2021 | Wettbewerb

Filmische Formate neu gestalten

Trotz aller Unsicherheiten und Unwägbarkeiten des Coronajahres haben der Künstlerische Leiter Carlo Chatrian und der Leiter des Programms Mark Peranson eine facettenreiche, intensive Auswahl zusammengestellt, die tief in der Gegenwart verwurzelt ist. Im Interview sprechen sie über die Freiheit des Erzählens im aktuellen Kino, die Intimität der Bilder und eine veränderte Wahrnehmung in Zeiten des Virus.

Hassan Akil und Manal Issa in Memory Box von Joana Hadjithomas & Khalil Joreige

In Bezug auf die diesjährige Auswahl habt ihr von der Neugestaltung filmischer Formate auf Grundlage traditioneller Genres gesprochen, etwa dem Märchen oder Science-Fiction. Wie bedeutsam ist diese Rückbesinnung auf bewährte Erzählformen bei dem Versuch, etwas Neues zu wagen?

Carlo Chatrian: Etablierte Formate können eine Richtschnur sein, die es ermöglicht, freier und experimenteller zu sein. In den letzten Jahren haben sich viele Filmemacher*innen dazu entschlossen, das Genre als eine Art Leitlinie für sehr persönliche Geschichten zu nutzen. Teilweise sind das sehr strenge Genres wie der Krimi, teilweise offenere wie das Roadmovie. Dieser Rückgriff auf das Genre erfolgte, um es neu zu gestalten. In einem erweiterten Sinne könnte das auch die Antwort auf die Unsicherheiten sein, mit denen wir gegenwärtig konfrontiert sind. Andererseits glaube ich, dass es schwierig ist, die derzeitige Situation und die Lehren, die wir daraus ziehen können, jetzt schon zu theoretisieren, weil wir uns noch mittendrin befinden.

Ein Aspekt, der bei den ausgewählten Filmen besonders auffällt, ist die Verwendung von Bildarten, die man auf den ersten Blick nicht mit dem Kino in Verbindung bringen würde – Selfies aus sozialen Netzwerken und, wie im Fall von Babardeală cu bucluc sau porno balamuc (Bad Luck Banging or Loony Porn), sogar Bilder eines Pornofilms. Lässt sich ein ästhetischer Wandel im zeitgenössischen Kino erkennen?

CC: Nicht unbedingt. Ästhetiken bewegen und ändern sich ständig und werden immer von der Realität beeinflusst, in der wir leben – die Ästhetik sozialer Netzwerke zum Beispiel ist zu einem festen Bestandteil der Ausdrucksformen der meisten Menschen geworden. Selbst wenn Filmemacher*innen sich nicht bewusst mit ihren filmischen Mitteln auseinandersetzen, geben sie doch den allgemeinen Zustand wieder, in dem sie leben. Allerdings konnten wir in diesem Jahr beobachten, dass den Filmemacher*innen die Wahl ihrer filmischen Form sehr bewusst ist. Radu Jude verwendet zum Beispiel eine Untergliederung in drei Kapitel - wie einige andere Filme in der Auswahl auch. Babardeală cu bucluc sau porno balamuc ist ein Triptychon, das unterschiedliche visuelle Formen einsetzt, um ein Bild der heutigen rumänischen Gesellschaft zu zeichnen.

Paul Dunca / Paula Dunker, Nicoleta Lefter, Nicodim Ungureanu, Ana Ciontea, und Petra Nesvačilová in Babardeală cu bucluc sau porno balamuc (Bad Luck Banging or Loony Porn) von Radu Jude

Mark Peranson: Filmemacher*innen probieren „populärere“ Formen aus, die tagtäglich konsumiert werden, zum Beispiel Pornovideos. Die Menschen sind es gewohnt, sie auf dem Bildschirm zu sehen. Jetzt drängen diese Bilder auf die große Kinoleinwand. Das experimentelle Kino und selbst Hollywood integrieren sie allerdings schon seit Jahren, etwa in Desktop-Filmen wie Unknown User (Unfriended, 2014) von Levan Gabriadze oder Profile (2018) von Timur Bekmambetov, die komplett auf Computerbildschirmen stattfinden. Das Aufkommen der visuellen Filmkritik, die auch eine Art Desktop-Kino darstellt, ließe sich noch anfügen, um nur einige Beispiele zu nennen. Vielleicht hinkt der Kunstfilm da der Konkurrenz ein bisschen hinterher, statt ihr voraus zu sein, weil er auf eine bestimmte Art und Weise produziert und gefördert wird. Ich glaube, die Pandemie hat diesen Prozess der Integration beschleunigt: Babardeală cu bucluc sau porno balamuc wurde letztes Jahr gedreht und man sieht dem Film eindeutig an, dass er während der Pandemie entstanden ist, wenn auch nicht thematisch. Es ist offensichtlich, dass der Film anders ausgesehen hätte, wenn er vor drei Jahren gedreht worden wäre. Es ist so, als hätten die Filmemacher*innen beschlossen, sich nach etwas Neuem im Film umzusehen, weil – unter diesen Umständen – keine Regeln gelten.

