2010 | Retrospektive

Play It Again …! Filme von einst mit dem Blick von Heute sehen

Zum 60. Jubiläum der Internationalen Filmfestspiele Berlin wirft die Retrospektive einen Blick zurück auf die langjährige Festivalgeschichte, und zwar mit einem Programm, das von David Thomson zusammengestellt wurde. Im Gespräch erläutert der Leiter der Retrospektive, Rainer Rother, warum der renommierte Filmkritiker ein Wunschkandidat war, was ihn an Thomsons Filmauswahl fasziniert und inwiefern das Kino im Laufe der Jahre freier und reicher geworden ist.

DRØMMEN
Regie: Niels Arden Oplev
Dänemark/Großbritannien 2005/06
Janus Dissing Rathke
Quelle: Deutsche Kinemathek - Museum für Film und Fernsehen

Janus Dissing Rathke in Niels Arden Oplevs Drømmen (Der Traum)

Als Leiter der Retrospektive haben Sie in diesem Jahr mit der Übertragung der Programmauswahl an den Filmkritiker David Thomson eine auf den ersten Blick eher ungewöhnliche Entscheidung getroffen. Die Zusammenstellung der Filme aus der Hand zu geben erfordert einen gewissen Mut, vor allem aber ein großes Vertrauen in das Gespür und die kompositorischen Fähigkeiten des Programmgestalters. Könnten Sie noch einmal erläutern, was Ihre Beweggründe waren, den Blick zurück auf die Geschichte der Berlinale auszulagern?

Bei einem Jubiläumsrückblick auf das eigene Festival läuft man selbst immer ein bisschen Gefahr, sich in einem etwas zu offiziellen Rahmen zu bewegen. Es gibt einfach sehr viel zu bedenken, wenn man auf die eigene Geschichte zurückblickt: Die Auswahl muss repräsentativ sein, sie muss die großen Filme und die wichtigen Entdeckungen beinhalten, sämtliche geographische Regionen sollten vertreten sein und schließlich auch alle Jahrzehnte berücksichtigt werden. Den vielfältigen Ansprüchen an eine solche Rückschau kann man eigentlich nur gerecht werden, indem man ein äußerst umfangreiches Programm auf die Beine stellt. Für die Retrospektive 2010 war jedoch von vornherein klar, dass uns eine derart erschöpfende Auswahl nicht möglich sein würde. Insofern lag es aus meiner Sicht nahe, dass wir uns – statt einen offiziellen Festivalrückblick anzustreben – lieber einen subjektiven Blick auf die Festivalgeschichte erlauben. So kamen wir auf die Idee, eine persönliche Auswahl mit einem Blick von außen zu verbinden.

Der subjektive Blick von außen

Und wie sind Sie letztlich auf David Thomson gekommen?

David Thomson ist uns in erster Linie durch seine hervorragende Arbeit als Kritiker und Autor aufgefallen. Er zählt weltweit nicht nur bei der filmbegeisterten Leserschaft, sondern auch unter seinen Kollegen zu den angesehensten Filmkritikern, was ihm unter anderem 2008 in einer Umfrage der Zeitschrift „Sight & Sound“ bestätigt wurde, als er von vielen Befragten als einflussreichster und prägender Vertreter seiner Zunft genannt wurde. Darüber hinaus hatte er zuletzt 2008 mit der Veröffentlichung eines 1000 Filme umfassenden Lexikons seinen dezidiert individuellen Blick eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Daher wussten wir, dass er mit dieser Aufgabenstellung umgehen kann und dabei noch besondere Entscheidungen trifft.

Ist David Thompson Ihrer Meinung nach eine Auswahl gelungen, die das Festival und seine Geschichte angemessen widerspiegelt oder war eine ausgewogene Repräsentation vielleicht gar nicht das Ziel?

David Thomson hat einige wesentliche filmische Wegmarken der Berlinale aufgenommen, und ich finde, dass seine Auswahl das Festival in seinen vielfältigen Facetten durchaus widerspiegelt, auch wenn das kein klar definiertes Ziel für die Zusammenstellung war. Dieter Kosslick, David Thomson und ich waren uns von Anfang an einig, dass es bei der Auswahl gar nicht darum gehen sollte, nur die vermeintlich besten und „repräsentativsten“ Filme aufzunehmen, die jemals bei der Berlinale liefen, oder diejenigen, die gemeinhin im Gedächtnis geblieben sind. David Thomson hat sich vielmehr von einer unbeschwerten Neugier leiten lassen und sich die Frage gestellt: Welche Filme würde ich gerne wieder sehen, aus ganz unterschiedlichen Gründen? Oder welche Filme sollte ein junges Publikum, das nicht den ganzen Zeitraum der Festivalgeschichte miterlebt hat, unbedingt noch zur Kenntnis nehmen? Ich habe bei der von ihm getroffenen Auswahl das gute Gefühl, dass sich die Neugier des Kurators leicht auf das Publikum übertragen kann.

