2009 | Berlinale Shorts

Normale Filme oder neulich im Fahrstuhl

Wir sind in den Sichtungen mit meinem Kollegen Egbert Hörmann. Kommen gerade aus dem Café und wollen gleich weiter Filme schauen. Fahren mit dem Fahrstuhl hoch. Mit uns zwei Kollegen, die man nur vom Sehen kennt. Sie haben unter dem Arme einen Stapel an Filmen. Ich frage, weil ich auf der Suche nach einem Film bin: ‚Sind das kurze Filme?’ Merkwürdiger Blick, dann: ‚Nein, das sind normale Filme.’ Ich muss lächeln. Egbert Hörmann auch.

In diesem Sinne, ich bin froh über die unnormalen Filme und die Möglichkeit, ihnen auf der Berlinale einen Ort zum Gesehenwerden und Raum zum Gespräch zu geben.“

Ein Gespräch mit der Kuratorin Maike Mia Höhne über das Programm der Berlinale Shorts 2009.

Leila Albayaty in ihrem Film VU

Eine ganze Reihe von Kurzfilmen wartet mit filmhistorischen Verweisen und formalen Bezugnahmen auf. Artikuliert sich darin einfach eine verbreitete Lust am Zitat oder steckt etwas anderes dahinter?

Solche Referenzen lassen sich tatsächlich in mehreren Filmen ausmachen, zum Beispiel in dem russischen Devyat prolyotov vmeste von Alexander Karavayev, der auf wunderbare Weise auf die Nouvelle Vague anspielt und gegen Ende zu einer Hommage an Gus van Sant wird. Auch der belgische Beitrag VU schafft eindeutige Bezüge zur Nouvelle Vague und zum europäischen Kino der 60er und 70er Jahre. Ich denke, das Kino mit seiner ganzen Geschichte spielt eine wichtige Rolle im Leben und Schaffen dieser Filmemacher und das bringen sie in ihren Werken deutlich zum Ausdruck. Natürlich geht es aber ebenso darum, seine eigene Stimme in den Filmen zu finden, einen eigenen Stil zu entwickeln. Leila Albayaty gelingt das in VU am ehesten über die Musical-Sequenzen. Sie ist übrigens selbst Sängerin und wird im Anschluss an unsere Preisverleihung ein Konzert in der Homebase geben.

Sébastien Koeppel, der Kameramann von VU, ist erfreulicherweise gleich noch ein zweites Mal bei den Shorts vertreten, mit 26.4 von Nathalie André. Dort etabliert er noch deutlicher eine ganz eigene und wirklich beeindruckende Form der Kameraarbeit und Bildsprache, die man übrigens auch in dem dritten belgischen Beitrag, Kaïn, wieder findet, und in der es unmittelbar um Körper und das Körperliche geht. In 26.4 wird dies virtuos auf den Punkt gebracht, etwa in der Szene, in der eine Frau in Motorradkluft in einem Brombeerfeld nach ihrem Telefon sucht. Der Schnitt, die Bilder, die Montage werden hier eins, zu einer Bewegung, die Kamera wird quasi selbst Körper, das ist wirklich sehenswert.

In Kaïn wird dieser Fokus auf den Körper ja noch durch die Schwerstarbeit unterstützt, die der Protagonist zu verrichten hat.

Kaïn vermittelt eine unglaubliche Energie. Der Film – übrigens ein Debütfilm – hat mich nach der Sichtung wirklich noch lange beschäftigt und genau das will ich im Kino sehen. Wenn schon jemand im Film umgebracht werden muss und Leben verschwendet wird, dann doch bitte nicht einfach als Effekthascherei oder beiläufige, vermeintlich coole Handlung, sondern dann möchte ich auch sehen, welche Auswirkungen das Töten und die Schuld haben. Kaïn schafft genau das mitten in einer sattgrünen Wald- und Wiesenlandschaft und bedient mit diesem Setting ein mehrmals auftauchendes Motiv: Die Natur und das Draußen-Sein.

Lisa Da Boit in 26.4 von Nathalie André

Found Footage und die Sehnsucht nach Manifestation

Da gibt es also eine Kontinuität zum letztjährigen Programm, bei dem die Natur, das Nichtstädtische auch bereits einen Teil der Filme ausmachte?

Diese Tendenz besteht weiterhin. Auffälliger ist dieses Jahr jedoch der vermehrte Einsatz von Found Footage und zwar sowohl inszenatorisch eingesetzt wie in VU und Devyat prolyotov vmeste als auch kompiliert wie in Pure. Bei letzterem haben wir uns besonders über die spezielle Form des Umgangs mit dem Material gefreut.

