2011 | Berlinale Shorts
„Die Skizze ist dem Kurzfilm viel näher als das Gemälde.“
Bereits im vierten Jahr kuratiert Maike Mia Höhne die Berlinale Shorts und leitet die Sektion. Zeit für einschneidende Veränderungen? Im Interview spricht sie über Schwerpunktverlagerungen und Konstanten im Programm, die Darstellung von gesellschaftlichen Zuständen und Verhältnissen sowie die Bedeutung, die dem kurzen Film zusteht.
Wenn Du Deine letzten Jahre als Kuratorin der Berlinale Shorts noch einmal Revue passieren lässt: Was möchtest und wirst du 2011 verändern?
Nach den Erfahrungen der letzten Jahre habe ich für 2011 bewusst nach neuen Entwicklungen für das Programm gesucht, weil ich den Zuschauern einen frischen Blick auf den kurzen Film bieten will. Wir wollen weiter wachsen und neue Erfahrungen machen. Deshalb gibt es einen gewissen Bruch, gleichzeitig werde ich meiner Handschrift treu bleiben. Was ist der experimentelle Film im Jahr 2011? Die Berlinale Shorts zeigen mögliche Ansätze. Das Experiment in der Narration hat einen großen Stellenwert. Die Berlinale ist ein Ort, an dem die Filme, die sich an der Peripherie bewegen, eine Heimat finden.
Worin liegt deiner Meinung nach die besondere Qualität des kurzen Films im Hinblick auf die Narration?
Das lässt sich an einem Beispiel erläutern: Wir haben Scenes from the Suburbs im Programm, ein Film der Erinnerung, den Spike Jonze zur Musik der Band Arcade Fire gedreht hat. Es heißt zwar immer, dass das Musikvideo tot sei, aber in diesem Mix von Clipästhetik und narrativen Elementen macht Jonze eine spannende und fruchtbare Perspektive auf die Form visuellen Erzählens auf. Er bleibt mit der Narration in der Struktur des Musikvideos, zeigt die Szenen aus den Vororten unvermittelt und nur lose verbunden. Die Bilder sind Auszüge, Impressionen, buchstabieren keine Geschichte mit Anfang, Mitte und Ende aus. So entsteht eine hybride Form: Jonze bleibt zwar dem Genre Musikvideo verhaftet, aber nutzt die Kraft der Musik für die narrativen Linien, die er auslegt. So erweckt die Verbindung der Songs mit den erzählerischen Elementen ein wunderbar nostalgisches Gefühl für einen längst vergangenen Sommer.
Auf der einen Seite sind die Bilder Zitate aus Spielfilmen der 1980er Jahre, aber gleichzeitig verbindet das Jonze mit einer Zukunftsvision: die Viertel, die Vororte sind abgeriegelt und belagert vom riesigen Aufgebot eines finsteren Sicherheitsapparates …
Genau. Ausgehend von dem Musikvideo erschafft Scenes from the Suburbs eine ganze Welt, beschreibt präzise gewisse Tendenzen in unseren zeitgenössischen Gesellschaften. Diese Motiviken der gesellschaftlichen Kontroll- oder Sicherheitsinstanzen wie dem Militär oder der Polizei tauchen im ganzen Programm immer wieder auf. Historisch perspektiviert wie in Apele Tac (Der Fluß schweigt) von Anca Miruna Lazarescu oder als zentrales Problemfeld wie in Ashley/Amber. Oder eben – wie in Scenes from the Suburbs oder auch Aterfödelsen (Die Untoten) – als visionäres, dystopisches Bild der Vergemeinschaftung.
Ashley/Amber thematisiert die Antikriegsbewegung in den USA …
Ja, der Film ist eine konflikthafte Verstrickung verschiedener thematischer Komplexe um die Figur einer jungen Frau: ein Ausflug in die Pornowelt, ein Freund im Kriegseinsatz und das wachsende Engagement in der studentischen Friedensbewegung. Neben der intelligenten filmischen Verknüpfung dieser Bereiche fängt die Regisseurin Rebecca Rojer viel ein von einem real existierenden Lebensgefühl in Harvard, wo der Film spielt und wo sie auch studiert. Man sieht also nicht ‚nur‘ einen fiktionalen Film, sondern erfährt wirklich etwas über den Zustand in bestimmten Regionen der Welt. Mir war vorher gar nicht bewusst, dass es in den USA eine so starke Widerstandsbewegung gibt – inklusive besetzter Häuser und politischer Diskussionszirkel. Über die spezifische Qualität des 16mm-Materials, das Rojer verwendet, fühlt man sich zurückversetzt in die 1970er Jahre, die Zeit der Bürgerbewegungen. Und gleichzeitig weiß man, dass dies sehr reale Vorgänge in der heutigen Welt sind.
