2014 | Generation

Das Unsichtbare spürbar machen

Authentizität ist ein wichtiges Stichwort bei dem Versuch, das vielfältige Programm von Generation 2014 zu beschreiben. Der filmische Rhythmus, die Einbettung des Erzählten in reale Landschaften und die Echtheit der jungen Protagonisten spielen dabei zentrale Rollen. Sektionsleiterin Maryanne Redpath und der stellvertretende Sektionsleiter Florian Weghorn betonen im Interview die Universalität der Themen und Geschichten sowie die Vielschichtigkeit der filmischen Formen.

Filme aus dem Generation-Programm 2014

Was ist für Euch als Erwachsene die größte Herausforderung beim Kuratieren eines Filmprogramms für Kinder und Jugendliche?

MR: Eigentlich unterscheidet sich unsere Arbeit nicht wirklich von den anderen Auswahlgremien dieses Festivals. Wir suchen gute Filme und erwarten dabei auch nicht, dass jedem jungen Zuschauer später jeder Film gefallen wird. Wir möchten unser Publikum fordern und wünschen uns gleichzeitig, von unseren Zuschauern überrascht zu werden. So breit das Spektrum an Filmen ist, so verschieden sind auch die Reaktionen im Kinosaal. Schon aufgrund der vielen Altersstufen gestaltet sich dieser Dialog sehr unterschiedlich. Ein Vierjähriger fordert uns ganz anders heraus und will anders von Filmen gefordert werden als ein 16-Jähriger. Uns geht es um den Diskurs auf Augenhöhe.

FW: Es ist das Privileg von Generation, auch Filme zeigen zu dürfen, die nicht explizit für ein junges Publikum gemacht wurden, sich aber für diese Zielgruppe eignen. Es geht um universelle Themen und Geschichten, erzählt aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen. Diese grundsätzliche Offenheit ist uns sehr wichtig. Wir wollen unsere Filme nicht etikettieren und heißen Zuschauer jeden Alters willkommen.

César De Sutter in Violet von Bas Devos

Das Unsichtbare spürbar machen

Ihr habt die Erzählperspektive angesprochen. Welche formalen Mittel finden die Filmemacher, um ein Gefühl von Jugend zu transportieren?

FW: Möchte ein Filmemacher die Welt aus Sicht eines Kindes beschreiben, kann dies unabhängig von der Story auch über den Erzählrhythmus geschehen. Hitono Nozomino Yorokobiyo (Joy of Man’s Desiring) von Masakazu Sugita aus dem Kplus-Programm ist da ein gutes Beispiel. Dieser japanische Film beschäftigt sich mit den Auswirkungen eines schweren Erdbebens auf zwei Kinder. Durch seine Formensprache vermittelt er den Eindruck einer sehr verlangsamten, seltsam distanzierten Weltwahrnehmung nach dem Schock, vergleichbar mit dem Fiepen auf den Ohren nach einem lauten Knall. Als sich die Situation für das Geschwisterpärchen allmählich zu verbessern beginnt, ändert sich auch der Rhythmus des Films.

MR: Auch Violet aus Belgien und der Niederlande von Debütregisseur Bas Devos ist ein sehr intensiv erzählter und differenziert gezeichneter Film, bei dem es weniger um das Offensichtliche als viel mehr um das Unerklärbare, Unsichtbare geht. In einem Einkaufszentrum wird ein Junge erstochen. Sein bester Freund, die Hauptfigur des Films, bleibt zurück, allein mit seinen Schuldgefühlen und Ängsten. Die Ohnmacht und das Gefühl der Lähmung vermitteln sich auch visuell und vor allem akustisch. Wir sehen und hören quasi zwischen den Zeilen. Violet ist emotional tief bewegend und eine grandiose Herausforderung für den Zuschauer – streng, aber nicht anstrengend.