Pure funktioniert ja fast wie ein Musikvideoclip.

Pure vermittelt sicherlich die meiste Gewalt des Festivals in der kürzesten Zeit und bringt damit etwas auf den Punkt. Indem Jacob Bricca die Actionszenen aus unzähligen Filmen zusammenmontiert, ohne dass einem die Masse bewusst wird, rückt er die erwähnte filmische Körperlichkeit noch einmal ganz anders in den Mittelpunkt. Etwas weiter gefasst könnte man sagen, dass nicht nur die Verwendung von Found Footage sich in diesem Jahr als Besonderheit herauskristallisiert hat, sondern vielleicht sogar eine gesteigerte Aufmerksamkeit für die Materialität von Film. Viele Einsendungen haben etwa ihr Videomaterial so bearbeitet, dass es filmische Gebrauchsspuren aufweist.

Aber die Zuschreibung von Materialität ist doch fast absurd, wenn es sich um digitale Videos handelt? Geht es da nicht eher darum, eine Sehnsucht zu formulieren?

Ja, genau das meine ich. In der Auseinandersetzung mit dem Material äußert sich eine große Sehnsucht, und zwar in gewissem Sinne nach existenzieller Rückversicherung, nach einem „Ich bin da!“-Erlebnis, für das merkwürdigerweise auch wieder die Frage der Glaubwürdigkeit einer Handlung relevant ist. Überhaupt lässt sich wieder verstärkt eine Hinwendung zum Erzählkino beobachten, im Zuge derer alte Fragen neu aufgeworfen werden: Was ist glaubwürdig? Was kann ich wie erzählen? Aber eben auch: Was brauche ich dafür? Denn das Material nachträglich zu bearbeiten, bedeutet ja gleichzeitig eine bestimmte Form der Sichtbarmachung.

Buenas Intenciones mit seiner starken narrativen Struktur wäre ein Beispiel für diese „Rückkehr“ des Erzählkinos?

Genau, aber auch dieser Film behält sich seine formale Eigenständigkeit, denn letztlich bringt erst die sich immer weiter steigernde Sequenzstruktur die Absurdität der Geschichte richtig zur Geltung.

Ich hatte den Eindruck, dass in vielen Filmen das Nichtfunktionieren zwischenmenschlicher Beziehungen ein zentrales Thema ist, zum Beispiel zwischen verschiedenen Generationen wie in Renovare oder in Birth.

Zwischenmenschliche Themen spielen immer wieder eine zentrale Rolle. Renovare führt einem im Grunde die Schwierigkeiten vor, die man von zuhause her selbst kennt, wiederholt das Ganze dann aber aus verschiedenen Perspektiven und verschiebt dabei den Fokus und den Ton, so dass das thematische Spektrum auf sehr intelligente und interessante Weise erweitert wird. Bei Birth ist der Konflikt dagegen an die Schwangerschaft der Hauptfigur gebunden. Die Regisseurin, Signe Baumane, war im letzten Jahr schon mit Teat Beat of Sex: Episodes 8,9,10,11 bei uns im Programm vertreten.

Genau wie David OReilly, der 2008 mit RGB XYZ zu Gast war. Dieses Jahr kommt er mit dem beeindruckenden Please say something zurück, in dem Zwischenmenschlichkeit noch einmal auf ganz andere Art zum Thema wird. Mit seinen erst 23 Jahren legt OReilly hier eine Beziehungsklaviatur vor, vor der ich nur den Hut ziehen kann. Besonders die visuelle Umsetzung und Gestaltung der verschiedenen Bildformen sind einfach umwerfend. Am 9.2. werden wir in Zusammenarbeit mit dem Forum Expanded eine Veranstaltung mit Michael Snow und ihm auf dem Talent Campus organisieren: Snow meets OReilly: Please say something. Das verspricht spannend und sehr interessant zu werden.

Signe Baumanes Birth

Ein Stück heraus, um näher zukommen

Einige Filme hatten für mich atmosphärisch regelrecht etwas Verstörendes an sich. Ich denke da an a Mango tree in the front yard, Jade, Havet, oder auch den experimentellen contre-jour. Wie schaffen es die Filme, den Zuschauer auf diese extreme Weise zu berühren? Worin liegt die besondere Qualität solcher Verstörungen?

Ich glaube, sie erreichen es über eine sehr sensible Inszenierung, sozusagen als genaue Untersuchung und nicht durch das Behaupten von großen Gesten.

Als eine Art empfindsames Abtasten und Ausleuchten von Situationen?

