2017 | Forum

Die Politik der Form

Mit 43 Filmen im Hauptprogramm bietet das Forum 2017 eine filmische Weltreise. Im Interview spricht Sektionsleiter Christoph Terhechte über Strömungen im Programm, den Mythos revolutionärer Gewalt und fast vergessene Schätze des marokkanischen und südkoreanischen Kinos.

Mzis qalaqi von Rati Oneli

In der Pressemitteilung kündigt ihr die große Bedeutung von Landschaften in diesem Jahr an. Wie gehen die Filme damit um?

In sehr vielen Filmen spielt die Landschaft eine Hauptrolle. Im georgischen Film Mzis qalaqi (City of the Sun) von Rati Oneli zum Beispiel ein Gebiet, in dem zu Sowjetzeiten Erz abgebaut wurde. Heute liegt es brach, die Industrieanlagen sind Ruinen. Die Menschen führen trotzdem ihr Leben in dieser Leere. Die Landschaft ist so atemberaubend, dass sich die Geschichte nicht von ihrem Hintergrund trennen lässt. Heinz Emigholz stellt in seinem Zyklus „Streetscapes“ die Architektur in den Mittelpunkt, er betreibt schon seit langem gewissermaßen die Emanzipation des filmischen Hintergrundes vom Vordergrund. Im brasilianischen Rifle von Davi Pretto verteidigt eine einzelne Person seine Scholle in den unermesslichen Weiten des Landes. Tatsächliche Bedrohung und Paranoia gehen Hand in Hand und führen zu immer stärkeren irrationalen Handlungen – beeinflusst von der Landschaft, deren Stimmung sich auf die Figur überträgt. El mar la mar ist durch die Wahl des Ortes ein hochpolitischer Film, auch wenn er an keiner Stelle eine explizite politische Aussage trifft. Er macht die Sonora-Wüste an der amerikanisch-mexikanischen Grenze ganz subtil erfahrbar - eine gespenstische, eine tödliche Landschaft.

In Loktak Lairembee (Lady of the Lake) kann der Zuschauer in den Nordosten Indiens reisen, Río Verde. El tiempo de los Yakurunas (Green River. The Time of the Yakurunas) zeigt einen sehr abgelegenen Ort …

Loktak Lairembee erzählt von Fischern, die auf schwimmenden Inseln aus Biomasse leben. Aus Machtinteresse werden sie vertrieben. Eine wahre Geschichte. Die Armee hat ihre Hütten abgebrannt, aber die Fischer leben noch immer dort. Ihre ganze Mentalität ist von der sehr fragilen Existenz auf dem Wasser bestimmt und sie haben Angst, dass sich das Pogrom wiederholen könnte. Río Verde ist ein Film, der unbedingt in diese Reihe passt. Er zeigt ein gefährdetes Amazonasgebiet in Peru. Die indigenen Bewohner leben komplett autark und treten kaum in Kontakt mit der „Zivilisation“. Ein faszinierendes Porträt einer für uns unwirklichen Existenzweise.

Barrage von Laura Schroeder

Raum und Zeit

Den Titel „The Time of the Yakurunas“ empfinde ich als treffend für einen großen Teil des diesjährigen Programms. Mit den Landschaften scheinen viele Filme immer auch das Zeitempfinden der Orte und ihrer Bewohner aufzunehmen…

Das Kino verändert das individuelle Zeitempfinden auf unterschiedlichste Weise. Ein gutes Beispiel ist der fast fünfstündige Qiu (Inmates) von Ma Li, der eine Psychiatrie im Norden Chinas dokumentiert. Indem der Film Menschen zeigt, die diese Institution wahrscheinlich nie wieder verlassen werden, evoziert er eine ganze Ewigkeit, in der das Ungeheure zur Normalität geworden ist. Die Präsenz der Menschen hat keinerlei Einfluss auf den Ort. Jedes Zimmer sieht gleich aus, alle tragen die gleichen Klamotten. Niemand darf seine Umgebung umgestalten und eine Spur seiner Existenz hinterlassen. Das Vergehen der Zeit existiert im Klinik-Alltag nicht mehr.

Welches Gewicht liegt in den Spielfilmen auf dem Alltag?

Viele Spielfilme gehen ganz handfest von der menschlichen Existenz aus – der Familie, den kleinen Einheiten, mit denen wir jeden Tag konfrontiert werden. Laura Schroeders Barrage zeigt drei Generationen von Frauen. Die mittlere Generation ist ausgebrochen, hat ihr Kind bei der Großmutter gelassen. Als sie zurückkehrt, muss sie sich sowohl als Tochter als auch als Mutter neu finden und erkennen, wie sie zu der geworden ist, die sie jetzt ist. Der Film ist mit Isabelle Huppert als Mutter und Lolita Chammah als Tochter besetzt. Chammah spielt auch die Hauptrolle in Drôles d'oiseaux (Strange Birds) von Elise Girard. Girard erzählt eine realistische Geschichte, die ins Phantastische drängt. Genau wie Adiós entusiasmo (So Long Enthusiasm) von Vladimir Durán, der dem Zuschauer für einen Moment eine „normale Familie“ vorgaukelt, ehe es zur Gewissheit wird, dass an diesem Ort etwas Grundlegendes nicht stimmt.

