2013 | Panorama

Von Erwartungen befreit

Das Panorama ist eine der vielseitigsten Sektionen der Berlinale. In diesem Jahr stechen wagemutige Filme aus Amerika, zahlreiche Regie-Debüts und Dokumentarfilme in einer Fülle an Stilen und Themen hervor. Im Interview beleuchtet Sektionsleiter Wieland Speck die Kontexte des diesjährigen Programms.

Amy Seimetz und Shane Carruth in Upstream Color von Shane Carruth

Ein erster Blick auf Euer diesjähriges Programm zeigt vor allem einen hohen Anteil des US-amerikanischen Kinos.

Die Amerikaner sind tatsächlich mit unglaublichen sechs Spielfilmen und sieben Dokumentarfilmen im Panorama-Programm. Das ist umso überraschender, als sie früher ein Standbein des Panoramas darstellten, in den letzten zehn Jahren aber deutlich schwächer vertreten waren. Aber nun scheint – auch global gesehen - ein guter Moment für wagemutigere Projekte gekommen zu sein. Upstream Color von Shane Carruth etwa ist ein fast experimenteller Film, der verrückte und unfassbare Fantasien verwirklicht. So etwas hat das amerikanische Kino lange nicht mehr gemacht. In der Bush-Zeit wurde relativ konservativ und opportunistisch gearbeitet, obwohl man vielleicht einen starken Gegenpol hätte erwarten können. In Deutschland waren die Filme der Kohl-Zeit auch ganz eher schwach – konservative Politik scheint leider übervorsichtige Filme zu ergeben.

Setzt Du das tatsächlich so direkt in Verbindung mit der Politik eines Landes?

Mit dem politischen Oberton, ja. Den jungen Menschen Angst zu machen, hat seine Auswirkungen. Die erste Generation, der man die Zukunft als Bedrohung verkauft hat, ist jetzt Mitte 30. Sie zeigte keine rebellische Reaktion, stattdessen wurden Schlips und Kragen neu erfunden. Meine Generation hat sich gefragt: Was ist mit denen los, warum setzen sie auf unseren Weg nicht noch eins drauf? Jetzt zeigen sie ein eigenes Selbstbewusstsein, das sich um meine Generation nicht schert. Arroganz ist eventuell notwendig in einer gewissen Lebensphase, um sich von bevormundenden Anforderungen zu befreien.

Scarlett Johansson und Joseph Gordon-Levitt in Don Jon’s Addiction von Joseph Gordon-Levitt

Selbstbewusste Arroganz, Ironie und Selbstkritik

Kannst du das an bestimmten Filmen konkretisieren?

La Piscina (Der Pool) von Carlos Machado Quintela erzählt in extrem langen Einstellungen von einem öffentlichen Schwimmbad. Es passiert sehr wenig. Wir sehen vier Behinderte und einen Coach. Ihr Umgang miteinander ist der ganze Film. Carlos Machado agiert mit unglaublicher kinematografischer Sicherheit. Der Film wirkt in keiner Sekunde prätentiös, sondern ist ein sehr gutes Beispiel für diese selbstbewusste Arroganz im positiven Sinne, gemessen an dem plotpoint-Diktat des herrschenden Professionalismus.

Das Hauptprogramm eröffnen wir mit dem georgischen Debüt Chemi Sabnis Naketsi. Der Regisseur Zaza Rusadze ist Mitte 30 und hat einen sehr feinfühligen und fantasievollen Film gemacht, der das Kinematografische am Medium betont und Figuren zeichnet, deren fantastische Welt gleichzeitig eine Miniatur des heutigen Georgien darstellt. Panorama Special startet mit Nanouk Leopolds Boven is het stil (Oben ist es still). Sie zeigt einen Mann in seinen 50ern, dessen Vater langsam stirbt. Offensichtlich gab es nie Liebe zwischen Vater und Sohn. Man hat den emotionalen Käfig vor Augen, in dem sich die Hauptfigur ein Leben lang bewegt hat – gestützt auch durch seine zahlreichen Verpflichtungen als Milchbauer. Der großartige Jeroen Willems ist in seiner letzten Rolle zu sehen, er ist im Dezember überraschend gestorben.

