2009 | Generation

Identitätssuche im Ausnahmeformat

Als neues Leitungsteam zeichnen in diesem Jahr Maryanne Redpath und ihr Stellvertreter Florian Weghorn für die Filmauswahl der Kinder- und Jugendsektion Generation verantwortlich. Die Programme Kplus und 14plus weisen dabei sowohl neue Akzente als auch altbewährte Qualitäten auf, die nicht nur das junge Berlinale-Publikum gespannt erwarten darf.

Los Herederos von Eugenio Polgovsky läuft im Kplus-Programm

Ihr bildet seit diesem Jahr die neue Leitung von Generation, obwohl ihr schon lange mit am Ruder der Sektion sitzt. Was hat sich für euch verändert beziehungsweise was für Neuerungen bringt der Wechsel mit sich?

MR: Wir haben uns nicht explizit vorgenommen, Änderungen einzuführen, aber neue Konstellationen bringen ja immer ein paar Akzentuierungen mit sich. Neue Ideen, neue Atmosphäre, neue Themen. Viele Veränderungen ergeben sich außerdem automatisch mit den Filmen, die wir auswählen.

FW: Letztes Jahr haben wir zum Beispiel in 14plus mit der Programmierung von Dokumentarfilmen im Wettbewerb begonnen; und dieses Jahr setzt sich das mit Teenage Response in 14plus und mit Los herederos erstmals auch in Kplus fort. Eine Veränderung wie diese beginnt mit dem Glücksfall, dass man einen schönen Dokumentarfilm findet, an dem kein Weg vorbei führt. Und weil auch das Publikum begeistert reagiert hat, wird aus einer Idee im nächsten Jahr ein fester Bestandteil der Sektion.

Ein Interesse an realitätsnahen Stoffen gibt es ja schon seit Langem bei Euch und die verschiedensten – nicht immer einfachen - Themen wurden bisher ja auch sehr erfolgreich im Spielfilmformat verarbeitet. Wie kommt es zu dieser Aufwertung des dokumentarischen Erzählens im Kinder- und Jugendfilmbereich? Worin bestehen vielleicht Vorteile dieser Form gegenüber dem Spielfilm?

MR: Ich denke, man sollte das ein bisschen weiter fassen: Viele Filme, die bei uns laufen, haben von Grund auf dokumentarische Qualitäten, in diesem Jahr zum Beispiel der türkische Beitrag Mommo von Atalay Taşdiken oder Niloofar von Sabine El Gemayel. Rein formal betrachtet sind es zwar Spielfilme, aber die Darsteller – meist Laien – füllen ihre schauspielerischen Rollen nicht im herkömmlichen Sinn aus, sondern spielen zu einem guten Anteil sich selbst. Zusammen mit authentischen Schauplätzen verschafft das den Zuschauern quasi nebenbei vielsagende Eindrücke eines wirklichen Alltagslebens. Fiction und Non-fiction überlappen sich.

FW: Und andersherum ist es genauso, denn die Dokumentarfilme, die wir auswählen, besitzen immer auch eine kinematografische Kraft. Los herederos hat eine enorme Leinwandpräsenz, wodurch seine dokumentarischen Aspekte erst richtig zur Geltung kommen. Wenn wir die Ansprüche, die wir an Spielfilme stellen, auch auf Dokumentarfilme anwenden, landen wir bei Filmen, die ihre Aussage weit vielschichtiger vermitteln als konventionelle dokumentarische Formate, wie man sie vom Fernsehen gewöhnt ist.

MR: In dem Zusammenhang muss man unbedingt auch den georgischen Spielfilm The Other Bank erwähnen. Ein Junge, der einst mit seiner Mutter aus Abchasien geflüchtet ist, kehrt dorthin zurück, um seinen Vater zu suchen. Man sieht ihn auf einer Art Roadmovie durch Georgien mit vielen Stationen, die oft auch sehr gefährlich sind. Der Film entwickelt eine unglaubliche politische Aussagekraft, und das gerade, weil lebenswirkliche Hintergründe in poetischer Form inszeniert werden.

