2011 | Perspektive Deutsches Kino

Perspektiven als Alternativen

Auch zum 10. Jubiläum der Perspektive Deutsches Kino präsentiert die Sektion mit 11 Filmen, die um den vom DFJW gestifteten Preis „Dialogue en perspective“ kämpfen, plus drei Gästen der Reihe ein vielfältiges Programm deutscher Nachwuchshoffnungen. Verantwortlich für die Zusammenstellung zeichnet erstmals Linda Söffker, die in den Jahren zuvor das Profil der Perspektive als Programm-Managerin in den Auswahlsichtungen bereits entscheidend mitgeprägt hat. Wird jetzt alles anders? Die neue Sektionsleiterin über ihre Auswahlkriterien, die erstaunliche Qualität der eingereichten und programmierten Filme und den deutlich erkennbaren Mut zu eigenständigen Haltungen.

Der Preis von Elke Hauck

Nach dem letztjährigen Festival hast Du die Leitung der Perspektive Deutsches Kino von Alfred Holighaus übernommen. Hast Du Dir vorgenommen, neue Akzente in der Programmgestaltung zu setzen?

Es wird keine 180-Grad-Wende geben. Die Zeit mit Alfred war natürlich prägend für mich. Wir haben über Jahre hinweg in gemeinsamer Abstimmung die Filme geschaut, besprochen und auf die endgültigen Entscheidungen hingewirkt.

An der Struktur des Programms ändert sich grundsätzlich nichts: Es wird weiter Nachwuchsfilme geben, das heißt ausschließlich Erst- und Zweitfilme, und es wird jeden Abend eine Premiere in der Perspektive stattfinden. Ich suche – und das war mit Alfred nicht anders – eine besondere Handschrift beim Nachwuchs. Junge Regisseure, von denen ich glaube, dass sie im zukünftigen deutschen Kino auffallen werden. Das heißt auch, dass ich bei der Auswahl auf Alternativen achte, also auf Perspektiven, die auch Alternativen zu herkömmlichen Sehweisen und -gewohnheiten bilden. Ich suche nach einem Formbewusstsein bei jungen Regisseuren und nach neuen, ungewöhnlichen Arten, sowohl dramaturgisch als auch visuell, Geschichten zu erzählen.

Kamakia - Die Helden der Insel

Experimente mit geschlossenen Geschichten und technischer Perfektion

Auf die Auswahlentscheidungen hat der Aspekt der Marktkompatibilität also nicht unbedingt Einfluss?

Das haben sie natürlich nicht und da bestehe ich auch drauf. Zum Beispiel haben wir dieses Jahr zum ersten Mal einen Film in der Reihe, in dem eine Puppe zum Protagonisten wird: Kamakia – Die Helden der Insel. Die Puppe namens Kosta Rapadopoulos reist auf die griechischen Inseln, um die sagenumwobenen und mittlerweile in die Jahre gekommenen Kamakia zu finden und zu porträtieren. Die Kamakia waren jene jungen griechischen Männer in den 1970er Jahren, die sich ganz den Bedürfnissen nordeuropäischer Frauen verschrieben hatten, welche nach Griechenland kamen, um dort ihren Adonis zu finden. Kosta Rapadopoulos besucht die Kamakia in ihrer Heimat, um zu sehen, was aus ihnen geworden ist. Der Regisseur Jasin Challah hat griechische Wurzeln und ist ein echter Comedian. In Köln ist er mit seiner Puppe schon ein kleiner Star, sie treten zusammen in Kneipen auf. In Kamakia – Die Helden der Insel wird der deutschgriechische Akzent bewusst ausgestellt. Die Kamakia würden sich mit Sicherheit nicht jedem öffnen und die Details über ihre Eroberungen einfach so ausplaudern. Aber der Puppe konnten sie ihre Prahlereien gut erzählen.

Auch abgesehen von seiner Mittellänge erfüllt der Film keine marktorientierten Erwartungen und es freut mich, dass man im Nachwuchsbereich solche Experimente finden kann, die trotzdem eine geschlossene, interessante Geschichte erzählen und in ihrer technischen Perfektion auf die große Leinwand gehören. In der jungen Generation sind alternative Perspektiven ja mitunter schwierig zu realisieren, weil die Filmemacher von der weiteren Finanzierung abhängig sind und oft froh sind, wenn sie Anforderungen an Sehgewohnheiten bedienen können, die ein großes Publikum erreichen. Bewährte Filmemacher haben es da sicher einfacher, auch für Abwege eine Finanzierung zu bekommen.

Wie sah es in diesem Jahr mit der Zahl und Qualität der Filmeinreichungen aus? Fielen einige Entscheidungen besonders schwer und hättet Ihr nach Möglichkeit gerne mehr Programmplätze zur Verfügung gehabt? Oder traf sich die Auswahl der Filme ganz gut mit dem vorgesehenen Umfang des Programms?