Alejandro Gallardo, Arnold Ramírez, Rafael Andrade und Moisés Galindo in Somos Mari Pepa (We Are Mari Pepa) von Samuel Kishi Leopo

FW: Wir zeigen übrigens nicht nur Arthouse-Filme mit aufgebrochenen Narrationen. Aber es genügt als Auswahlkriterium eben auch nicht, wenn in einem Film junge Leute mitspielen. Oft beschreiben die Filme nicht nur ein jugendliches Lebensgefühl, sondern verkörpern selbst eines. Das funktioniert sowohl auf ernsthafte Weise als auch mit einer mitreißend, trashigen Punkigkeit wie in Somos Mari Pepa (We Are Mari Pepa, Mexiko) von Samuel Kishi Leopo. Dieses Eins zu Eins von Kinoerlebnis und Lebensgefühl bewundern wir, und es wird auch von unseren Zuschauern sehr geschätzt.

MR: Zwei Filme des Programms haben keine kindlichen oder jugendlichen Darsteller. Zum einen Tante Hilda! (Aunt Hilda!, Frankreich / Luxemburg) von Jacques-Rémy Girerd und Benoît Chieux, einer der fünf langen Animationsfilme im Kplus-Programm. Die Hauptfigur ist eine selbstbewusste Frau, zwischen 40 und 50 Jahre alt, Alt-68erin mit Hand und Herz. Sie kämpft mit Flowerpower gegen die Genmais-Industrie. Dieser Film ist nicht nur für ein junges Publikum interessant - das muss man beim Animationskino ja manchmal besonders betonen. Der zweite Film ohne junge Darsteller ist What We Do in the Shadows (Neuseeland / USA) von Taika Waititi und Jemaine Clement. Ich würde sogar sagen, kaum waren Darsteller in einem Berlinale-Film je älter als in dieser Mockumentary über eine Vampir-WG. Deren Bewohner sind nämlich bis zu 8000 Jahre alt, und wie in jeder Wohngemeinschaft gibt es Streit über den uralten Abwasch. Eine höchst lakonische Satire über unsere Gesellschaft im Jugendwahn – und eine tolle Farbe im Programm von 14plus.

Ashleigh Cummings, Lily Sullivan, Toby Wallace und Aliki Matangi in Galore von Rhys Graham

Welche Faktoren spielen filmsprachlich noch eine Rolle?

MR: Viele Geschichten werden umrahmt von äußeren Einflüssen, die Umgebung ist nie bloß Kulisse. In dem australischen Spielfilm Galore von Rhys Graham werden die Spannungen zwischen den Hauptfiguren durch die Bedrohlichkeit eines nahenden Waldbrandes elementar spürbar. In Ömheten (Broken Hill Blues) von Sofia Norlin erscheint die Landschaft wie eine eigenständige, allmächtige Figur des Films: Parallel werden die Coming-of-Age-Geschichten mehrerer Jugendlicher in der nördlichsten Stadt Schwedens erzählt. Tief unter der Erde führt hier eine Minengesellschaft Sprengungen durch, die den Schnee von den Bäumen rieseln lassen. Wie die Jugendlichen ist auch ihre Umwelt destabilisiert. Das drohende Unheil von außen umhüllt die Handlung, spiegelt das Emotionale und dramatisiert es gleichzeig.

Tenzin Dayoe in Rangzen (Freiheit) von Gaurav Saxena

Könnt ihr etwas zur Auswahl der Kurzfilmprogramme sagen?

FW: Wenn du so willst, bilden die Kurzfilme die Sektion noch einmal im Kleinen oder eben im Kurzen ab. Man sieht eine Reihe eigenständiger Filmkunstwerke, lernt verschiedenste Menschen und deren Geschichten kennen und trägt trotzdem das Gefühl nach Hause, kopfüber in den großen Kosmos von Generation eingetaucht zu sein.