Armagan Ballantynes The Strength of Water

Gewohnte Sichtweisen und neue Perspektiven

Deutschland ist in diesem Jahr unter anderem mit Lars Büchels Literaturverfilmung Lippels Traum vertreten. Bei der Umsetzung anderer Projekte ist Deutschland als Koproduzent beteiligt. Die Verfilmung erfolgreicher Buchvorlagen galt ja lange als Garant und fast schon notwendige Voraussetzung für deutsche Kinderfilmprojekte. Wo steht der deutsche Kinderfilm heute?

FW: Die Buchvorlage ist in Deutschland zwar nicht unbedingt der Garant für einen Kinoerfolg, aber sie verbessert erfahrungsgemäß die Aussichten, ein größeres Publikum zu erreichen. Man kann vermuten, dass dieser Faktor auch der Verfilmung von Paul Maars Buch Lippels Traum, den wir als Eröffnungsfilm zeigen, zugute kommen wird. Aber nicht nur das, die Verfilmung durch Lars Büchel ist auch für sich genommen ein gelungenes Ausnahmewerk, weil sie eine ziemlich komplexe dramaturgische Struktur souverän entfaltet und die jungen Darsteller zusammen mit der hochkarätigen Besetzung um Moritz Bleibtreu und Anke Engelke noch dazu hervorragend mitmachen.

Deuten internationale Koproduktionen mit deutscher Beteiligung auf einen Trend hin?

FW: Die Stimme des Adlers von René Bo Hansen ist ein gutes Beispiel für das Interesse deutscher Produzenten, sich an internationalen Koproduktionen zu beteiligen und auf diesem Weg auch neue, unkonventionelle und in diesem Fall originäre Stoffe umzusetzen. Der Film ist eine deutsch-schwedische Koproduktion mit einem dänischen Regisseur und einer Geschichte, die in der Mongolei spielt. Die richtigen Leute zusammenzubringen ist extrem wichtig, die nationalen Grenzen werden dazu heutzutage immer öfter überschritten.

MR: The Strength of Water von Armagan Ballantyne ist eine deutsch-neuseeländische Kooperation - weiter entfernt geht’s fast nicht. Der Stoff ist tatsächlich sehr neuseeländisch, eine modern erzählte Maorigeschichte, tief in der Tradition verwurzelt. Co-Produzent Karl Baumgartner von der Pandora-Film ist ja bekannt für seinen guten Riecher bei authentischen Stoffen. Der Film empfehlen wir ab zwölf Jahren, und wir zeigen ihn auf Englisch mit deutschen Untertiteln, also ohne deutsche Einsprache. Das ist eine Neuerung in Kplus, mit der wir letztes Jahr begonnen haben. Es liegt uns am Herzen, dass die älteren Kinder Filme nicht nur im Original sehen, sondern auch im Original hören, so wie es fast auf der ganzen Welt üblich ist. Außerdem ist es eine gute Vorbereitung für 14plus und den Rest des Festivals, wo Filme ja dann mit englischen Untertiteln gezeigt werden.

Als ich zwölf war, wollte ich immer das sehen, was die 16-Jährigen sehen durften. Ist das heute auch noch so?

MR: Ja klar wollen sie das. Wir verbieten das auch nicht, aber wir sprechen ganz bewusst Altersempfehlungen aus. 14plus heißt also nicht ohne Grund 14plus, und die meisten unserer Zuschauer respektieren das auch. Die Empfehlung für eine höhere Altersgruppe muss nicht unbedingt nur mit den Inhalten der Filme zusammenhängen, sondern kann auch ganz praktische Ursachen haben, zum Beispiel schwer zu verstehende Akzente wie etwa im Schottischen oder Irischen.

