2019 | Retrospektive

"Selbstbestimmt. Perspektiven von Filmemacherinnen"

Peppermint Frieden von Marianne Rosenbaum, BRD 1983

Das Filmschaffen von Regisseurinnen in der Zeit von 1968 bis 1999 ist Thema der Retrospektive der 69. Internationalen Filmfestspiele Berlin. Das Programm umfasst 26 Spiel- und Dokumentarfilme aus der ehemaligen DDR sowie aus der Bundesrepublik Deutschland vor und nach 1990. Zudem werden rund 20 kurze und mittellange Filme in Einzelprogrammen und als Vorfilme zu sehen sein. Gemeinsam ist den Filmemacherinnen und ihren Protagonist*innen gleichermaßen das Interesse an der Erkundung eigener Lebensräume und die Suche nach einer eigenen filmischen Sprache.

Entwickeln konnte sich dieses Filmschaffen in der Bundesrepublik Deutschland im Kontext der Student*innenbewegung von 1968, eng verbunden mit der Neuen Frauenbewegung und dem Neuen Deutschen Film. In der DDR hingegen entstanden alle Filme innerhalb eines staatlich gelenkten Studiosystems: Die DEFA bot einigen Pionierinnen bereits in den 1950er-Jahren die Möglichkeit, Regie zu führen, allerdings vornehmlich bei Filmen für Kinder. Ab dem Ende der 1960er-Jahre rückte der sozialistische Alltag in den Fokus der Regisseurinnen in der DDR.

„Dank dieser Aktivistinnen, darunter engagierte Filmemacherinnen wie Helke Sander, Ula Stöckl oder Jutta Brückner, entfaltete sich das weibliche Filmschaffen selbstbewusst. Die Forderung nach Geschlechtergerechtigkeit in der Filmbranche ist bis heute aktuell geblieben“, betont Berlinale-Direktor Dieter Kosslick.

Werner Enke und Uschi Glas in Zur Sache, Schätzchen von May Spils, BRD 1968

Die von der Deutschen Kinemathek kuratierte Retrospektive spannt einen Bogen von May Spils erstem großen Kinoerfolg Zur Sache, Schätzchen (BRD 1968) bis hin zu dem Dokumentarfilm Mit Haut und Haar (D 1999), mit dem Martina Döcker und Crescentia Dünßer den Lebenserinnerungen von sechs Frauen nachspüren, die vor oder während der Zeit der Weimarer Republik geboren wurden. Mehrheitlich sind die Filme dem Autorinnenfilm zuzurechnen, häufig zeichnen die Regisseurinnen darüber hinaus für weitere Gewerke verantwortlich. Die ausgewählten Filme reflektieren den Umgang mit Körper, Raum und gesellschaftlichen Beziehungen, mit Alltag und Arbeit. Die Vielfalt der Genres reicht vom kurzen Animationsfilm über essayistische und experimentelle Werke bis hin zu Spiel- und Dokumentarfilmen.

Den erzählerischen Ausgangspunkt vieler der ausgewählten Filme bildet die persönliche Geschichte der Filmemacherinnen. Oftmals korrespondieren individuelle Aufbrüche und gesellschaftliche Entwicklungen miteinander, wie beispielsweise in Jutta Brückners Tue recht und scheue niemand – Das Leben der Gerda Siepenbrink (BRD 1975) oder Marianne Rosenbaums Peppermint Frieden (BRD 1983). Die ästhetischen Ansätze sind vielfältig: Opulente Bildwelten wie in Ulrike Ottingers Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse (BRD 1984) oder Nina Grosses Der gläserne Himmel (BRD 1987) stehen neben nüchtern scheinenden Bildern des Alltags in Helma Sanders-Brahms' Unter dem Pflaster ist der Strand (BRD 1975) oder Angela Schanelecs Das Glück meiner Schwester (D 1995). Authentizität gewinnen etliche Filme durch ihr poetisches Schwarz-Weiß und Aufnahmen von Originalschauplätzen: Ingrid Reschkes Spielfilm Kennen Sie Urban? (DDR 1971) zeigt eindrücklich Außenseiter einer jungen Generation auf Großbaustellen in der DDR, und Petra Tschörtner dokumentiert den Aufbruch in der Wendezeit in Berlin – Prenzlauer Berg. Begegnungen zwischen dem 1. Mai und dem 1. Juli 1990 (D 1990). Beide Filme sind auch Streifzüge durch Stadtlandschaften im Wandel.

Berlin – Prenzlauer Berg. Begegnungen zwischen dem 1. Mai und dem 1. Juli von Petra Tschörtner, Deutschland 1990

Lebensmittelpunkt vieler Filmemacherinnen und Schauplatz zahlreicher Geschichten ist Berlin: In Pia Frankenbergs Nie wieder schlafen (D 1992) etwa lassen sich drei Protagonistinnen ziellos durch die Stadt treiben. Sie sind Flaneurinnen ähnlich wie die Hauptfigur in Claudia von Alemanns Die Reise nach Lyon (BRD 1980), die auf den Spuren einer feministischen Vorfahrin wandelt. In den Filmen um 1970 erobern die Filmemacherinnen und ihre Protagonistinnen erstmals den öffentlichen Raum; in den Filmen aus den 1990er-Jahren ist er als Schauplatz auch für Privates selbstverständlich geworden.

„‚Selbstbestimmt‘ setzt auch die Retrospektive ‚Deutschland 1966‘ fort, in der der Karrierebeginn westdeutscher Regisseurinnen dokumentiert wurde. In den folgenden Jahrzehnten entstand, in West und Ost, eine großartige filmische Vielfalt, stilistisch wie thematisch, die wir nun in dieser Retrospektive präsentieren“, kommentiert Rainer Rother, Leiter der Retrospektive und Künstlerischer Direktor der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen.

Zu den Höhepunkten der Retrospektive gehört die Präsentation der Filme durch ihre Macherinnen: Gespräche mit Regisseurinnen wie Iris Gusner, Jeanine Meerapfel, Helke Misselwitz, Helke Sander, Evelyn Schmidt, Ula Stöckl, Margarethe von Trotta und Katja von Garnier, finden in den Kinos der Retrospektive statt.

Zur Retrospektive erscheint die deutschsprachige Publikation „Selbstbestimmt. Perspektiven von Filmemacherinnen“ im Bertz + Fischer Verlag. Der reich illustrierte Band präsentiert jeweils fünf Essays von renommierten Filmwissenschaftlerinnen und prominenten Regisseurinnen.

Begleitet wird das Filmprogramm der Retrospektive von zahlreichen Veranstaltungen in der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen.

Besonderer Dank für die Unterstützung gilt German Films und weiteren Partnern des diesjährigen Programms: der DEFA-Stiftung, dem Deutschen Filminstitut – DIF, dem Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V. sowie dem Bundesarchiv-Filmarchiv.