Sudsanan (Schrecklich Glücklich) von Pimpaka Towira ist ein Beispiel, bei dem solche Einblicke in die regionalen Verhältnisse den Rahmen geben und doch womöglich Ursache sind für das Unglück des Protagonisten. In wunderbar klaren und gleichzeitig verunsichernden Bildern durchstöbert das thailändische Militär ländliche Gebiete auf der Suche nach Rebellen. Und plötzlich begleiten wir die Hauptfigur, einen der Soldaten, in seinen Heimatort zurück, wo er erfahren muss, dass seine frühere Freundin inzwischen mit einem anderen Mann verheiratet ist. Ein imponierend aufrichtiger Film über die Notwendigkeit des Loslassens, des Abschieds von eigenen, sehnsüchtigen Vorstellungswelten und die Konfrontation mit der manchmal bitteren Realität.
Formationen des Ichs
Teilst Du die Einschätzung, dass im Programm insgesamt eher ein deprimierendes, pessimistisches Bild unserer Lebenswelt gezeichnet wird? Die Filme kreisen mitunter um Themen wie Empathielosigkeit und Entfremdung.
Es sind keine reinen Untergangsfantasien, die wir sehen. Es geht oft um eine bestimmte Formation der Ich-Gesellschaft, in der das Ego über allem steht. Das wirft dann Fragen auf: Wie kann eine Gesellschaft überleben, in der sich jeder nur um sich selbst kümmert? Paradigmatisch zeigt das Aterfödelsen von Hugo Lilja, in dem das Gesundheitssystem über die Zombie-Metapher radikal zu Ende gedacht wird. Solche Filme blicken auf einen Status Quo und finden dafür ganz eigene Formen der Inszenierung. Sie setzen dem Ist-Zustand keine Utopie entgegen und funktionieren eher als Bestandsaufnahmen: Sie bilden gewisse Zustände in der Welt ab – und es gibt beides: das Ego Ego und den, der sich übersteigen will.
Du sprichst von der Eigenständigkeit des Erzählens im kurzen Film. Was sind Deiner Meinung nach die besonderen Qualitäten der narrativen Form im Kurzfilm?
Eine der großen Freiheiten ist es, das die Künstler ganz anders mit dem narrativen Skelett umgehen können. Es muss nicht alles auserzählt und ausbuchstabiert werden. Die Skizze ist dem Kurzfilm viel näher als das Gemälde. Und das ist auch mir viel näher. Der Kurzfilm ist immer interessant, wenn sich die Filmemacher ausprobieren und neue Arten des visuellen Erzählens entdecken. Ich liebe dieses Zarte, Unfertige. Wie zum Beispiel in La Ducha (Die Dusche) von Maria Jose San Martin, in dem narrative Stränge oft nur angerissen sind, eher erzählerische Fluchtlinien als ein organisches Erzählgebilde ausformen. Der Film spielt in einem einzigen Raum, wir sehen nur zwei Frauenkörper, die miteinander sprechen. Aber gleichzeitig passiert da unendlich viel in wenigen, sehr prägnanten Bildern. Der Film entfaltet ein Beziehungsdrama, das wir alle kennen, ohne einen eindeutigen Sinn zu fixieren – letztlich bleibt alles offen. Die Geschichte realisiert sich durch die Gesten, das körperliche Spiel, weniger über die Dialoge, denn die Figuren sprechen ihre eigentlichen Motive oft gar nicht aus. Über diesen minimalen Input versteht man die Perspektivierungen der Zeit, das Vorher und Nachher der aktuellen Situation, von dem diese Bilder implizit in jeder Einstellung sprechen. Und so entwickelt La Ducha aus dieser fast schon klaustrophobischen räumlichen Begrenztheit und den narrativen Auslassungen einen Eindruck davon, wie sich ein Abschied anfühlt. Der Zuschauer füllt die Ellipsen dann mit seinem eigenen Wissen und ist den Figuren ganz nahe. Es wäre spannend zu erfahren, ob eine solche Konstellation und einer solcher Zugriff aufs Erzählen auch über 90 Minuten trägt.
Wenn die Filme narrativ fokussiert sind, dann müssen sie also neue Wege ausprobieren?
Ja, darauf achte ich. Auch bei den Filmemachern, die wir in den letzten Jahren bereits mehrmals eingeladen haben, wie etwa Kazik Radwanski, der seinen neuen Film Green Crayons präsentieren wird. Nach seinen früheren Beiträgen Out in That Deep Blue Sea und Princess Margaret Blvd. ist der Film wieder einmal ein Paradebeispiel für die Art von künstlerischer Aufgeschlossenheit und Suche, die wir uns erhoffen. Wir wollen sehen, dass sich in den Arbeiten eine Weiterentwicklung zeigt, dass die Künstler formal oder inhaltlich bereit sind, sich neu zu versuchen und zu anderen Lösungen zu kommen.