Die zweite Eröffnung im Friedrichstadt-Palast bestreitet dann ein amerikanischer Film. Jenseits der düsteren europäischen Seelensicht von Boven is het stil widmet er sich ganz dem Diesseits, der Online-Pornografie. Die Hauptfigur in Don Jon's Addiction – gespielt von Joseph Gordon-Levitt, der auch Regie geführt hat - holt sich den ganzen Tag vor dem Laptop einen runter. Gleichzeitig ist er aber der Frauenheld in der Disko. Er könnte ganz in der realen Welt leben, will aber nicht auf sein virtuelles Sexleben verzichten. Don Jon's Addiction zeigt mit sehr viel Ironie und Selbstkritik die heutige Konsum-Gesellschaft, die die Kindheit schnell vertreibt, die Jugendzeit extrem auszudehnen versucht. Das Erwachsenwerden verlagert sich in die frühen 30er. Der Film wird ein Publikumsrenner werden!

Die ständige Verfügbarkeit von Pornografie und die Falle, die damit einhergeht, wird auch in dem indonesischen Film Something in the way thematisiert, in dem ein Taxi-Fahrer gleichen Alters seine Sex-Sucht mit dem Gang in die Koranstunde konterkariert.

Sara Forestier und James Thierrée in Mes séances de lutte von Jacques Doillon

Sex scheint eines der beherrschenden Themen im diesjährigen Programm zu sein…

Das ist richtig. Lovelace von den Oscar-Gewinnern Rob Epstein und Jeffrey Friedman dreht sich auch um Sex: Sie zeigen das Leben von Linda Lovelace, deren Geschichte wir schon 2005 im Panorama hatten – damals mit dem Dokumentarfilm Inside Deep Throat. Ihre Biografie ist die Geschichte des ersten Bewegtbild-Porno-Superstars - bis dahin gab es nur Pin-ups. Ihr Leben ist durchaus typisch: Männer stellen Frauen auf einen Sockel, um sie damit zu erniedrigen. James Franco, der noch in zwei weiteren Filmen zu sehen ist, hat übrigens einen kurzen Auftritt als Hugh Hefner, den Playboy-Chef. Als Co-Regisseur und Kameramann spürt er übrigens in Interior. Leather Bar. den sexuell expliziten Szenen nach, die aus William Friedkins Cruising von 1980 herausgeschnitten worden waren.

Auch am nächsten Tag geht es um die sexuelle Sensation. Diesmal in der leidenschaftlichen Variante und interessanterweise jenseits der programmatischen Penetration. Mes séances de lutte von Jacques Doillon handelt von der erotischen Faszination zwischen zwei Nachbarn auf dem Land, die ihr Begehren füreinander wieder und wieder ausprobieren. Doillon feiert die Sexualität weder in den typischen, klischeehaften Bildern, noch enthält er sie uns vor.

Regie-Debüts mit filmischem Stil

Chemi Sabnis Naketsi, Don Jon’s Addiction und La Piscina sind drei von insgesamt elf Langfilm-Debüts im diesjährigen Programm. Linda Söffker, die Sektionsleiterin der Perspektive Deutsches Kino, hat in diesem Jahr als ungewöhnlich festgestellt, dass die Regisseure ihr unmittelbares, persönliches Umfeld verlassen und nicht nur Geschichten um Themen wie Familie und den engsten Freundeskreis behandeln. Inwiefern trifft das auch auf die Regiedebüts im Panorama zu?

