin Kren, der ja Produzent und Creator und Regisseur der Serie ist und den man bereits durch 4 Blocks (Berlinale Series 2017) kennt, hat mit Freud ein Wahnsinns-Projekt mit einer unglaublich starken Handschrift geschaffen. Das ist eine wirklich aufwendige Erzählung mit Spannungsbögen, die über mehrere Episoden konzipiert sind – das ließe sich so in einem Film nicht umsetzen. Jason Segel kommt mit Dispatches From Elsewhere zu uns. Diese Serie ist anthologisch strukturiert, jede Episode ist einem der Charaktere gewidmet. Das ist eine interessante künstlerische Entscheidung, die es so nur in dem Format der Serie geben kann.

Patrice Robitaille und François Létourneau in C’est comme ça que je t’aime

Wo du gerade die verschiedenen Formate ansprichst: auch diesbezüglich ist das Programm sehr divers. Auf was können sich die Zuschauer*innen dieses Jahr freuen?

Es war uns wichtig, ein breites Spektrum abzubilden und ich habe mir auch von Anfang an vorgenommen, ein Stück weit mit den Erwartungen, die es an dieses Programm gibt, zu brechen. Ich habe mich immer gefragt: Was erweitert meinen Blick auf die Welt, was meine Vorstellung von einer Serie? Ich finde es wichtig, dass wir zum Beispiel von Trigonometry alle fünf Folgen zeigen, auch wenn das mit dreieinhalb Stunden ein bisschen den Rahmen sprengt.
Eine ganz andere Art, die Dinge zu beschreiben, kann man auch bei Sex, einer dänischen Web-Serie von Amalie Næsby Fick, beobachten. Wir zeigen alle sechs Episoden dieser Kurzformserie, die ein jüngeres Publikum anspricht, das daran gewöhnt ist, kürzere Episoden auf kleinen Bildschirmen anzusehen. Ich fand es reizvoll, das auf einer großen Leinwand zu zeigen und damit die Aufmerksamkeit auf die visuelle Qualität, die einnehmende Musik und das sehr nuancierte Spiel der Hauptfiguren zu lenken.

Die Quebec-kanadische Serie C’est comme ça que je t’aime baut eine ganz eigene Welt auf, mit bösem Humor und 70er-Jahre Interieurs. Ich habe an den Roman „Ehepaare“ von John Updike gedacht, ein Kollege im Auswahlgremium an die Coens und mit dem Autor habe ich mich lange über Parallelen zu Der Eissturm von Ang Lee unterhalten – wir befinden uns in der Serie einem ganz eigenen Mikrokosmos, in einer reinen Erwachsenenwelt, in der aus Langeweile sehr überraschende Wendungen entstehen.

Das Eintauchen in eine Geschichte hat ja auch mit der Zeit zu tun, die darauf verwendet wird, eine Erzählung zu entwickeln sowie mit der sich erst in der Dauer entfaltenden Tiefe...

Dieses stärkere Eintauchen passiert auf zwei Ebenen: nicht nur die Regisseur*innen haben eine engere Beziehung zu ihren Geschichten, sondern auch die Zuschauer*innen. Ich glaube, das ist ein entscheidender Faktor, warum Serien so reizvoll sind. Über serielle Inhalte lässt sich natürlich eine ganz andere Verbindung mit Zuschauer*innen aufbauen, als ein Film es könnte. Einen Film schaust du dir an und fandst das Erlebnis im besten Fall intensiv – und dann gehst du nach Hause. Womöglich beschäftigt der Film dich noch eine Weile und wahrscheinlich willst du auch nochmal darüber sprechen, aber er ist zu Ende. Es ist eine abgeschlossene Geschichte. Eine Serie begleitet dich viel länger, du entwickelst deine eigenen Rituale mit ihr, und über den längeren Zeitraum über eventuell viele Staffeln werden die Figuren und ihre Geschichten zu einem Teil deines Lebens.

Thalissa Teixeira, Ariane Labed und Gary Carr in Trigonometry

Im Programm sind nicht nur große US-Produktionen gelandet, es sind auch europäische und zwei australische dabei. Was macht diese Serien besonders?

Insgesamt hatten wir ein unglaublich starkes Jahr und mussten uns am Ende auch gegen Produktionen entscheiden, die uns berührt haben und die wir gerne weitersehen würden. Ein Thema, das sehr relevant war, ist der Umgang mit weiblicher Sexualität. Bei Trigonometry erleben wir einen völlig stereotypfreien, aufgeklärt-entspannten Umgang mit Intimität, was so selbstverständlich und beiläufig daherkommt, dass man erst nach einer Weile bewusst wahrnimmt, wie außergewöhnlich diese Normalität gezeichnet ist – oder wie normal das Außergewöhnliche dieser Beziehung uns erscheint. Bei Sex geht es um eine junge Frau, die mit sich verhandeln muss, dass ihr Freund ihr sexuelles Interesse nicht teilt. Die Verletzung und Zurückweisung, die sie dadurch erlebt, ist auch darin begründet, dass ein solches Thema nicht öffentlich vorkommt – hier aber endlich schon.

Im Fokus von C’est comme ça que je t’aime stehen auch diese grandiosen Dialoge zwischen Ehepaaren, die auch und gerade durch das Nichtgesagte so pointiert und zutiefst komisch sind - und Spiegel ihrer Zeit.
Freud ist eine Kostümserie, aber statt alle Emotionen, Lüste, Bedürfnisse unter Stofflagen zu begraben, spüren wir die Figuren, um die es hier geht, mit Blut, Schweiß, Tränen und wildem Puls!

Gibt es noch etwas, was du den Zuschauer*innen mitgeben möchtest?

Vorhin ging es um das Vermissen eines Konsenses, um die fehlende Möglichkeit, über gemeinsam gesehene Serien zu sprechen, zu diskutieren – in diesem Sinne ist unser Programm ein Angebot, genau das bei uns zu tun: gemeinsam viele Serien zu schauen, darüber zu reden – direkt miteinander, in sozialen Netzwerken und natürlich bei den sich an die Screenings anschließenden Q&As mit uns im Kino. Wir freuen uns schon sehr darauf.