2001, vor 20 Jahren, gewann Intimacy von Patrice Chéreau den Goldenen Bären und sorgte angesichts seiner damals als „explizit“ angesehenen Sexszenen für lebhafte Debatten – Szenen die, verglichen mit dem Anfang von Judes Film, ziemlich bieder erscheinen.

CC: Ich glaube nicht, dass Radu Judes Hauptaugenmerk auf der Darstellung von Sex liegt. Er beginnt mit einem populären Format, wie Mark sagt, und benutzt es als Anstoß, um sich mit etwas anderem zu beschäftigen: der Scheinheiligkeit, mit der die rumänische Gesellschaft tagtäglich umgehen muss, heute mehr denn je. Und außerdem geht es in dem Film um die Schwierigkeit, sich mit anderen zu verbinden. Das wird nicht nur dadurch deutlich, dass die Schauspieler*innen Masken tragen – sei es beim Sex, um ihre Identität zu verbergen, im öffentlichen Leben, um ihre Gesundheit zu schützen, oder einfach, weil es so vorgeschrieben ist. Jede Figur ist eine Insel und sie reden nicht wirklich miteinander. Alle verharren in ihrem eigenen Universum aus Vorurteilen. Für mich geht es in diesem Film daher nicht um Sex. Beim Sex geht es darum, dass sich Menschen einander sehr nahe sind. In Bardeală cu bucluc sau porno balamuc ist das komplette Gegenteil der Fall: jede*r ist isoliert.

MP: Aber in gewisser Weise gibt es eine Verbindung zu Intimacy. Im Grunde greift Radu Jude diesen intimen Moment auf und verwandelt ihn dadurch, dass jemand das Video ins Netz stellt, in einen gesellschaftlichen Akt. Auf diese Weise stellt er dem, was Intimacy vor 20 Jahren gemacht hat, etwas entgegen. Seit Ewigkeiten wurde Sex als sehr intime Handlung betrachtet und zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es keine zwangsläufig persönliche Angelegenheit mehr - oder zumindest nicht in jedem Fall. Wie Carlo sagt, steht jede*r am Ende individuell vereinzelt da, aber im Grunde reden alle über diesen intimen Akt, der üblicherweise privat bleiben würde. Aber weil die Welt, in der wir leben, so ist, wie sie ist, werden diese Dinge letztlich gesellschaftlich-öffentlich. In diesem Sinne ist der Film tatsächlich eine Gesellschaftskritik.

Daniel Brühl und Peter Kurth in Nebenan (Next Door) von Daniel Brühl

Bukarest scheint allerdings die eigentliche Hauptfigur des Films zu sein. Die Protagonistin streift endlos durch die Stadt, während die Kamera ihren Blick durch die Straßen schweifen lässt.

CC: Durchaus. Wir haben mehrere Filme in der Auswahl, in denen die Stadt regelrecht eine eigene Rolle übernimmt... Die Stadt kann aber auch an einem einzigen Ort kristallisieren, wie die Kneipe in Daniel Brühls Nebenan. Der Ort bekommt eine symbolische Rolle und wird dadurch seiner bloßen Hintergrundfunktion enthoben. In Alexandre Koberidzes Ras vkhedavt, rodesac cas vukurebt? (Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?) tritt die Stadt Kutaisi ebenfalls als Figur in Erscheinung. Je realistischer der Schauplatz ist, desto näher kommt er an die wirklichen Orte heran, die wir kennen, wodurch der filmische Raum etwas bietet, was es normalerweise im Spielfilm nicht gibt, weil dort alles künstlich erzeugt ist.

Das weist auf eine gewisse Vermischung von Dokumentarischem und Fiktionalem. Eine in dieser Hinsicht bemerkenswerte Konstellation findet sich in dem von dir schon erwähnten Nebenan, in dem der Regisseur Daniel Brühl sich selbst zu spielen scheint, oder zumindest sein eigenes öffentliches Image.