2011 ist ein äußerst starker Jahrgang mit einem sehr großen Angebot gewesen. Uns standen so viele qualitativ gute Filme zur Auswahl, wie ich es in den letzten Jahren selten erlebt habe: inhaltlich und ästhetisch auffällige Arbeiten, vor allem überzeugende lange Dokumentar- und Spielfilme fernab vom herkömmlichen Fernsehformat. Die drei Spielfilme in unserem Programm, ein ZDF-Kleines Fernsehspiel (Lollipop Monster), eine WDR-Ko-Produktion (Die Ausbildung) und eine SWR-Ko-Produktion (Der Preis), sind da herausragende Beispiele.

Selbstfindung und künstlerische Reife

Sind die Filmemacher noch in der Identitätsfindung oder haben sie schon eine individuell entwickelte Formsprache?

Es ist erstaunlich zu sehen, wie reif die Arbeiten sind. Für gewöhnlich gibt es im Nachwuchsbereich zwei Arten von Filmemachern: Die einen probieren sich aus und haben den Mut, sich erst noch zu finden. Und dann gibt es diejenigen, die genau wissen, was sie wollen. Da denke ich zum Beispiel an Die Ausbildung (R: Dirk Lütter) oder Utopia Ltd. (R: Sandra Trostel). Diese Reife liegt sicher auch in den Biografien der Regisseure begründet: Dirk Lütter und Sandra Trostel haben schon jahrelang als Kameramann bzw. als Cutterin beim Film gearbeitet, ehe sie jetzt ihre Debütfilme inszenierten. Sie kennen ihr Handwerk und wissen deshalb ganz genau, was sie zeigen wollen. Ein weiteres Beispiel ist Ziska Riemann mit ihrem Debüt Lollipop Monster. Sie hat bisher vor allem als Comic-Zeichnerin gearbeitet und diese Einflüsse bringt sie nun in das bewegte Bild, ohne dass Lollipop Monster wie ein verfilmter Comic wirkt. Sie nimmt sich des Mediums Film an und baut dann reduzierte Signale aus der Comic-Welt in den Film ein. Beispielsweise bleibt manchmal das Bild stehen und ein gezeichneter schwarzer Rabe fliegt durch die Szene – das hat eine außergewöhnliche Wirkung und erfüllt gleichzeitig eine narrative Funktion.

Kampf der Königinnen von Nicolas Steiner

Als Beispiel für einen Filmemacher, der sich mit Sicherheit noch ausprobiert, ließe sich Nicolas Steiner und seine Dokumentation Kampf der Königinnen anführen. Das ist einer der ungewöhnlichsten Filme, die wir jemals im Programm hatten. In Schwarzweiß gedreht thematisiert er ein traditionelles Ritual in den Schweizer Bergen: Dort gibt es mit den Eringer Kühen eine Kuhart mit Hörnern, die, wenn sie auf die Weide getrieben werden, Hierarchien auskämpfen. Die Schweizer haben das zu einem Spektakel für Touristen gemacht. Einmal im Jahr, am Muttertag, bekriegen sich die Kühe also in einer Arena. Kampf der Königinnen zeigt uns dieses Ereignis anhand einzelner Protagonisten, die von der Kamera begleitet werden. Diesen beobachtenden Stil bricht der Regisseur wenige Male mit inszenatorischen Momenten. Das große Finale der kämpfenden Kühe präsentiert er uns in Zeitlupe mit orchestraler Musik aus Kuhglocken, Alphörnern usw. Hier probiert sich der Filmemacher aus, und zwar in einem sehr positiven Sinne.

Wirkt sich diese Suche nach den passenden formalen Mitteln auch thematisch aus?

Auffällig ist, dass es nicht nur kleine persönliche Geschichten sind, die vor der eigenen Haustür spielen. In dem Sinne ist das diesjährige Programm auch ein Spiegel dafür, dass sich der deutsche Nachwuchs der Welt öffnet. Ein Projekt der HFF Potsdam hat die Studenten nach Südamerika geführt, zur 200-Jahr-Feier des Unabhängigkeitstages. Davon erzählt Dígame – Sag mir, der in Buenos Aires gedreht ist. Josephine Frydetzkis Film ist der Versuch anhand einer privaten Geschichte von diesem Kampf nach Freiheit zu erzählen – vom Willen zur Unabhängigkeit, obwohl man sich auch immer gebunden fühlt. Der Protagonist verlässt seine Familie und gibt seinen Laden auf, da vermittelt Dígame – Sag mir eine immense Sehnsucht nach Freiheit. Aber der Protagonist kann sich auch nicht vollständig lösen und treibt ziellos durch die Stadt. Die Figur ist wie ein Sinnbild dieses Unabhängigkeitstages.

Und Dirk Lütter versucht in Die Ausbildung gesellschaftliche Strukturen in den Blick zu bekommen. Er zeigt, wie es ist, wenn jemand in seinem Beruf, in der Arbeitswelt erst anfängt und welche Probleme sich daraus ergeben. Wie verhält man sich? Welche Unterschiede gibt es in Bezug auf den Chef, wie verhalte ich mich gegenüber einer älteren Kollegin, die ich gut leiden kann, und die Angst hat, ihren Job zu verlieren, wenn sie nicht ständig Überstunden macht? Also allgemein gefasst: Wie schafft man es, sich in der heutigen Arbeitswelt zu positionieren? Dirk Lütter fasst das in sehr klare Bilder, die wirklich die Strukturen greifbar machen. Inhalt und Form gehen da Hand in Hand und das zeugt von einer imponierenden Reife.