FW: Wir empfehlen übrigens auch älteren 14plus-Zuschauern, in bestimmte Filme aus Kplus zu gehen, die deutsch eingesprochen oder untertitelt sind. Viele der jugendlichen Zuschauer interessieren sich für Kplus-Filme, selbst wenn die Protagonisten vielleicht manchmal ein paar Jahre jünger sind als sie selbst.

MR: Diese Fragen sind auch in thematischer Hinsicht spannend. In welchen Filmen finde ich mich wieder, wo ist mein Platz in der Welt? Ab wann ist man kein Kind mehr? Es gibt heutzutage viele Kinder, die sehr früh Verantwortung übernehmen müssen für sich selbst und ihre Umgebung.

Wang Jishuai in Lala's Gun

Die Suche nach dem Platz in der Welt

Die Suche nach der eigenen Identität ist ja im Grunde ein generationsübergreifendes Thema. Vielleicht im jungen Alter besonders stark ausgeprägt, aber auch für Erwachsene durchaus relevant. Oder seht ihr das anders?

FW: Thematisch gesehen hat die Identitätssuche absolut Konjunktur – und zwar in Filmen für alle Altersgruppen und auch quer durch alle Sektionen der Berlinale. Der jugendliche Konflikt eignet sich dramaturgisch wunderbar, um den Finger in die Wunden der Welt zu legen. Niemand kommt intensiver mit Problemen in Berührung als ein junger Mensch, der sich fundamental mit seinen Traditionen oder seiner Kultur auseinandersetzen und an ihnen reiben muss.

MR: Ein gutes Beispiel ist der chinesische Beitrag Lala’s Gun von Ning Jingwu. In der chinesischen Minderheit der Miao ist es Tradition, dass Jungen zur Initiation von ihrem Vater ein Gewehr bekommen. Unser Protagonist ist aber ohne seinen Vater aufgewachsen und macht sich nun auf die Suche nach ihm, um eine alte Tradition fortsetzen und für sich gewinnen zu können. Eine echte Coming-of-age-Geschichte, nur eben in einem exotischen Kulturkreis.

Und das interessiert dann nicht nur Jugendliche, sondern auch Erwachsene!

FW: Kino soll ein unterhaltsames Erlebnis für alle sein und nicht die Grammatikstunde der Identitätssuche für Zielgruppen. Trotzdem sind Stoffe, die einen Bezug zur Lebensrealität Jugendlicher haben, besonders intensiv und berührend für die ungefähr gleichaltrigen 14plus-Gänger. Und danach spüren wir natürlich auch ganz gezielt.

In mehreren Filmen bei Generation wird ganz explizit auf die – ebenfalls nicht immer einfachen – Lebensbedingungen und Probleme wohlsituierter westlicher Gesellschaften eingegangen, zum Beispiel Drogen in Afterschool und Cherrybomb oder Selbstmordgedanken in My Suicide. Bei dem wachsenden Armutsanteil vieler Gesellschaften weltweit könnte man ja eigentlich eher das Gegenteil vermuten. Oder bringt einen diese Form der Gegenüberstellung nicht weiter?

MR: Ich denke schon, dass man das so sagen kann, obgleich wir versuchen, die Unterteilung der Welt in Problemzonen zu vermeiden. Viele Jugendliche in westlichen Gesellschaften haben keine existentiellen Sorgen, ihre Probleme sind durch eine emotionale Armut bedingt – was nicht weniger schlimm ist. Häufig fehlen Traditionen und soziale wie gesellschaftliche Anknüpfungspunkte für das eigene Lebenskonzept. Das findet man in allen drei von dir genannten Filmen: Oberflächlich gesehen haben diese Jugendlichen nichts, wogegen sie rebellieren könnten oder müssten, trotzdem tun sie es. Natürlich fragen sie sich, warum sie so handeln, wie sie handeln.

Wählt Ihr Eure Filme mit dem Ziel aus, Diskussionen auszulösen?