CC: Zweifellos ist die Hauptfigur des Films jemand, der Daniel Brühl sehr ähnelt. Jemand, der ein vergleichbares Leben führt – wohlhabend, anerkannt, berühmt. Dieses Format wird in Frankreich „autofiction“ genannt: man positioniert sich selbst in einer fiktionalisierten Umgebung. Der Film ist sehr verspielt. Was seine Echtheit ausmacht, für ein Gefühl des Dokumentarischen sorgt, ist tatsächlich der Ort: die Kneipe. Der Tresen, das Essen, die Holzbank... Andererseits ist das Drehbuch des Films bis ins kleinste Detail ausgearbeitet, und es lässt sich deutlich erkennen, wie die Dialoge die Handlung vorantreiben. So werden zwei Welten miteinander vermischt: das Gefühl von Realität an diesem Ort und der künstlichste Teil eines Films, weil er dem Verstand, dem Intellekt entstammt: die Dialoge.

MP: Man bekommt das Gefühl, wirklich Teil dessen zu sein, was die Figuren durchleben, weil der Film zum großen Teil nahezu in Echtzeit spielt. Dass der Eindruck eines Dokumentarfilms entsteht, liegt, denke ich, genau daran.

Juli Jakab in Rengeteg - mindenhol látlak (Forest - I See You Everywhere) von Bence Fliegauf

Una película de policías (A Cop Movie) von Alonso Ruizpalacios wirkt wie ein Beispiel der reinen Reflexion dieser Vermischung von dokumentarischen und fiktionalen Anteilen...

CC: Und genau wie Daniel Brühl nutzt er das äußerlich Dokumentarische für die Reflexion des Images eines Schauspielers. Una película de policías verdoppelt diesen Prozess sogar noch, indem der Film über das Bild von Schauspieler*innen reflektiert, die eine/n Polizeibeamt*in spielen – ein Bild, das vom Film geprägt ist, weil es eines der im Kino am meisten vertretenen ist. Mittels seiner künstlich konstruierten Struktur entlarvt der Film, wie dieses Polizist*innenbild vom Kino bestimmt wurde.

MP: Interessant ist, dass Ruizpalacios und die Produzen*innen darauf bestanden haben, dass der Film als Dokumentation bezeichnet wird. Sie haben also ein großes Interesse daran, neu zu definieren, was eine Dokumentation sein kann, denn sobald man den Film gesehen hat, versteht man, dass das Meiste daran – in einem traditionellen Sinne – keine Dokumentation ist. Sie wollen, dass die Zuschauer*innen selbst entscheiden, was genau ein Dokumentarfilm ist.

Hinzu kommt, dass der Film sehr unterhaltsam und die Verwendung der Voice-Over überragend ist; diese gewundene Erzählweise, die nahtlos zwischen Voice-Over und Dialogen hin- und her wandert und die Zuschauer*innen in immer neue Beziehungen von Nähe und Distanz zu den Figuren setzt. In Fabian oder Der Gang vor die Hunde tritt die Stimme des Regisseurs Dominik Graf als allwissender Erzähler auf. Sind diese unterschiedlichen Arten von Fokalisierung kennzeichnend für die Auswahl?

CC: Durchaus. Wir haben eine ganze Reihe von Filmen, die sich damit auseinandersetzen, wie wir uns inner- und außerhalb der Fiktion bewegen. Die Verwendung von Voice-Over in Una película de policías, die uns in die Erzählung hineinzieht und wieder herauswirft, ist dafür ein gutes Beispiel. In Ras vkhedavt, rodesac cas vukurebt? gibt es sogar einen noch präsenteren Erzähler im Off. Und auch Dominik Grafs Fabian positioniert die Betrachter*innen zum Teil innerhalb der Bilder und zum Teil außerhalb. Die raffinierteste Arbeit in dieser Hinsicht ist Rengeteg - mindenhol látlak (Forest - I See You Everywhere) von Bence Fliegauf, weil der Film ein ganzes Multiversum aus kleinen Geschichten inszeniert. Jede einzelne davon zieht uns in sich hinein, obwohl alle nur wenige Minuten dauern. Diese Art und Weise der Wahrnehmung erinnert daran, wie wir gesellschaftliche Wirklichkeit während des Lockdowns erleben, weil wir den halben Tag lang in einem kleinen Fenster eingesperrt sind und auf den Bildschirm starren. Wir sind mehr denn je daran gewöhnt, ständig innerhalb und außerhalb zu sein.

Dan Stevens in Ich bin dein Mensch (I'm Your Man) von Maria Schrader

Ich bin dein Mensch ließe sich anschließen. In Maria Schraders Film manifestiert sich ein bestimmtes Bild romantischen Begehrens in einem Roboter. Auch hier spielen wechselnde Beziehungen zwischen Nähe und Distanz eine zentrale Rolle. Kann die Figur des Roboters Tom als Metapher für das Kino an sich gesehen werden?