Paul Gratzik in Annekatrin Hendels Vaterlandsverräter

Techniken der Nahsicht

Auffällig ist, dass die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit in gleich zwei Filmen zum Thema gemacht wird, beide Male aus einer sehr persönlichen bzw. personenzentrierten Perspektive. Welche Ansätze wählen die Filmemacherinnen?

Beide Regisseurinnen, Elke Hauck und Annekathrin Hendel, sind in der DDR geboren und aufgewachsen. Ich denke, für diesen Blick zurück braucht man Abstand und Distanz, um das eigentlich Nahe wirklich sehen zu können. Man muss ein bisschen älter geworden sein, ein bestimmter Erfahrungsreichtum ist Voraussetzung. Der Preis von Elke Hauck ist in Rückblenden erzählt und inszeniert diese Bewegung des Erinnerns, wie es ist, wenn jemand, der nach der Wende in den Westen gegangen ist, sich jetzt mit seiner Vergangenheit konfrontiert sieht. Dabei fängt die Filmemacherin vor allem dieses Lebensgefühl von vor 20 Jahren ausgezeichnet ein.

Vaterlandsverräter von Annekathrin Hendel hingegen porträtiert als Dokumentarfilm den Dichter Paul Gratzik, der zu DDR-Zeiten sehr populär war. Heute lebt er zurückgezogen in einem einsamen Haus in Brandenburg und macht den Eindruck eines sehr verbitterten Mannes. Zunächst will er gar nichts erzählen, aber die Filmemacherin lockt seine Geschichte aus ihm heraus: Wie er das heute empfindet, dass er für die Stasi gearbeitet hat, warum er es getan hat und wie es war, die besten Freunde zu bespitzeln. Und er berichtet vom Bruch mit der Stasi, in deren Augen er dann ein Vaterlandsverräter war und die ihn schließlich selbst zum Opfer der Überwachung machte. Im Laufe des Films kommt man diesem Mann sehr nahe. Man verflucht ihn zwar, aber gleichzeitig spürt man Mitleid, und am Ende konnte ich sogar manche seiner Entscheidungen irgendwie nachvollziehen, was bei dem Thema wirklich ungewöhnlich ist.

In einigen Filmen tauchen politische Bezüge auf. In Utopia Ltd. etwa wird die Leistungsgesellschaft verhandelt, in der wir leben.

In Utopia Ltd. ist es vor allem die Werbe- und Marketinggesellschaft, in der wir leben. Die Regisseurin Sandra Trostel begleitet in ihrem Dokumentarfilm die junge Hamburger Punkband „1000 Robota“ auf ihrem Weg in die kommerzielle Musikwelt. Da geht es um Vermarktungsstrategien und die Frage nach dem Preis, den man zahlen muss, wenn man erfolgreich sein will. Wo bleibt man mit seinen Idealen als junger Mensch, wenn man nur seine Musik machen will, aber ins Kalkül jener passen muss, die einen vermarkten? In Utopia Ltd. ist die Plattenfirma froh, ein Label für die Band gefunden zu haben. Da spürt man, wie viel Anpassung es kostet, und es wird deutlich, wie viele Leute da mitreden bei den Dingen, die die Band zu Papier und zu Stimme bringt. Wie viel Enttäuschung dabei ist und wie viel Haltung dazu gehört, auch mal Nein zu sagen. Bei der Programmauswahl war es mir wichtig, dass sich die Filme und ihre Macher positionieren, dass sie eine Haltung haben und etwas mitteilen wollen.

Sandra Trostels Utopia Ltd.

Als Gast der Perspektive habe ich nun ganz zum Schluss, als eigentlich schon alle Plätze vergeben waren, noch einen Film zur Bürgerinitiative gegen Stuttgart 21 (Stuttgart 21 - Denk mal!) eingeladen. Der Film ist noch ein Work-in-progress, wird aber zur Berlinale fertig gestellt. Ich freue mich darüber, diesem Film auf dem Festival ein Forum bieten zu können und lade herzlich zur Diskussion ein.

Mit Romuald Karmakar konnte zur Berlinale 2011 abermals eine international renommierte Persönlichkeit aus der Filmwelt für den Juryvorsitz des Preises „Dialogue en perspective“ gewonnen werden …

Ich habe sehr darum gekämpft, jemanden für die Jurypräsidentschaft zu finden, der ein starkes Renommee besitzt und dabei auch einen ganz eigenen Blick. Die Filme von Romuald Karmakar sind ja eigentlich ein Genre für sich, er ist so autark und speziell in seinen Werken. Dabei bleibt er immer radikal gegen sich selbst und alle anderen. Er ist jemand, der junge Menschen – also die Mitglieder der Jury – motivieren kann, sich eine eigene Meinung zu bilden. Jeder soll sich erklären, streiten, einen eigenen Standpunkt finden und sich die Entscheidung über den Gewinnerfilm nicht leicht machen.