FW: Wir wählen einfach die besten Filme aus, die wir bekommen können. Die thematischen und formalen Vorlieben unseres Publikums sind extrem unterschiedlich, und es erwächst jedes Jahr eine ernorme Energie daraus. Man kann also sicher sein, dass es wieder einige gute Diskussionen in den Kinos geben wird.

Afterschool von Antonio Campos

Klassische Themen in neuem Gewand

Haben die Jugendlichen heute ein gesteigertes Interesse an ungewöhnlichen medialen und filmischen Formen oder zumindest eine größere Offenheit dafür, als das bei früheren Generationen der Fall war? Wird auch dieses Jahr, wie letztes Jahr in Ben X, die Mediatisierung der Gesellschaft durch Computerspiele und Internet direkt in den Filmen aufgegriffen?

MR: Allerdings. In My Suicide von David Lee Miller kündigt ein junger Mann an, seinen eigenen Selbstmord als Video zu inszenieren. Die Sprache dieses Filmes ist multimedial im wahrsten Sinne des Wortes. Das geht von Internet-Clips über Aufnahmen von Überwachungskameras bis hin zu Found Footage aus anderen Filmen. All diese Medien sammelt der Protagonist bei sich zu Hause in einem Studio und montiert daraus seine Version der Welt. Ursprünglich ist dieser Film einmal sehr viral aus einem Jugendprojekt entstanden, das auch eine Website für suizidgefährdete Jugendliche betreibt.

FW: Man hört immer wieder: Jugendliche wollen nur Filme sehen, in denen keine Einstellung länger als ein paar Sekunden dauern darf. Zum einen stimmt das nicht, Afterschool darf mit seiner sehr eigenen, behutsamen Bildsprache das Gegenteil beweisen. Zum anderen reicht eine MTV- und You-Tube-Ästhetik alleine eben nicht aus, um einen guten Jugendfilm zu machen. My Suicide erforscht ein hochrelevantes Thema und erdet seinen multimedialen Bewusstseinsstrom mit einer ansonsten dramaturgisch ganz klassischen Dreiaktstruktur.

Sagen- und märchenhafte Stoffe kommen in Kplus auch zur Geltung, zum Beispiel in Brendan and the Secret of Kells oder Who is Afraid of the Wolf. Sind das Stoffe, die bei Generation immer wieder auftauchen? Welche besonderen Merkmale finden sich in den diesjährigen Umsetzungen?

MR: In die Geschichten dieser Filme sind traditionelle Märchenstoffe eingewoben, Rotkäppchen im Fall von Who is Afraid of the Wolf von Maria Procházková. Sie bieten aber auch viele andere Ebenen des Zugangs und der Auseinandersetzung. Eine 1:1-Adaption von traditionellen Märchen funktioniert meiner Meinung nach heute nicht mehr so gut wie früher.

FW: Gerade der Schulterschluss zwischen Gedankenwelt und Wirklichkeit macht diese Filme so stark. Who is Afraid of the Wolf behandelt die bevorstehende Trennung der Eltern, vor der die Tochter gedanklich in den Wald flüchtet. Die realen Ängste des Mädchens werden auf der psychologischen Ebene des Märchens sehr intensiv spürbar gemacht.

MR: In Brendan and the Secret of Kells von Tomm Moore und Nora Twomey erlebt eine irische Nationalsage aus dem Mittelalter ihre Wiedergeburt auf der Leinwand. Das „Book of Kells“, um das sich die Geschichte des Filmes rankt, ist alleine schon grafisch sehr beeindruckend. Im Film wurde daraus ein Kaleidoskop an vieldimensionalen Bildern, das einem die Tränen in die Augen treibt. Man erkennt in jedem Bild die Kunstfertigkeit und die Erfahrung der beteiligten Animationsfilmstudios. Wirklich einmalig und schlicht atemberaubend für Kinder und Erwachsene!