MP: So habe ich das noch nicht gesehen, aber in gewisser Hinsicht trifft das zu. Vielleicht kann man das sagen, weil wir es in Ich bin dein Mensch mit künstlicher Intelligenz zu tun haben, und sich das Kino, wie wir schon gesagt haben, neuen Formen immer wieder anpasst – in der gleichen Weise wie künstliche Intelligenz jedes Mal, wenn sie neue Informationen erhält, dazulernt und sich anpasst. Der Punkt ist auch interessant, weil wir mit der Frage nach dem Genre angefangen haben und Maria Schraders Film sich im Grunde eines sehr vertrauten Genres – der romantischen Komödie – bedient und sie nur ein ganz kleines bisschen verdreht, indem sie die Geschichte um eine nicht-menschliche Figur ergänzt. Der Roboter Tom und die Wissenschaftlerin Alma finden zusammen, trennen sich, finden wieder zusammen – und verlieben sich schließlich.

CC: Ich denke, es ist genau das Gegenteil: als das Kino erschaffen wurde, als jüngstes Ergebnis einer wirklich fortschrittsgläubigen Kultur, war es mit der Vorstellung verbunden, dass es selbständig funktionieren, Bilder auf völlig mechanische Weise einfangen könne, jenseits jeglicher menschlicher Eingriffe. In Ich bin dein Mensch gibt es eine künstliche Intelligenz, die menschlicher wird als der Mensch selbst.

MP: Das ist im Grunde die Moral der Geschichte: denn obwohl Tom ein Roboter ist, kann er genauso lernen, sich zu ändern, wie sie. Letztendlich begreift sie, dass auch sie sich ändern muss, damit sie sich auf Augenhöhe treffen können. Vielleicht müssen wir in 50 Jahren, wenn die Roboter das Kommando übernehmen, auf diesen Film zurückblicken und erkennen, dass sowohl die Menschen als auch die Roboter auf einen gemeinsamen Nenner kommen mussten.

Herr Bachmann und seine Klasse (Mr Bachmann and His Class) von Maria Speth

Wo wir gerade von nicht-menschlichen Akteuren, die die Welt beherrschen, reden: letztes Jahr war das Coronavirus allgegenwärtig. Hat das Virus auch eure Wahrnehmung von Filmen beeinflusst?

CC: Für mich war während des Sichtens eines Films die Präsenz des Virus am stärksten: beim Dokumentarfilm Herr Bachmann und seine Klasse. Denn unsere Vorstellung von Schule hat sich infolge von COVID-19 grundlegend verändert. Sie ist futuristisch geworden und dreht sich darum, dass Schüler*innen miteinander in Kontakt stehen, ohne gemeinsam in einem Raum zu sein. Sich den Film anzusehen ist eine sehr greifbare Erfahrung, man hat fast den Eindruck, dass die Bilder einen berühren. Außerdem realisiert man, nachdem man den Film gesehen hat, wie viele Einschränkungen wir in unserem täglichen Leben jetzt haben.

Gegenwärtig könnte der Film fast als Appell zur Wiederöffnung der Schulen verstanden werden, so wichtig, wie der Kontakt zwischen dem Lehrer und seinen Schüler*innen ist...

CC: Das stimmt, aber andererseits – weil wir so viel über das Dokumentarische und das Fiktionale gesprochen haben – ist dies eindeutig ein Dokumentarfilm, der genau diese Klasse zeigt, mit genau diesem Lehrer. Er steht nicht stellvertretend für alle Klassen und alle Lehrer*innen. Er ist sehr speziell, aber dennoch ein großartiges Beispiel und ein Vorbild dafür, was Schule in einer Gesellschaft sein kann.

MP: Aber der eigentliche Pandemie-Klassiker – obwohl er natürlich mehr als nur ein „Pandemiefilm“ ist – in der diesjährigen Auswahl ist Hygiène sociale (Sozialhygiene) von Denis Côtè, der in Encounters gezeigt wird, nicht im Wettbewerb. Wenn die Menschen die Welt mittels dieses Films verstehen, würde ich das sehr begrüßen. Auf inhaltlicher Ebene setzt er sich zwar nicht mit der Pandemie auseinander, aber auf der Ebene rein physischer Darstellung, der Positionierung von Körpern im Bild. Das ist es, was das Kino ausmacht. Ich bin sehr gespannt auf die Reaktionen der Zuschauer*innen. Außerdem ist der Film sehr komisch, und in Zeiten wie diesen muss man ein wenig Humor finden.