2016 | Allgemeines

Das Sechs-Augen-Prinzip von Dieter Kosslick

Zuerst erschienen im Tagesspiegel vom 06.12.2015

Wenn sich jetzt die Berlinale für Flüchtlinge engagiert, dann haben wir kein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Das müssten eher Politiker, Waffenhändler, Börsenspekulanten und kaltherzige Menschen haben, die erst für diese Flüchtlingskatastrophe gesorgt, damit Geld verdient haben und die jetzt scheinheilig die Flüchtlinge als Schuldige und Terroristen beschimpfen.

Berlinale-Direktor Dieter Kosslick

Wir haben seit Beginn des Festivals 1951 nur positive Erfahrungen mit der sogenannten Willkommenskultur gemacht. Die Berlinale gäbe es ohne sogenannte Ausländer gar nicht, und die elf Festivaltage am Potsdamer Platz zeigen, mit welcher positiven Energie und Lebensfreude die kulturelle Vielfalt ein friedliches Fest feiern kann.

Natürlich fragt man sich nach Anschlägen wie in Paris auch, was friedliche Zusammenkünfte und Festivalmottos wie „Accept Diversity“ oder „Towards Tolerance“ überhaupt nützen. Ich war kürzlich mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier und einer Kulturdelegation in Jordanien, im saudi-arabischen Riad und in Teheran. Dort sprach Steinmeier an der Universität vor Studenten und Politikern, auch ich warb in einem Workshop über kulturelles Verständnis und für das Steinmeier’sche Sechs-Augen-Prinzip: Jeder hat seine eigene Wahrnehmung, seine eigenen zwei Augen, und mit je einem Auge nimmt man versuchsweise den Blick des anderen ein, quasi einen gemeinsamen Blick, um über Perspektivwechsel auch zu einer gemeinsamen Sicht zu kommen.

Taxi von Jafar Panahi

Die Studenten und Studentinnen dort wussten alle, dass der iranische Regimekritiker Jafar Panahi im Februar den Goldenen Bären gewonnen hatte und dass die Berlinale sich seit Jahren für das iranische Kino engagiert. Aber hinten im Hörsaal stand ein Herr auf und meinte, dass unsere Kulturen und Religionen ein wechselseitiges Verständnis ausschließen. Ich wies dann darauf hin, dass Teile des Korans und der Bibel durchaus Ähnlichkeiten aufweisen und dass Jesus nicht nur Christ war, sondern auch Jude. Das war das Ende der Diskussion. Eine Verständigung, die nicht gelingen wollte. Dabei bin ich davon überzeugt, dass Kulturen einander eher akzeptieren können, wenn wir versuchen, die Gemeinsamkeiten herauszufinden. Wie können wir in Würde leben? Was brauchen wir? Wie finden wir unser Glück? Die Formen mögen verschieden sein, aber bei den Zielen sind die meisten Menschen sich mit Sicherheit einig. Sie möchten ein menschenwürdiges Leben in Frieden.

Im Kino ist das Sechs-Augen-Prinzip eine Selbstverständlichkeit. Durch die Leinwand schauen wir wie durch ein offenes Fenster in eine andere Welt oder sind mitten drin. Über 20.000 Festivalteilnehmer aus 130 Ländern kommen jährlich zur Berlinale, mehr als 500.000 Mal gehen Berlinale-Fans an den elf Festivaltagen ins Kino. Seit 65 Jahren ist die friedliche Koexistenz von Ausländern bei uns Programm. Natürlich ist sie außerhalb des Illusionsraums Kino und des Schutzraums Festivals viel schwerer herzustellen. Dennoch lassen sich Diskussionsmöglichkeiten eher über die Kultur herstellen als über die Ökonomie, geht es ihr doch naturgemäß um den Profit und weniger um den Austausch.