Die Umsetzung der erzählerischen Aspekte in den Filmen muss schon etwas Besonderes haben. In Back by 6 (Zurück bis 6) von Peter Connelly spiegelt sich etwa innerhalb des Bildraums die Bewegung der Körper in den Bewegungen der Objekte. Dem Filmemacher geht es primär um diese Synchronizität. Der formale Ansatz ist also erst einmal ‚experimentell‘. Gleichzeitig inszeniert der Regisseur auf narrativer Ebene eine spezifische Welt der Bedeutung, zeigt uns, wie zauberhaft diese Welt ist, in der wir leben und die wir im Alltag oft nur in Begriffen der Entfremdung denken. Die Figuren im Film werden zu unseren Stellvertretern, die uns zeigen, wie schön die Welt eigentlich sein kann.
Die Arbeit einer Kuratorin
Die Vielfältigkeit der Ansätze, Formen und Themen ist gerade bei den Kurzfilmblöcken ein Programmkriterium, das vom Publikum quasi als selbstverständlich vorausgesetzt und erwartet wird. Dieses Jahr hast Du viele Filme ausgewählt, die im halbstündigen Bereich liegen. Macht das die Zusammenstellung der einzelnen Blöcke schwieriger?
Es gibt ja die verschiedensten Ansätze, die Filme zusammenzusetzen – zum Beispiel thematisch. Oder dass ein Film auf dem anderen aufbaut. Aber ich werde mit diesen Strukturen spielen, Zäsuren setzen, versuchen zu komponieren, indem ich mich in die Gefühle der Filme hineinbegebe. Wir suchen die einzelnen Filme ja nicht im Hinblick auf ein großes Motiv aus und stellen dann die einzelnen Programme zusammen. Trotzdem gibt es immer eine Logik, wie divergent die inhaltlichen und formalen Ansätze der jeweiligen Filme auch sind. Man kann die Filme gut zusammen sehen, es gibt eine Handschrift. In diesem Jahr ist die spannendste Frage, wie sich die kürzeren Filme einbinden lassen, damit sie zwischen den vielen Halbstündern nicht untergehen. Die Mischung muss stimmen.
Letztes Jahr habt Ihr erstmals Veranstaltungen durchgeführt, die explizit der Diskussion über die Kurzfilme und dem Austausch zwischen Publikum und Filmemachern gewidmet waren. Würdest Du diese Filmgespräche als gelungenen Versuch einordnen, der dieses Jahr wiederholt werden soll?
Die Veranstaltungen waren ein voller Erfolg, deshalb werden sie auch dieses Jahr wieder stattfinden. Mir gefällt die zeitliche Loslösung von den Kinovorstellungen dabei besonders. Dem Publikum wird auf diese Weise erst einmal der Raum gelassen, das Gesehene auf sich wirken zu lassen, ohne es direkt im Anschluss allgemeinen Rationalisierungsversuchen unterwerfen zu müssen. Letztes Jahr wurde in den Gesprächen oft noch einmal viel deutlicher, wo genau die Künstler mit ihren Werken stehen. Es waren offene Dialoge mit dem Publikum, keine Podiumsgespräche. Mir ist es wichtig, eine Situation zu schaffen, in der die Zuschauer auch gerne mitreden. Denn das zentrale Ziel dieser Diskussionen ist – wie Du schon gesagt hast - der Austausch zwischen Filmemachern und ihrem Publikum.
Der Goldene und der Silberne Bär der Shorts werden 2011 erstmals seit 2002 wieder in der offiziellen Preisverleihungs-Zeremonie am letzten Samstag des Festivals verliehen. Ein überfälliger Schritt aus Deiner Sicht?
Ein richtiger Schritt. Durch die Einbindung in die offizielle Zeremonie bekommt der kurze Film die Aufmerksamkeit und Gewichtung, die ihm zusteht. Der kurze Film ist alles, was kein Langfilm ist. Das ist eine wahnsinnige Bandbreite. Diese Bandbreite ist eine Bereicherung in ihrer Kürze und von daher freue ich mich sehr, dass die Bären wieder gemeinsam vergeben werden.
Nach welchen Kriterien wird die Jury der Berlinale Shorts zusammengestellt? Suchst Du möglichst unterschiedliche Perspektiven auf die Filme oder worum geht es Dir?
Ich wollte Jurymitglieder, die genau wissen, was mit dem Kurzfilm geleistet wird. Wir haben mutige Filmemacher und mutige Filme, deshalb sollen auch diejenigen, die über die Preise bestimmen, mutige Entscheidungen treffen. Und tatsächlich: Ich achte besonders auf die Mischung der Perspektiven auf die Filme bei der Zusammenstellung der Jury. Deshalb könnte mir zum Beispiel in Zukunft auch einen Musiker oder einen Literaten in der Jury vorstellen. Filme treffen und berühren emotional – und das ist ja bei vielen Werken in den verschiedensten Kunstrichtungen der Fall.