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Über Carole Lombard

Carlo Chatrian war von Juni 2019 bis März 2024 Künstlerischer Leiter der Berlinale. In seinen Texten nähert er sich dem Festival, herausragenden Filmschaffenden und dem Programm auf persönliche Art und Weise.

Carole Lombard wurde als Alice Jane Peters in Fort Wayne, Indiana, im amerikanischen „Rust Belt“ als Tochter wohlhabender Eltern geboren, zog jedoch bereits als Kind mit ihrer Mutter nach Los Angeles und ist Kalifornierin durch und durch. In Los Angeles gab sie schon in jungen Jahren ihr Kinodebüt unter der Regie von Filmregisseur Allan Dwann. Als 16-Jährige unterschrieb sie ihren ersten Vertrag, der zwei Jahre später allerdings nicht verlängert wurde. Fast zur gleichen Zeit drohte ein Autounfall ihrer Karriere ein Ende zu setzen. Sie behielt eine kaum sichtbare Narbe an der Wange zurück und entwickelte in der Zeit von Schmerz und Genesung neuen Elan.

Anders als Mae West und Rosalind Russell ist Carole Lombard mit dem Kino groß geworden: zuerst im Stummfilm in Mack Sennetts „Fun Factory“ und nach dem Aufkommen des Tonfilms als Vertragsschauspielerin bei Paramount Pictures. Ihre Lehrzeit bestritt sie als Praxisausbildung vor Ort in einem Hollywood, das sich in schwindelerregendem Tempo wandelte, Talente verschlang und mit verblüffender Leichtigkeit neue servierte. Die von ihrer Mutter schon früh zur Selbstständigkeit erzogene junge Frau dürfte eifrig bestrebt gewesen sein, zu verstehen, wie man sich in diesem Dschungel aus Liebesaffären und Immobilienspekulation behauptet. Sie hatte eine außergewöhnliche Gabe, sich einen festen Platz zu erobern, sowohl in ihrer Kommunikation als auch in Vertragsfragen: Von der Ehe mit dem deutlich älteren William Powell bis zur Beziehung mit Clark Gable schienen ihre Liebesgeschichten mit ihrer Karriere als mehr und mehr gefragter Schauspielerin und Jetset-Größe Hand in Hand zu gehen.

Mit Fred MacMurray in Hands Across the Table (Mitchell Leisen, USA 1935)

Carole Lombard und ihre Kolleginnen setzten sich in einem feindlichen, männlich dominierten Territorium durch. Dafür brauchten sie Talent und Entschlossenheit, aber auch das nötige kulturelle Rüstzeug und das richtige Temperament. Von alldem mag in den Filmen wenig zu spüren sein, aber zwischen den Szenen, in denen – zumindest in den frühen 1930er Jahren –Männerfiguren im Mittelpunkt stehen, wird nach und nach sichtbar, wie die Frauen die kleinen Freiräume, die ihnen zugestanden werden, mit ihren Fingernägeln und anderen Waffen verteidigen. Einer der Schlüssel zum Erfolg im Befreiungskampf gegen die „Wölfe“ von Hollywood war die Komik – und nicht die Verführung. Das Komische verschiebt das Mann-Frau-Verhältnis, hemmt den sexuellen Raubtierinstinkt und bringt Mann und Frau beinahe auf Augenhöhe.

Auf den vielen Werbefotos zeigt Carole Lombard die Gesichtszüge eine Engels: ein fein gezeichnetes Gesicht, zwei große, strahlende Augen, Augenbrauen wie Bleistiftstriche und ein schmaler Mund. Doch wie so häufig trügt der Schein. Hinter dem engelhaften Äußeren verbergen sich ein eiserner Wille und eine unvergleichliche Anpassungsfähigkeit – ähnlich wie in dem Film, durch den sie berühmt wurde: Twentieth Century (Howard Hawks, USA 1934) erzählt, wie aus der hilflosen Mildred Plotka der Star Lily Garland wird. Nachdem sie es an die Spitze geschafft hat, blickt sie nie wieder zurück. Ihre Bewegungen erinnern zwar mitunter noch an die Stummfilmzeit, in der die Frauen sich bewegten, um ihren Verehrern davon- oder entgegenzulaufen, aber in jeder einzelnen Szene lässt Lily Garland ihre Sehnsucht nach Unabhängigkeit deutlich werden.

Mit John Barrymore in Twentieth Century

Twentieth Century ist ein Film außer Rand und Band, in dem normale Menschen ebenso wenig vorkommen wie der Himmel. Überdrehte Dialoge, schlagfertige Wortwechsel und der konsequente Hang zur Pietätlosigkeit, der die Story schließlich ins Wahnwitzige führt, vermitteln das Bild eines Universums, dem der Mittelpunkt abhandengekommen ist – wenn es denn je einen hatte. Passend dazu sagt Garland in einem der seltenen innigen Momente zu Oscar Jaffe: „Wir sind nur zwischen den Vorhängen real.“

In Hawks‘ Film kommt noch ein anderer entscheidender Aspekt zum Tragen, der hilft, Carole Lombard zu verstehen: das Spielerische. In allen ihren Figuren vermittelt die Schauspielerin das Bewusstsein, dass das Leben nichts anderes ist als eine groß angelegte Theateraufführung und dass man, wenn man das Spiel ernsthaft spielt, keine Illusionen darüber machen sollte, welcher Raum den Gefühlen zugestanden wird. Diese beinahe melancholische Grundstimmung fand in der Screwball-Komödie ihren idealen Lebensraum. True Confession (Wesley Ruggles, USA 1937) ist ein Film über das Lügen, über Nonsens und Verstellung; in William Wellmans Nothing Sacred (USA 1937) ist Betrug das bestimmende Thema; sogar der Rolle des naiven Trotzkopfs Irene Bullock in der grandiosen Satire von Gregory la Cava My Man Godfrey (USA 1936) gibt Lombard eine bittersaure Note.

Mit Charles Halton und Jack Benny in To Be Or Not To Be

Und dann ist da noch die Rolle der Maria Tura in To Be Or Not To Be (Ernst Lubitsch, USA 1942), die wie die Quintessenz einer ganzen Kinolaufbahn wirkt. Spielen, täuschen und verführen, sich verlieben und zwei Beziehungen gleichzeitig am Leben halten, während draußen die Welt aus dem Ruder läuft. Wie so häufig verkörpert Lombard hier eine unschuldige und zugleich desillusionierte Modernität, indem sie sich verliebt, obwohl sie doch genau weiß, dass jede Liebe nur eine grandiose Fiktion ist. Trotz der zeittypischen Posen und Bewegungen war Lombard eine extrem moderne Schauspielerin, die sich für das Spielerische am Schauspielern begeisterte und Momente von großer Wahrhaftigkeit zu erzeugen verstand. In The Gay Bride (Jack Conway, USA 1934) – an sich kein erinnernswerter Film – gibt es eine wunderschöne Szene, in der nur das Gesicht der Schauspielerin zu sehen ist und die nicht zufällig im Theater spielt. Die Bühne war Carole Lombards Zuhause: Dort fand sie den Raum, in dem sie sich so frei ausdrücken konnte, dass ihr Leben zu einem zweiten Filmset wurde. Dass das Leben dieser Schauspielerin, die so fest mit der Komödie verbunden war, ein zum Verzweifeln tragisches Ende nahm, war eine grausame Laune des Schicksals.

Carlo Chatrian