Robert De Niro in The Deer Hunter von Michael Cimino

Wenn es uns gelingt, die Angst vor dem Terror nicht mit dem aktuellen Zuzug der Flüchtlinge kurzzuschließen, könnten die Flüchtlinge uns zu einem großen gesellschaftlichen Toleranzexperiment verhelfen. Bereits das Zusammenleben mit Migranten hat unsere Gesellschaft positiv verändert, die Flüchtlinge tun dies seit dem Spätsommer erneut. Die Berlinale als Toleranzzone hat Übung mit diesem Experiment. Wir haben beste Erfahrungen mit der Völkerverständigung gemacht, mit einer einzigen Ausnahme: Als Michael Cimino 1979 seinen Vietnamfilm The Deer Hunter im Wettbewerb zeigte, reisten die Sowjets und andere Delegationen aus dem Ostblock ab und zogen ihre Filme zurück, angeblich weil der Film die Vietnamesen beleidigte. Ein großes Missverständnis in Zeiten des Kalten Krieges.

Der Clash der Kulturen ist meines Erachtens der wahre Grund, warum die Berlinale eine so große Ausstrahlungskraft hat. Einer der schönsten Clashs, an den ich mich erinnere, fand spätabends auf der Alten Potsdamer Straße fand, als 400 Teilnehmer des damaligen Berlinale Talent Campus vom roten Teppich zum Bratwurststand zogen, dem ersten und einzigen Bratwurststand, den die Berlinale je hatte. Wir hatten rote und blaue Kärtchen an die Talents verteilt, Bons für Bratwürste mit und ohne Schweinefleisch, je nach Religionszugehörigkeit. Auf dem Weg liefen rechts von mir zwei junge Israelis, die mich baten, sie doch den drei jungen Afghaninnen links von mir vorzustellen, die ihrerseits einen Videofilm über das Leben unter den Taliban mitgebracht hatten – sie wurden übrigens für uns mit der Bundeswehr eingeflogen. Ein Moment, in dem das Unmögliche möglich schien: eine israelisch-afghanische Koproduktion, warum eigentlich nicht.

Luna Mijovic in Grbavica von Jasmila Zbanic

Der für mich intensivste Moment, in dem die Utopie mit der Realität und das Kino mit der Wirklichkeit zusammen kamen, war der letzte Tag der Berlinale 2003. Jury-Präsident Atom Egoyan – ein Armenier – verkündete um 14:00 Uhr den Goldenen Bären für Michael Winterbottoms Flüchtlingsdrama In This World; gleichzeitig demonstrierten rund um den Potsdamer Platz über 400.000 Menschen gegen die Invasion im Irak. Da waren die Berlinale und das Kino buchstäblich „in this world“. Ähnlich stark habe ich dies 2006 beim Goldenen Bären für Jasmila Zbanics Bosnien-Drama Grbavica empfunden oder auch dieses Jahr, als Jafar Panahis heimlich gedrehter Film Taxi gewann. Ein nicht nur mutiges Werk, sondern eines, das das Recht auf Meinungsfreiheit auch in künstlerisch grandioser Form zum Ausdruck bringt.

Nazif Mujic, der Roma aus Bosnien, der in An Episode in the Life of an Iron Picker seine eigene Geschichte gespielt und dafür 2013 den Silbernen Bären für den Besten Darsteller gewann, kam im folgenden Winter mit seiner Familie wieder nach Berlin und beantragte Asyl. In solchen Momenten haben wir als Mitarbeiter der Berlinale eine besondere Verantwortung. Wir haben dann privat eine großartige Anwältin für ihn engagiert, wir taten, was wir konnten. Aber wir können die Gesetze nicht ändern, Bosnien gilt als sicheres Herkunftsland, die Familie musste zurückkehren.

Rachel Mwanza in Rebelle von Kim Nguyen

Eine besondere Verantwortung haben wir vor allem bei Laiendarstellern. Bei den Protagonisten von In This World, bei denen von Feo Aladags Afghanistan-Film Zwischen Welten 2014 oder auch bei den jugendlichen Darstellern des Kindersoldaten-Films Rebelle 2012 – Rachel Mwanza gewann damals den Silbernen Bären für die Beste Darstellerin. Wir laden sie ein, wir passen als Gastgeber auf sie auf, aber wir können nicht alle Probleme lösen, wenn sie wieder nach Hause zurückfliegen, in den Krieg, ins Krisengebiet, in die Armut. Wir können lediglich nach Kräften behilflich sein, und auf ihre unwürdige Situation aufmerksam machen.

