2010 | Perspektive Deutsches Kino

Zufall, der sein muss

Vor seinem letzten Festival als Sektionsleiter der Perspektive Deutsches Kino spricht Alfred Holighaus über eine humorvolle Ernsthaftigkeit im aktuellen deutschen Film, das Gespür der jungen Filmemacher für gelungene Mischverhältnisse sowie mutige und formal außergewöhnliche Dokumentarfilme. Außerdem zieht er ein positives Fazit seiner Festivalarbeit mit den und für die einheimischen Produktionen.

Renn, wenn du kannst von Dietrich Brüggemann

Sowohl im Eröffnungsfilm Renn, wenn Du kannst, als auch in dem zweiten Langspielfilm des Programms Cindy liebt mich nicht spielt die Liebe eine zentrale Rolle, noch dazu in beiden Fällen in einer Dreier-Konstellation. Lassen sich die Filme auch sonst vergleichen?

Das ist eher schwierig. Aber ich glaube, dass die Zahl Drei die magische Zahl des nächsten Jahrzehnts wird. In den 30ern hat Ernst Lubitsch einen Film gedreht, Design For Living, der handelt auch von einer Dreierkonstellation, was damals visionär war. Jetzt wird das Thema erneut aufgegriffen – und zwar gleich von mehreren deutschen Filmemachern. Tom Tykwer widmet dieser Konstellation in seinem nächsten Film Drei sogar den Titel. Es scheint eine neue Faszination an den Spielarten der Metrosexualität zu geben.

Über Renn, wenn Du kannst hast Du gesagt, hier sehe man, dass Drama auch anders geht. Was genau meinst Du damit?

Damit war weniger gemeint, dass hier eine lustige Geschichte erzählt wird. Wir sehen, wie ein junger Mann querschnittsgelähmt wird und damit umgehen muss. Dietrich Brüggemann hat in diesem Film mit sensiblem Gespür einen Ton getroffen, der sich nicht über dieses Trauma und die Behinderung lustig macht, aber dennoch humorvoll damit umgehen kann. Das funktioniert in erster Linie über die außergewöhnliche Hauptfigur, die neben ihrer Bitterkeit eine gewisse Selbstironie an den Tag legt. Daraus entsteht die bittersüße Note, für die auch die Kurzfilme und den Episodenfilm Neun Szenen des Regisseurs bekannt sind. Dort hat er übrigens auch schon mit seiner Schwester, der Schauspielerin Anna Brüggemann, zusammengearbeitet.

Cindy liebt mich nicht verhandelt ein ganz anderes Thema. Zwei Männer verlieben sich in dieselbe Frau. Nach deren Verschwinden sehen sie sich plötzlich gezwungen, sich zusammenzuraufen, um sie zu suchen – wobei die beiden unterschiedlicher nicht sein könnten. Die Geschichte basiert auf einem Roman von zwei renommierten „Spiegel“-Autoren Jochen-Martin Gutsch und Juan Moreno.

The boy who wouldn`t kill von Linus de Paoli

Reflexionen wider den bitteren Ernst

Wenn die „drei" mittellangen Filme Hollywood Drama, The Boy who wouldn’t kill und der Dokumentarfilm Glebs Film sich der Welt des Films und des Filmschaffens selbst annehmen, hat man sich das dann als kritische Auseinandersetzungen vorzustellen, die ihren Inhalt auch auf formaler Ebene reflektieren?

Dass auch hier die Zahl Drei auftaucht, ist – wie immer bei unserem Programm – ein Zufall, der sein muss. Gerade die thematischen Überschneidungen erscheinen uns interessant. Obwohl sie sich sehr voneinander unterscheiden, ist allen drei Filmen ihr guter Humor gemeinsam. Es bleiben sehr kritische Reflexionen, ohne bitterernst zu sein – beides geht hier wunderbar ineinander auf. Hollywood Drama wurde von dem Schauspieler Sergej Moya mit einer erstaunlich klaren Vision gemacht. Moya ist ja ein extrem junger Filmemacher, aber etablierte Schauspieler wie Clemens Schick waren begeistert von ihm als Regisseur.

Es werden durchaus auch wieder sehr existentielle Themen verhandelt wie etwa in Narben im Beton, in dem eine junge Mutter in Marzahn vergeblich versucht, ihre vierte Schwangerschaft zu verdrängen, oder in Lebendkontrolle, bei dem es um den sehnlichst erwarteten Freigang eines Inhaftierten geht. Was für einen Umgang finden die Filmemacher mit diesen Stoffen?