Die Mutter der Familie verbringt ihr Leben eingeschlossen in einem kleinen Zimmer. Gibt es dafür Gründe?

Viele der Filme in unserem Programm sperren sich gegen einfache Erklärungen und eröffnen dadurch einen ganz anderen Blick auf die Wirklichkeit, jenseits der aristotelischen Dramentheorie und dem Ausweg durch eine Katharsis. Die Kunst hat die Freiheit, dieses Korsett zu ignorieren, um die Möglichkeiten des Erzählens jenseits der Eindeutigkeiten auszuloten. Nicht jeder Film muss ein psychologisierender Dreiakter sein.

Cuatreros von Albertina Carri

Die Mythologisierung der revolutionären Gewalt

Was sind die hervorstechendsten dokumentarischen Formen in diesem Jahr?

Auffällig ist zunächst, dass für mehrere Filme die Langzeitbeobachtung als Form gewählt wurde, um bestimmte Arten des Erlebens zu ermöglichen. El mar la mar zielt intensiv auf das Sensorische, den Effekt des Betrachtens, und macht den Gegenstand dadurch sinnlich erfahrbar. Aus einem Jahr der Nichtereignisse von Ann Carolin Renninger und René Frölke gibt sich trügerisch schlicht, der Titel lässt die Ironisierung der eigenen Herangehensweise schon erkennen. Zugleich setzt der Film eine existierende Realität in Szene, im Leben vieler Menschen passiert einfach nicht allzu viel – und erst Recht nicht, wenn es sich um einen 90-jährigen Mann auf einem Bauernhof in Schleswig-Holstein handelt.

Es gibt verschiedenste Formen des Essays im Programm zu entdecken. Albertina Carri verwendet in Cuatreros (Rustlers) sehr disparates, vorgefundenes Filmmaterial, um ihre eigene Geschichte und gleichzeitig die ihres Landes zu erzählen. Sie zeigt eine Zeit des Aufbegehrens in Argentinien, vor der Niederschlagung allen Widerstandes durch die Militärdiktatur. Die Arbeit war ursprünglich eine bis zu fünf audiovisuelle Kanäle umfassende Installation, die Filmversion ist immer noch sehr reichhaltig an Bildern, die intensiv von der Regisseurin kommentiert werden. Man muss den Film mehrmals sehen, um alles mitzubekommen.

Spell Reel von Filipa César

Durch die vielen Split-Screens ist Cuatreros visuell sehr außergewöhnlich. Trifft das auch auf sein Thema zu?

Der Film findet Resonanzen mit mindestens drei anderen Filmen im Programm. Alle setzen sich mit revolutionärer Gewalt auseinander. In Mary Jirmanus Sabas Shu'our akbar min el hob (A Feeling Greater Than Love) geht es um die Streiks in libanesischen Tabakfabriken Anfang der 1970er Jahren, die im Verbund von Fabrikbesitzern und Staatsmacht gewaltsam niedergeschlagen wurden. Der Forum-Expanded-Film Off Frame aka Revolution until Victory von Mohanad Yaqubi zeigt in Archivbildern die PLO-Kämpfer, deren militärische Posen nicht zuletzt der Selbstvergewisserung dienen. Die PLO besaß eine Film-Unit, die vor allem die Aufgabe hatte, eine palästinensische Identität zu erschaffen. So wurde der revolutionäre Mythos aus Bildern entwickelt. Die Mythologisierung ist eines der Hauptthemen in diesen Filmen.

So auch in Spell Reel, der im Rahmen des „Living-Archive“-Projektes hier in Berlin entstanden ist. Filipa César arbeitet mit dem Material, das entstanden ist, um zunächst den Unabhängigkeitskampf gegen die Kolonialherrschaft und dann den Aufbau des sozialistischen Staates in Guinea-Bissau zu dokumentieren. Wie die anderen Filme ist Spell Reel auch eine Dokumentation des Willens zur eignen Positionierung mit filmischen Mitteln - und zudem eine Befragung von Archiven, die nie vollständig sind, deren Material mit der Zeit gelitten hat und die viele Fragen offen lassen.

Lassen sich die Landschaften in El mar la mar und Tinselwood von Marie Voignier auch als Archive lesen?