MR: Auch mit Blick auf die Herkunftsländer bieten die Kurzfilme eine tolle Ergänzung des Programms. Hier haben wir unsere Exoten: Rangzen (Freiheit, Gaurav Saxena) aus Indien, der in den Bergen Tibets spielt, Vetrarmorgun (Wintermorgen, Sakaris Stórá) von den Färöer Inseln, Pigs (Ferkel, Laura Mohai) aus Singapur und Malaysia.

Beyond Beyond (Johan und der Federkönig) von Esben Toft Jacobsen

Roadmovies, Musik- und Ensemblefilme

In der Sektion 14plus ist es naheliegend, an Coming-of-Age-Geschichten zu denken. Welche Genres spielen noch eine Rolle?

FW: Wir zeigen dieses Jahr eine Reihe sehr unterschiedlicher Musikfilme. God Help the Girl aus Großbritannien, der Eröffnungsfilm in 14plus zum Beispiel. Ein hinreißender Singer-Songwriter-Film und das Regiedebüt von Stuart Murdoch, dem Gründer und Lead-Sänger von Belle and Sebastian. Man spürt genau, wo dieser Film seine Wurzeln hat.

MR: Eindeutig in den Untergrundbars von Glasgow.

FW: Oder der australische Kurzfilm Emo (the musical) von Neil Triffett und auch der Animationsfilm Jack et la mécanique du cœur (Jack und das Kuckucksuhrherz), hinter dem Mathias Malzieu steht, der Sänger der französischen Band Dionysos. Anstelle eines Herzens schlägt in Jacks Brust eine Kuckucksuhr. Der Film ist ein Gesamtkunstwerk, filmisch und musikalisch.

MR: Und an dieser Stelle muss man einfach noch einmal den Punkrockfilm Somos Mari Pepa erwähnen: vier Jungs, ihre Band und nur ein einziges, ziemlich obszönes Lied. Der Film lässt sich aber auch als Ensemblestück beschreiben, genau wie die internationale Koproduktion Mavi Dalga (The Blue Wave) von Zeynep Dadak und Merve Kayan. In der geht es um eine Clique jugendlicher Mädchen. Ihr Lebensalltag zwischen Ende der Jugend und Aufbruch in eine neue, bedrohlich unbekannte Welt entwirft ein sehr modernes Bild der heutigen Türkei.

FW: Natürlich spielen bei Generation in guter Tradition auch Roadmovies eine gewichtige Rolle. Das Genre und die jugendliche Reise ins Erwachsenwerden passen einfach sehr gut zusammen. Man kann das in dem argentinisch-französischen Spielfilm Ciencias Naturales (Naturkunde) von Matías Lucchesi erleben oder im Animationsfilm Beyond Beyond (Johan und der Federkönig, Schweden / Dänemark) von Esben Toft Jacobsen. Einmal macht sich ein Mädchen aus den Nebelbergen auf ins Tal, um ihre wahre Familiengeschichte zu erkunden. Ein andermal taucht ein junger Hase bis hinunter in magische Unterwelten, um dort seiner verstorbenen Mutter zu begegnen.

Apropos, in mehreren Filmen des Kplus-Programms fällt die Abwesenheit eines Elternteils auf. Muss der erste eigenständige Weg eines Kindes wirklich immer durch den Tod der Eltern begründet werden?

FW: Nein, natürlich nicht. Aber dramaturgisch betrachtet sind es oft drastische Veränderungen, die eine Entwicklung auslösen und junge Protagonisten dazu bringen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Das kann auch ein Umzug sein, eine Freundschaft, die zerbricht, oder das Verschwinden des Haustieres, wie in Einstein and Einstein von Cao Baoping aus China. Für Li Wan bricht damit das ganze Lügengerüst ihrer Eltern zusammen.