Jeanne Moreau in La Notte (Die Nacht)

Kann man einen zentralen Aspekt finden, der die Filme vereint, etwa in deren Verortung jenseits des zeitgenössischen Mainstream-Kinos als stilistisch eigenständige Werke oder vielleicht sogar im Sinne eines Impulses für neue filmische Wege?

Sicher hat er darauf ein großes Augenmerk gelegt. Jean-Luc Godard ist mit À bout de souffle (Außer Atem) vertreten, Michelangelo Antonioni mit La notte (Die Nacht). Ich glaube, es war für David Thomson aber vor allem wichtig, noch einmal mit dem Blick von heute auf bestimmte Filme zu schauen, um zu sehen, ob ihre Wirkkraft immer noch anhält und trägt. Zu diesen Filmen zählt sicher Michael Ciminos The Deer Hunter (Die durch die Hölle gehen), der ja auch von enormer Bedeutung für die Festivalgeschichte gewesen ist. Le salaire de la peur (Lohn der Angst) von Henri-Georges Clouzot ist ein weiteres gutes Beispiel: ein Film, der aus heutiger Perspektive fast als Unterhaltungskino bezeichnet werden könnte, der aber 1953 eine ganz andere Rolle gespielt hat und ganz und gar nicht als konventionell wahrgenommen wurde, sondern als regelrecht verstörend.

Ich glaube, David Thomson hat auch Filme ausgesucht, bei denen er den Eindruck hatte, dass die Filmgeschichte ein bisschen über sie hinweggegangen ist, Filme, die vielleicht zu Unrecht entwertet wurden und so in einer falschen Schublade gelandet sind. Und diesen Filmen wollte er eine neue Chance einräumen. Das fand ich sehr einleuchtend.

Selbstverständlich hat er auch einige Filmemacher gewählt, die er schlichtweg persönlich schätzt. Von dem indischen Regisseur Satyajit Ray wollte er gerne Ashani Sanket (Ferner Donner) zeigen, der 1973 mit dem Goldenen Bären geehrt wurde. Von diesem Film konnten wir jedoch leider keine spielbare Kopie finden. Darum ist Satyajit Ray jetzt mit Charulata (Die einsame Frau) vertreten. Das ist übrigens in diesem Jahr einer der ganz wenigen Fälle, in denen die Materiallage die Filmauswahl beeinflusst hat.

Satyajit Rays Charulata (Die einsame Frau)

Wird Ihres Erachtens anhand der Filme ein bestimmtes Image der Berlinale entworfen oder gepflegt?

So weit würde ich nicht gehen, dann würde man dem Programm ja auch wieder etwas sehr Repräsentatives unterstellen. Als ich David Thomsons Auswahl sah, dachte ich sofort: Ich freue mich darauf, diese Filme erneut im Kino zu sehen, sie wieder zu entdecken. Und auf diesen Effekt kommt es David Thomson meines Erachtens an. Man soll nicht einfach nach dem Motto „Jetzt hab ich 60 Jahre Filmgeschichte auf der Berlinale gesehen.“ eine Liste abhaken. Das kann man gar nicht leisten in so einer Retrospektive. Aber man kann sich von David Thomson verführen lassen, in einen Film zu gehen und ihn mit wachen Augen zu betrachten, ihn neu zu sehen. Darin steckt für mich eine spezifische Qualität dieses Programms.

Eusebio Poncela und Antonio Banderas kommen sich nahe in La Ley del Deseo

Möglichkeiten für (Wieder-)Entdeckungen schaffen

Drückt sich in der Reihe auch das Potential der Berlinale aus, bestimmten Filmen eine Aufmerksamkeit zu verschaffen, die sie in einer rein kommerziellen Auswertung so nicht bekommen hätten? Oder anders gefragt: Hätten manche Filme es ohne die Berlinale schwer gehabt?

Ja, das glaube ich schon. Filme wie Francesco Rosis Salvatore Giuliano (Wer erschoß Salvatore G.?) oder Jean-Luc Godards À bout de souffle haben durch die Festivalpräsenz im Wettbewerb und die gewonnenen Preise einen enormen Aufmerksamkeits- und Bedeutungsgewinn erfahren. Das trifft auch auf Filme aus anderen Sektionen zu: La ley del deseo (Das Gesetz der Begierde) von Pedro Almodóvar, der 1987 im Panorama lief und den ersten Teddy Award gewann, bildete schließlich den Beginn einer Weltkarriere. Genauso hat die Erfolgsgeschichte von Wong Kar Wai in gewisser Weise im Forum ihren Ursprung genommen. Diese Aspekte, die auch die besondere Rolle betonen, die die Berlinale für viele Regisseure gespielt hat, lassen sich also im Programm sehr gut wiederfinden. Bei einem Festival wie diesem geht es ja nicht nur darum, die großen Filme des jeweiligen Jahrgangs zu versammeln, sondern auch die Möglichkeit für Entdeckungen zu schaffen. Und da war die Berlinale meines Erachtens immer relativ stark.