Ein interessanter Vergleich! Ich würde sagen ja. Beide Filme begeben sich in unzugänglichen Gegenden auf Spurensuche. El mar la mar im Süden der USA, Tinselwood im Osten Kameruns. Der Film findet dort die Hinterlassenschaften der deutschen Kolonialgeschichte. Er handelt unter anderem von den Mythen, die sich um Schätze ranken, die die Kolonialherren angeblich hinterlassen haben. Er stellt die – zum Teil haarsträubenden - Geschichten der Bewohner dieses Landstrichs ins Zentrum.

Sitta wa Thaniat 'Ashar von Ahmed Bouanani

Marokkanische und südkoreanische Filmgeschichte

Wie kam es zu dem Schwerpunkt zum marokkanischen Kino, den Ihr 2017 im Programm habt?

Ich bin im Sommer 2016 nach Rabat gefahren und bekam die Erlaubnis, im Centre Cinématographique Marocain (CCM) alte Videobänder zu sichten. Dort bin ich auf die Filme von Mohamed Afifi, Ahmed Bouanani und anderen gestoßen und war komplett fasziniert. Die Namen der meisten Regisseure waren mir unbekannt. Dann erfuhr ich, dass Ali Essafi, der letztes Jahr als DAAD-Stipendiat hier in Berlin war, seit Jahren an einem Film über Bouanani arbeitet. Vor dessen Tod hat er lange Interviews mit ihm geführt, die beiden haben sich angefreundet. Als ich Ali in Berlin traf und ihm erzählte, dass ich die Filme gesehen habe und mir vorstellen kann, ein Programm zusammenzustellen, versprach er begeistert seinen Film über Bouanani fertigzustellen - Obour al bab assabea (Crossing the Seventh Gate) ist 2017 im Forum-Programm zu sehen, und Ali hat mich mit Rat und Tat unterstützt bei der Zusammenstellung des Programms „Autour de Bouanani – Another Moroccan Cinema“.

Ihr zeigt Wochenschaufilme, die Bouanani für das CCM produziert hat. In der Beschreibung eines dieser Film - Sitta wa Thaniat 'Ashar (Six et douze) heißt es „eine Studie des Lichts in Casablanca zwischen 6 und 12 Uhr“. Das klingt mehr als ungewöhnlich…

Afifi und Bouanani haben es tatsächlich geschafft, sich in dieser Form künstlerisch zu verwirklichen und die Wochenschauen auf ein bis dato unbekanntes ästhetisches Niveau zu heben. Sie haben die Grenzen ausgetestet, auch wenn sie dafür keine Begeisterung geerntet haben. Bouanani hatte eine Zeit lang beim CCM Regieverbot und galt als reiner Schnittmeister. Trotzdem hat er aus der Montage heraus eigene Filme realisiert. Er hat Zeit seines Lebens gegen alle Widerstände gekämpft für seine künstlerische Vision, für ein anderes maghrebinisches Kino. Bouanani ist einer der Begründer des marokkanischen Kinos, vorher gab es keine nennenswerte Kinematografie dort.

Choehuui jeung-in von Lee Doo-yong

Mit zwei Filmen werft Ihr einen Blick in die Filmgeschichte Südkoreas…

Beide hochinteressante Meilensteine der koreanischen Filmgeschichte, die sich intensiv mit der Realität ihres Landes beschäftigen. Lee Doo-yongs Choehuui jeung-in (The Last Witness) von 1980 führt 30 Jahre zurück in die Geschichte des Koreakriegs und findet die Wurzeln eines Komplotts. Die Hauptfigur ist ein unkonventioneller Polizeiinspektor, dessen Methoden mitunter zu weit gehen. Genau wie Obaltan (Aimless Bullet) von Yu Hyun-mok wurde der Film stark zensiert, weil er der Sympathie mit Nordkorea verdächtigt wurde. Obaltan hat starke Anklänge an den Neorealismus, wie die Filme von Bouanani übrigens auch. 1960 war Südkorea ein extrem verarmtes Land, durch den Krieg stark geschwächt. Die Menschen litten Hunger. Der Film erzählt von einem Büroangestellten, der zwar einen festen Job hat, aber kaum davon leben kann. Seine Mutter ist kriegstraumatisiert und sagt immer nur „Lass uns gehen, lass uns gehen“ – was auch zu seinem letzten Satz im Film wird; damals wurde das als „Lass uns in den Norden gehen“ ausgelegt. Obaltan ist 1960 entstanden, Choehuui jeung-in 1980, das heißt der eine zu Beginn, der andere am Ende der Diktatur von Park Chung-hee, dem Vater der erst vorletzten Monat suspendierten Präsidentin Park Geun-hye. In den kurzen Momenten der Hoffnung auf einen demokratischen Umbruch sind die beiden Filme entstanden. Als Porträts einer zerrissenen Gesellschaft in einem willkürlich geteilten Land. Beide Filme erzählen die Realität des Landes mit den Mitteln des Genrekinos.