Die beiden Filme werden noch durch einen dritten ergänzt – Jessi von Mariejosephin Schneider - und alle drei sind wirklich angenehm überraschende Werke. Lebendkontrolle schafft es auf überzeugende Weise, trotz seiner sehr tragischen Geschichte einen wundervollen Humor zu etablieren. Jessi, ein junges Mädchen, lebt bei einer Pflegemutter, weil ihre eigene im Gefängnis sitzt. Der Gegensatz der beiden Hauptfiguren generiert eine sehr intensive Spannung. Auf der einen Seite steht die Pflegemutter, die sehr bemüht ist um das Mädchen, das sich aber seinerseits ganz auf seine Mutter fixiert und dies in seiner ganz eigenen Welt auslebt. Narben im Beton dagegen muss man schlichtweg aushalten. Jenseits von irgendwelcher spekulativen Darstellung wird hier sehr klar und einfach eine Geschichte erzählt, deren soziale Konstellationen dem Zuschauer wirklich einiges abverlangen. Die Regisseurin ist äußerst weit gegangen mit ihren Beobachtungen und hat einen sehr berührenden Film gemacht, der vor allem der Gefahr der Elendsgeilheit entgeht.

WAGs von Joachim Dollhopf und Evi Goldbrunner

Ein anderer Film hört sich eher nach der filmischen Verarbeitung einer Boulevard-Story an. Schaut WAGs von Joachim Dollhopf und Evi Goldbrunner hinter die Oberflächlichkeit dieser Klatschwelt?

Ja das tut er. Der Film erzählt nicht aus der boulevardesken Sicht, sondern konzentriert sich klar auf die Menschen. Im Fokus stehen zwei WAGs, also Frauen oder Freundinnen bekannter Fußballspieler, die sich durch ihr gemeinsames Schicksal zusammentun, eigentlich aber gar nicht miteinander können. Man kennt Spielerfrauen ja oft nur von Pressefotos oder dem Fernsehkamerablick in die Zuschauerränge, auf dem dann eine Aneinanderreihung von Blondinen zu sehen ist. Entgegen diesem Klischee ist man in WAGs ganz anders dabei, blickt nicht auf die Tribüne, sondern von der Tribüne. Der Film erzählt die Einsamkeit in diesem Luxusleben sehr genau – und das unterscheidet ihn von den Darstellungen der Boulevardmedien.

Clemens Schick spielt ja gleich in zwei Filmen mit, aber auch mit Anna Brüggemann, Robert Gwisdek, Jacob Matschenz oder Pit Bukowski gibt es wieder einige bereits bekannte Gesichter des jüngeren deutschen Films zu bewundern. Wie sieht es dieses Jahr mit vielversprechenden Neuentdeckungen in der Schauspielzunft aus?

Es gibt eine absolute Neuentdeckung: Peter Weiss, der neben Clemens Schick in Cindy liebt mich nicht spielt. Ich glaube, das ist seine erste Kinorolle, aber von ihm werden wir sicher noch hören. Er ist ein sehr wandlungsfähiger Schauspieler mit einem bewundernswerten Mut zum Anderssein.

Cindy liebt mich nicht von Hannah Schweier

Menschen jenseits der gängigen Klischees

Ist ein Film wie Frauenzimmer eher an den Figuren interessiert, die hier portraitiert werden und ihren Reflexionen oder wird der Fokus eher auf die Rahmenbedingungen gelegt, die ihre Lebenssituation als Prostituierte prägen?

Es geht vor allem darum, dass der gesellschaftliche Rahmen ihrer Lebenssituation als ganz normal dargestellt wird. Über die Erzählungen der Protagonistinnen und die Perspektive, aus der sie beobachtet werden, erlebt man ihr Leben in seiner ganzen Alltäglichkeit. Diese unaufgeregte Normalität im Umgang mit dem Thema ist der Gewinn des Films. Hier wird ein Blick etabliert, der diesen Frauen beim Leben zusieht, ohne spekulativ zu sein. Die Frauen erzählen, wie sie Beruf und Alltag zusammenbringen, wobei sich die filmische Perspektive ganz dem Schlüssellochblick entzieht. Der Beruf der Prostitution erzeugt ein Spannungsverhältnis, weil er auf der einen Seite normal ist, auf der anderen Seite aber ein anhaltendes gesellschaftliches Tabu bleibt.

Narben im Beton von Juliane Engelmann

Das lässt mich an den Film Portraits deutscher Alkoholiker von Carolin Schmitz denken – nicht nur, weil sich diese Menschen auf die Verfilmung ihrer intimen Lebensbereiche eingelassen haben. Er hört sich für mich wie ein äußerst mutiger Film an, weil er sich mit einem Phänomen auseinandersetzt, das normalerweise ignoriert oder verharmlost wird und im Film, wenn überhaupt, dann oft in klischeehafter Manier eine Verhandlung findet. Welche Perspektiven werden hier auf das Thema entwickelt?