Gerade im Rückblick auf die ästhetischen und inhaltlichen Reizpunkte in der Festivalgeschichte, wie etwa Nagisa Oshimas Ai no corrida (Im Reich der Sinne) oder Michael Ciminos The Deer Hunter, scheint es manchmal, dass die damals auszumachende Nähe von filmischen Verfahrensweisen zu gesellschaftspolitischen Diskursen inzwischen abhanden gekommen ist. Fehlt heute die Möglichkeit einer Konfrontativität, die früher noch einfacher zu haben war?

Das mag sein. Man sollte sich vor Augen führen, dass die politischen Skandale ein bisschen weniger geworden sind, seit Berlin nicht mehr die „Frontstadt“ ist und das Festival nicht mehr der Ort, an dem die zwei Blöcke Ost und West aufeinanderprallen. Dieser historische Kontext hat natürlich die Auseinandersetzung unter anderem bei The Deer Hunter sehr verschärft. Wenn heute politisch umstrittene Filme laufen, kann die Intensität der Auseinandersetzung zwar sehr variieren, aber die Unzufriedenheiten und unterschiedlichen Einschätzungen entladen sich nicht vor dem Hintergrund eines so dominant bipolaren Weltbildes. Christopher Roths Baader etwa war in der jüngeren Festivalgeschichte ein Film, der durchaus umstritten war und diskutiert wurde, da nicht alle die Darstellung der Figur Andreas Baader akzeptieren konnten. Oder Michael Winterbottoms Road to Guantanamo wird nicht jedem US-amerikanischen Festivalbesucher gefallen haben, und auch nicht jedem deutschen. Aber wir haben es heutzutage trotzdem mit einer ganz anderen Form der Konfrontation zu tun. Die ist zwar auch nicht unbedingt entspannt, aber es geht ihr glücklicherweise meistens diese einfache Schwarz-Weiß-Gegenüberstellung ab. Wenn man nun an große Skandale in der Festivalgeschichte denkt, wie eben beispielsweise Ai no corrida, muss man die Aufregung, die es um diese Filme gab, mit ihrer Entstehungszeit zusammen denken. Sicher sind ähnlich gereizte Reaktionen auf Filme heute seltener. Andererseits ist das Kino insgesamt aber auch freier und reicher geworden.

Sind die ästhetischen Impulse oder Neuanfänge dem zeitgenössischen Publikum in ihrem Ausmaß bereits bewusst? Oder zeigt die Geschichte eher, dass eine solche Einordnung erst retrospektiv geschieht?

Wie das mit der Geschichte ist, ob die Neuentdeckungen immer gleich als solche wahrgenommen wurden, das lässt sich so pauschal sicher nicht beantworten. Wenn man an den ersten Film von Fassbinder denkt, der auf der Berlinale lief, Liebe ist kälter als der Tod, da entbrannte eine heftige Diskussion, weil das Publikum und die Journalisten ihn nicht mochten. Das passierte aber auch Romuald Karmakar mit Die Nacht singt ihre Lieder. Es scheint also immer noch so zu sein, dass das Spröde oder das, was nicht unbedingt den Erwartungen des Publikums entspricht, es nach wie vor schwer beim Publikum und bei der Kritik hat. Da muss man tatsächlich nur an die letzten Jahre denken, in denen es Filmen nicht unbedingt positiv angerechnet wurde, wenn sie durch ihre Form eine Herausforderung darstellten.

Ai no corrida (Im Reich der Sinne) von Nagisa Oshima

Bei der wahrscheinlich seltenen Chance, die Glanzpunkte des Festivals oder vielleicht sogar den Lieblingsfilm von damals noch einmal im Kino zu sehen, kann man sich einen gesteigerten Besucherandrang leicht vorstellen.

Wir gehen sicher davon aus, dass die Retrospektive gut besucht sein wird, und freuen uns, dass David Thomson nach Berlin kommt und viele Filme der Retrospektive persönlich präsentieren wird. Wir sind gespannt auf viele angeregte Diskussionen über einzelne Filme und das ganze Programm. Nicht umsonst heißt unsere Retrospektive PLAY IT AGAIN …!