Hier gibt es auch gute Beispiele dieser Entwicklung. Youth von Tom Shoval findet in Israel die gleiche Angst vor dem Absturz der Mittelklasse wie in Europa. Er zeigt eine Familie, in der der Vater arbeitslos ist und die Mutter nicht genug Geld verdient, um die Familie mit zwei fast erwachsenen Söhnen zu ernähren. Selbst die Wohnung kommt in Gefahr, in der die Kinder ein Leben lang gelebt haben. Der Verlust dieses Standards ist eine wahnsinnige Bedrohung für die Söhne. Sie beschließen ein Mädchen zu kidnappen und Lösegeld zu erpressen. Doch ihr Plan funktioniert nicht, weil die Eltern ihres Opfers weder antworten noch ihr Kind als vermisst melden. Die Entführer haben nicht damit gerechnet, dass orthodoxe Familien am Sabbat nicht ans Telefon gehen…

Jesús Padilla in Workers von José Luis Valle

Workers von José Luis Valle ist auch ein Erstling. Im kommunistischen Gedanken an die Macht über die Produktionsmittel erzählt er von zwei abhängigen Figuren im mexikanischen Tijuana. Der Mann ist seit Jahrzehnten Putzkraft in einem sehr sterilen Glühbirnenwerk. Er kann weder lesen noch schreiben. Er hat für die USA in Vietnam gekämpft – für eine Staatsbürgerschaft, die er nie erhalten hat. Am Tag, an dem er seine Rente antreten soll, stellt sich heraus, dass er als Illegaler keine Rente bekommt. Er darf aber weiter arbeiten… Die Frau ist die Bedienstete einer reichen Mexikanerin, die in einem Haus umgeben von Personal im Rollstuhl sitzt und ihren Windhund mit Kaviar füttert. Als diese stirbt und ihr gesamtes Vermögen dem Hund vermacht, dürfen die Angestellten weiter wie bisher funktionieren, wenn sie ihren Job behalten wollen. Das heißt, dass das Tier einmal am Tag mit dem riesigen Auto spazieren gefahren werden muss. Es frisst aus goldenen Näpfen und schläft auf Samtkissen. Es ist quasi eine Gnade, dass die Angestellten ihren guten Job, um den sie beneidet werden, für einen Hund weitermachen dürfen. Der Film erzählt seine Geschichte in sensationell langen Einstellungen, in denen es unendlich viel zu sehen gibt und beide Charaktere finden schließlich einen anarchistischen Twist ihre Würde zu bewahren.

Neben den Filmen aus Nordamerika sind die lateinamerikanischen Arbeiten auffällig stark und fallen durch einen selbstbewussten filmischen Stil auf. Das brasilianische Kino ist seit Jahren sehr stabil, aber auch Chile, Venezuela und Kolumbien holen auf. Und natürlich Argentinien, das immer wieder überrascht, Uruguay nicht zu vergessen.

Auch das koreanische Kino ist mit insgesamt drei Lang- und einem Kurzfilm vertreten. Was gibt es hier zu entdecken?

Mich freut sehr, dass sich auch das koreanische Kino immer wieder neu erfindet. In diesem Jahr erzählen die Filme Geschichten, die richtig wehtun. Baek Ya (White Night) zeigt die Rache eines brutal zusammengeschlagenen Schwulen, der sich mit seinem Trauma konfrontiert, indem er an den Ort der Tat zurückkehrt. In Kashi-ggot (Fatal) geht es um die eigene Schuld. Ein junger Mann trifft in einer christlichen Gemeinde auf eine junge Frau, an deren Vergewaltigung er Anteil hatte. Übrigens auch ein Debüt.