Auf Dauer kann die Flüchtlingsfrage nur über Diplomatie gelöst werden. Nur sie kann den Irrsinn stoppen, der Menschen dazu zwingt, ihre Heimat zu verlassen. Und wir müssen den Hunger bekämpfen, die Schere zwischen Arm und Reich, die auch in unserem Land immer größer wird. Auch sie setzt irreguläre Prozesse in Gang, ob in Ostdeutschland oder in Bangladesch. Filme können die Sensibilität für solche Prozesse nur befördern. Übrigens: Ich verstehe die reichen Leute nicht. Ihr sinnloses Profitstreben führt mit zu diesen Problemen: Hunger und Terror in Nigeria oder Umweltzerstörung unvorstellbaren Ausmaßes durch Ölsandausbeutung in der Arktis. Der Steuerzahler wird dann zur Kasse gebeten, Militär und Polizei sollen es richten, Milliarden Lebensmittelhilfen werden erforderlich und die Konzerne machen so noch mehr Gewinne.

Selbstverständlich wird sich die Berlinale 2016 auch dem Flüchtlingsthema widmen. Es ist quasi Bestandteil der Berlinale-DNA, Filmemachern und Künstlern für ihre Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragen eine Plattform zu bieten. Im Moment erkunden wir, welche Möglichkeiten es gibt, und wir nehmen Kontakte zu Flüchtlingsorganisationen auf. Außerdem denken wir über sinnvolle, integrative Formen nach. Einfach nur Eintrittskarten für Flüchtlinge, das kann es nicht sein. Welche Gesprächsforen sind möglich, wie können wir einen Zusammenhang schaffen, in dem sich die Flüchtlinge wiederfinden? Ein Beispiel, das mir gerade zu Ohren gekommen ist: Im brandenburgischen Dorf Golzow ist wegen der Flüchtlingskinder nicht nur die von Schließung bedrohte Schule gerettet, die das Berlinale-Publikum aus der Langzeitdokumentation Die Kinder von Golzow von Barbara und Winfried Junge kennt. Sie haben den Ankommenden dort auch alte, von DDR-Dokumentaristen gedrehte Super-8-Filme aus Syrien und dem Irak gezeigt. Die Flüchtlinge sahen ihre noch unzerstörte Heimat – ein für alle wohl hoch emotionales Erlebnis.

Anfang September traf ich am Rande des Filmfests in Venedig die Schriftstellerin Donna Leon, kurz nachdem die Kanzlerin ihren berühmten Satz „Wir schaffen das“ gesagt hatte. Donna Leon meinte: „Sie erleben gerade einen der besten Momente in Ihrer Geschichte.“ Deutschland nehme so viele Flüchtlinge auf und sehe das auch noch positiv, mit den Worten der wichtigsten Repräsentantin des Landes. Allen Kläffern und Zündlern, allen durchaus ernstzunehmenden Befürchtungen und Problemen zum Trotz erleben wir vielleicht tatsächlich einen historischen Moment. Ich bin Jahrgang 1948, seit ich denken kann, findet hier in unserem Land die Aufarbeitung des Dritten Reichs statt, glücklicherweise. Aber trotz allem politischen, wissenschaftlichen und medialen Einsatz mussten wir – Gott sei Dank – nie wirklich verstehen, was Verfolgung, Flucht und Krieg eigentlich bedeuten. Jetzt erleben wir eine ähnliche Völkerwanderung. Und zum ersten Mal können wir uns ganz konkret klarmachen, was es bedeutet, wenn Millionen von Menschen fliehen müssen, alles verlieren und nicht wissen, ob und wann sie wieder zurückkönnen. Die Gegenwart bietet uns die historische Chance, unsere eigene Geschichte zu begreifen – und von ihr zu lernen, dass alles getan werden muss, die Menschen würdig zu behandeln und ihnen eine neue Heimat zu geben.