Shayleah Sands in Above Us All von Eugenie Jansen

MR: Die Trauerarbeit und die Frage, wie man mit dem Tod umgeht, individuell und in verschiedenen Kulturen, ist ein wichtiges Thema in diesem Jahr. Am eindrücklichsten verdichtet sich dies vielleicht im 3D-Film Above Us All (Niederlande / Belgien) von Eugenie Jansen. Der geht um ein Mädchen, das eine indigene Mutter und einen belgischen Vater hat, mit denen sie in der Wüste Australiens lebt. Als die Mutter stirbt, zieht sie mit dem Vater nach Belgien. Und hier sieht es nicht nur anders aus, sondern die Menschen trauern auch ganz anders, als sie es kennt. Der Film bietet ein geradezu physisches Kinoerlebnis, denn er besteht ausschließlich aus sanft kreisenden 360-Grad-Schwenks, wie gesagt in 3D. Gegen Ende entschwebt die Kamera ins All und wir blicken auf den blauen Planeten zurück.

Out of This World (Nicht von dieser Welt) von Viktor Nordenskiöld

Ungeniert und nicht gespielt

Gibt es noch andere Querverweise durch euer Programm?

FW: Fünf sehr unterschiedliche Filme quer durchs Programm empfehlen wir für den Teddy Award. Und es sind zum Glück nicht nur Coming-out-Filme, an die man bei Jugendlichen in diesem Zusammenhang gern schnell mal denkt. In 52 Tuesdays zum Beispiel erleben wir, wie eine 16-Jährige mit der Geschlechtsumwandlung ihrer Mutter umgehen lernt. Ein sehr authentischer Film, der sich Zeit lässt für die allmählichen Veränderungen: Gedreht wurde chronologisch an 52 Dienstagen eines Jahres.

Welche Rolle spielen generell dokumentarische Formen?

FW: Streng genommen zeigen wir nur zwei Dokumentarfilme, den Kurzfilm Out of This World (Nicht von dieser Welt) von Viktor Nordenskiöld aus Schweden, der in Pakistan spielt, und den sehr poetischen Kurzfilm Hijos de la tierra (Kinder der Erde) von Diego Sarmiento aus Peru. Mindestens genauso interessant ist jedoch der dokumentarische Anteil in den Spielfilmen, der durch die Laiendarsteller und die erwähnte Einbettung der Geschichten in echte Schauplätze oder Zeitabläufe entsteht. Were Dengê Min (Folge meiner Stimme (AT), Türkei / Deutschland / Frankreich) von Hüseyin Karabey ist zum Beispiel von seiner Anlage ein sehr dokumentarischer Spielfilm. Wie er dann seine verschiedensten Erzählebenen verwebt, macht ihn zu einem ornamentalen Kunstwerk.

MR: Natürlich haben wir Filme mit professionellen Schauspieler im Programm, aber viele der Kinder oder Jugendlichen standen noch nie vor einer Kamera. Ich bewundere, wie die Regisseure mit diesen Protagonisten arbeiten. Wir haben bereits sehr stringent durchdefinierte Filme erwähnt, andere kommen ganz ohne ausformulierte Dialoge oder feststehende Bildeinstellungen aus. Mit Hingabe und Offenheit fangen sie den magischen Moment ein, in dem das Kind ganz es selbst sein darf, ungeniert und nicht gespielt, fast dokumentarisch.

FW: All das ist beeindruckend zu sehen im ostdeutschen Film Ikarus. Wir zeigen die restaurierte Fassung in einer Sondervorführung in Zusammenarbeit mit der DEFA-Stiftung und organisieren auch eine Gesprächsrunde mit Zeitzeugen und ehemaligen „Filmkindern“ in der Audi Berlinale Lounge am Marlene-Dietrich-Platz. In Ikarus spielt der echte Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg eine große Rolle. Aber vor allem führte der Regisseur Heiner Carow seine Hauptfigur, ohne ihr ihre Authentizität zu nehmen. Dieser Junge ist so zornig! Der Film ist schon von 1975 und fügt sich doch mühelos in das diesjährige Programm.