Wunderbar, dass du diese beiden Filme einander gegenüberstellst. Sie sind vergleichbar trotz ihrer völlig unterschiedlichen Herangehensweise. Carolin Schmitz hat eine sehr spannende Form gefunden: Portraits deutscher Alkoholiker zeigt im Gegensatz zu Frauenzimmer keinen einzigen seiner Protagonisten physisch auf der Leinwand. Vier oder fünf Personen erzählen ihre gesamte „Trinkerkarriere“ von Anbeginn bis jetzt und berichten darüber so spannend, dass man gerne zuhört. Zu sehen bekommt man Bilder des Umfelds, in dem sich die entsprechenden Geschichten abspielen – ein Kinderzimmer, ein Keller, ein Computerladen – und wird auf diese Weise dazu gebracht, sich in die gezeigten Räume hineinzudenken. Dem Zuschauer wird so gleichsam die Freiheit eröffnet, seine eigenen Assoziationen mit den Angeboten des Films zu verschmelzen und auf einer anderen Ebene über das Gesehene und Gehörte nachzudenken. Über die sehr offen erzählten Werdegänge entstehen hier rein narrative Porträts der Personen. Die Umsetzung ist dabei nicht allein dem Willen der Protagonisten geschuldet, sich dem Blick der Zuschauer zu entziehen, sondern in erster Linie als formale Entschiedenheit der Filmemacherin zu verstehen. Das Nicht-Zeigen ermöglicht somit einen anderen Blick auf deren Beschreibungen. Das Spannende dabei – und das ist allen Geschichten gemeinsam: Wir befinden uns hier im gehobenen Bürgertum und nicht in irgendeinem klischeehaften Umfeld. Da ist ein Rechtsanwalt mit einer großen Kanzlei, der seine Leute nicht mehr im Griff hatte oder eine Krankenschwester, die Operationen vorbereitet… Schmitz jedenfalls hat zu einer neuen Dokumentarfilmform gefunden – übrigens auch eine der Neuentdeckungen, genauso Linus de Paoli mit The Boy who wouldn’t kill.

Lebendkontrolle von Florian Schewe

Alte und neue Ziele

Im Vergleich zu den ursprünglichen, programmatischen Zielen der Perspektive Deutsches Kino scheint der Experimentalfilm etwas verloren gegangen zu sein…?

Ja, vielleicht, aber da haben wir auch einfach weniger zu sehen bekommen. Dafür haben wir über die Jahre unser ursprünglich allein auf Langfilme ausgelegtes Profil dahingehend angepasst, dass wir vermehrt mittellange Filme ins Programm genommen haben. Das war quasi eine Reaktion auf die Beobachtung, dass viele Talente von den Filmhochschulen sich vorwiegend an diesem Format ausprobieren.

Für viele unerwartet wird 2010 Dein letztes Jahr als Leiter und Programmverantwortlicher der Perspektive Deutsches Kino sein, weil Du Dich neuen Aufgaben in der Geschäftsführung der Deutschen Filmakademie widmest. Suchst Du neue Herausforderungen, um den deutschen Film auf einer anderen Ebene zu unterstützen? Oder was waren Deine Beweggründe für die Umorientierung?

Es war ja keine aktive Umorientierung. Ich habe ein spannendes Angebot bekommen und weil ich jemand bin, der neue Aufgaben immer interessant findet, habe ich zugesagt. Der Impuls war nicht, die Berlinale verlassen zu wollen, sondern das neue Angebot und seine Herausforderungen anzunehmen. Ich dachte, wenn man mir das zutraut, trau’ ich mir das auch zu. Der Abschied von der Berlinale fällt mir also keineswegs leicht, die Hinwendung zu neuen Aufgaben dafür umso leichter

Der Abschied verlangt ja geradezu nach einem Resümee Deiner Zeit als Perspektive-Leiter. Haben sich die Ziele, die Du Dir gesetzt hast, erfüllt?

Schon, als es die Perspektive Deutsches Kino noch gar nicht gab, lautete die Devise für meinen Arbeitsplatz im Festival, den deutschen Film von seinem Katzentisch wegzuholen und ihn angemessen zu platzieren. Dazu haben wir die Perspektive eingeführt, und ich habe den Eindruck, dass ich diese Aufgabe für und mit Dieter Kosslick zusammen durchaus erfüllt habe. Unsere Ausgangsbehauptung, dass es eine Kontinuität im deutschen Film gibt, weil es sowohl die Talente, als auch die Geschichten gibt – diese These ist jedenfalls mit Nachdruck bewiesen.