Ja, wobei das auf ganz unterschiedlichen Ebenen ablaufen kann. Bei Jade funktioniert es für mich neben der ausgewogenen Bildsprache in erster Linie über die schauspielerische Leistung der Hauptdarstellerin. Sie hat eine unglaubliche Ausstrahlung und wahrhafte Starqualitäten.

Havet lebt hingegen eher von der Inszenierung. Das spürt man zum Beispiel in der Szene auf dem Fest, in der das ältere Paar aufgrund der Sitzordnung getrennt am Tisch Platz nehmen muss. Als Zuschauer wird man ausgesprochen ungeduldig und denkt: „Wann tanzen sie denn nun endlich, das ist ja fast peinlich.“ Aber genau das Aushalten solcher Momente, ihnen eine gewisse Länge zu geben, die dem Leben durchaus entspricht, ist vielleicht das Geheimnis. Manchmal geht man eben ein Stück heraus, um letztlich näher heranzukommen.

Dieses ästhetische Zusammenspiel von Nähe und Distanz findet sich ja auch in a Mango tree in the front yard wieder, der aber als Film ganz anders funktioniert?

A Mango tree in the front yard ist eher ein essayistischer Film, so habe ich ihn jedenfalls genannt. Es ist nicht immer leicht, Begrifflichkeiten für diese Filme zu finden, denn Genrezuschreibungen oder die Einordnung als 'Fiktion' greifen als Merkmale einfach zu kurz. Zumal in diesem Festivaljahrgang die Übergänge wirklich fließend sind. Was ist Please say something bitte für ein Film? Klar, eine Animation, aber das ist als Beschreibung lange nicht ausreichend. Und obwohl in Mango trree die Figuren alle sinnbildlich für etwas stehen, werden sie gleichzeitig als authentische Menschen in diesem bedrückenden Film inszeniert. Und das mit ganz reduzierten Bildern, wirklich beeindruckend für einen Debütfilm.

Die Frage nach den Charakteristika des Kurzfilms stellt sich ja in jedem Jahr neu. Komik war einst ein wichtiges, ja fast konstituierendes Merkmal des Kurzfilms – und sei es nur als Pointe oder Clue am Filmende. Das diesjährige Programm scheint von ernsteren Tönen geprägt zu sein. Welchen Stellenwert nimmt Komik in der zeitgenössischen Kurzfilmlandschaft ein?

Das Lustige entwickelt sich in den Filmen eher allmählich, als dass sie es darauf anlegen, Witze zu erzählen. Kurze 5-Minüter mit Pointe sind selten geworden, zumal es generell eine Entwicklung zum längeren Kurzfilm gibt. Es geht heute vielmehr darum, einen eigenen Humor zu finden und diesen zu transportieren als einen konkreten Witz herüberzubringen. vostok' von Jan Andersen ist dafür ein wunderbares Beispiel, man muss in den Film erstmal reinkommen und sich auf ihn einlassen, damit er seinen ganzen Humor entfalten kann – aber dann lässt er einen nicht mehr los. Oder Die Leiden des Herrn Karpf. Der Geburtstag von Lola Randl und Rainer Egger, der auch eine ganz eigene Art von Humor hat.

Die Leiden des Herrn Karpf ist eine Serie, oder?

Ja, Der Geburtstag ist nach Morbus Bechterew und Der Besuch der dritte Teil. Lola Randl war letztes Jahr mit Die Besucherin in der Perspektive Deutsches Kino vertreten.

A Mango tree in the front yard

In einigen Filmen ist mir die Tongestaltung besonders aufgefallen. Gerade in Filmen mit wenig Text beziehungsweise Sprache sind Musik und Ton im Allgemeinen ja ein enorm wichtiges Gestaltungsmittel. Kann man den ausgewählten Filmen einen besonderen Umgang mit der auditiven Ebene attestieren?

Definitiv. Es gibt von bis. Von viel bis wenig. Oder gar nicht. Der indonesische Dokumentarfilm Musafir von BW Purba Negara kommt zum Beispiel komplett ohne Musik aus und entwickelt lediglich durch die wiederkehrenden Muezzinrufe aus den Moscheen ein Grundgerüst, innerhalb dessen viel mit zarten Geräuschen gearbeitet wird. Es ist insgesamt ein ganz leiser Film über ein obdachloses Pärchen, das sich mit dem Sammeln recyclebarer Materialien über Wasser hält und auf den Treppen einer Moschee lebt. Wirklich schön. Das obligatorische Drauflegen von Musik, um eine Emotion zu erzeugen, finde ich inzwischen oft sogar kontraproduktiv, weil es den Zuschauer häufig eher aus der Intensität der Filmsprache herausreißt. Und gerade in einem Kurzfilm ist diese Intensität des Filmerlebens für mich zwingend.