Nam Yeon-Woo, Hong Jeong-Ho, Kang Ki-Doong und Kim Hee-Sung in Kashi-ggot von Don-ku Lee

Ganz anders ist der dritte koreanische Film in unserem Programm. E J-yong, der zuletzt mit Yeobaewoodle (The Actresses) 2010 im Panorama war, präsentiert seinen neuen Film Behind the Camera: Ein schrulliger Regisseur erscheint nicht zu den eigenen Dreharbeiten, sondern führt die Regie über Skype. Das löst beim Team natürlich zunächst ein großes Durcheinander aus, die typischen koreanischen Hierarchien kommen ins Schleudern und es führt schließlich dazu, dass das Skype-Fenster immer kleiner geschoben wird, bis es ganz unten in der Ecke des Bildschirms hängt. Eine sehr moderne und sehr trocken-unterhaltsame Kontemplation über das Filmemachen zu Zeiten der allgemeinen Fernsteuerung durch handgehaltene Geräte...

Form- und Themenfülle bei den Dokumentarfilmen

Unter den Dokumentarfilmen sind in alter Tradition zahlreiche Künstler-Portraits…

Komischerweise ist das ein Klassiker, der sich eingeschlichen hat. Ich stehe dieser riesigen Anzahl an angebotenen Biopics sehr kritisch gegenüber, da sie meist nicht über eine rühmende Betrachtung hinausgehen. Im diesjährigen Programm finden sich deshalb nur absolute Wiederentdeckungen. Roland Klick zum Beispiel, der das deutsche Kino stark beeinflusst hat. Oder Paul Bowles - eine oft übersehene Figur der Beat-Generation.

Salma ist das motivierende Portrait der Selbstbefreiung einer tamilischen Dichterin. Die muslimischen Tamilen sperren ihre Mädchen mit der ersten Periode bis zur Hochzeit weg. Salma hat sich neun Jahre lang geweigert, eine arrangierte Ehe einzugehen. In der Zeit ihrer Gefangenschaft hat sie mit Hilfe ihrer Mutter Gedichte veröffentlicht und wurde durch ihre Berühmtheit schließlich zur Lokalpolitikerin. Eine großartige Frauen- und Befreiungsgeschichte.

Bei den Dokumentarfilmen findet sich insgesamt eine unglaubliche Fülle an Themen und fantastischen Stilen, was auf das im letzten Jahrzehnt stark gewachsene Interesse am Dokumentarfilm zurückzuführen ist.

Nikolas Philibert macht in La maison de la radio das Unsichtbare sichtbar. Er geht bei Radio France von Redaktion zu Redaktion, von Klassik und Hörspiel über Nachrichten und Klatsch bis zur Wunschsendung. Irrsinnig vergnüglich. Der Film ist ein herzerwärmendes Beispiel dafür, wie die Franzosen es verstehen, ihre Qualitäten zu feiern.

The Act of Killing von Joshua Oppenheimer

In The Act of Killing gibt der Regisseur seinen Protagonisten die Möglichkeit ihre Geschichte zu inszenieren…

The Act of Killing ist gewiss einer der härtesten Filme im Programm. Länder, die zum Teil bis in die 1970er Jahre Diktaturen waren, beginnen erst jetzt, sich langsam mit ihrer dunklen Geschichte zu beschäftigen - genau wie es in Deutschland Jahrzehnte gebraucht hat, um sich mit der Nazi-Zeit auseinanderzusetzen. In diesem Fall ist es Indonesien. Nach dem Militärputsch von 1965 wurden über eine Millionen vermeintliche Kommunisten umgebracht. Zwei dieser Mörder, die heute respektiert in der Gesellschaft leben, stehen im Mittelpunkt des Films und setzen nun ihre Gräueltaten groß in Szene. Da werden wirklich die Abgründe der menschlichen Seele ausgeleuchtet. Das Filmprojekt bringt sie schließlich dazu, ihre Taten zu reflektieren.

Ein weiterer wichtiger Dokumentarfilm ist Narco Cultura aus Mexiko. Es gibt eine ganze Popmusik-Kultur, die in der Hand der Drogenbosse ist und damit ihre Verbrechen verherrlichen. Mörder werden in der Musik zu Volkshelden stilisiert und in die Folklore des Landes eingeschrieben.