2015 | Forum

Auf Spurensuche

Mit 43 Filmen im Hauptprogramm und weiteren elf in den Special Screenings ging das Forum 2015 an den Start. Im Interview spricht der Sektionsleiter Christoph Terhechte über ein Blade-Runner-Remake, die zeitgenössische Verwendung des Archivs, filmische Spurensuche und seine Freude über die Rückkehr des Forums in die Akademie der Künste.

Sueñan los androides (Androids Dream) von Ion de Sosa

Neuinterpretationen klassischer Themen und Motive bilden einen Schwerpunkt im diesjährigen Programm des Forums. Wie ist es dazu gekommen?

Das findet sich, während das Programm entsteht. Wir bauen nach und nach auf die Filme auf, für die wir uns zu Beginn entschieden haben. Erst während wir die Hunderte oder gar Tausende von eingereichten Filmarbeiten sehen, stellen wir fest, wo die Schwerpunkte dessen liegen, was Filmemacher derzeit bewegt. Und erst dann fängt man an, nach Zusammenhängen zu suchen und die einmal gefundenen Linien weiter zu verfolgen. Daraus ergaben sich dann thematische Stränge wie diese Rückbesinnungen und kompletten Neuinterpretationen von Motiven, die so alt sein können wie die griechische Mythologie oder relativ jung wie ein unvollendeter Roman von Kafka.

Was ist die radikalste Neuinterpretation?

Das Blade-Runner-Remake Sueñan los androides (Androids Dream) finde ich extrem radikal, weil es komplett auf Ausstattung verzichtet und einfach den vorgefundenen Ort, die Stadt Benidorm mit ihren Wohntürmen am Meer, neu interpretiert. Der Regisseur Ion de Sosa lässt sich inspirieren, er muss gar keine Kulissen bauen, weil sie mit der Stadt Benidorm schon vorhanden sind. Und das eröffnet – die Kenntnis von Philip K. Dicks Roman „Do Androids Dream of Electric Sheep?“, auf dem ja auch Blade Runner basiert, vorausgesetzt – sehr skurrile neue Blicke. Man kann das auch als ein Experiment auffassen, wie reduziert eine solche Geschichte erzählt werden kann. In diesem Minimalismus lässt sich ein extremer Reichtum entdecken.

Thamaniat wa ushrun laylan wa bayt min al-sheir (Twenty-Eight Nights and A Poem) von Akram Zaatari

Cinema: A Public Affair von Tatiana Brandrup zeigt den russischen Filmhistoriker Naum Kleiman, der eine spezifische Auffassung vom Kino hat. Gilt diese auch für das Forum?

Er geht weniger technisch und filmanalytisch an die Filmgeschichte heran. Sein Interesse gilt dem Zuschauer und das ist eine Denkart, mit der ich mich leicht identifizieren kann. Ich würde jederzeit den Satz unterschreiben, dass der Film erst im Kopf des Zuschauers entsteht. Wenn 800 Leute im Delphi sitzen, entstehen auch 800 verschiedene Filme; allerdings mit einer großen Überschneidungsmenge, die dieses Gemeinschaftserlebnis Kino konstituiert. Das ist das Schöne am Festival: Man entdeckt den Film mit dem Publikum neu. Und man spricht mit den Machern über den Film, den man gesehen hat und der nicht notwendigerweise der Film ist, den sie gemacht haben. Das hilft auch den Filmemachern: Sie sehen, wie unterschiedlich die Reaktionen auf ihre Filme sein können.

Das Archiv spielt 2015 für das Forum Expanded eine große Rolle. Auch für das Forum?

Durch das Living-Archive-Projekt des Arsenals ist das seit Jahren ein wesentlicher Aspekt der Beschäftigung mit Filmen bei uns und fließt selbstverständlich ins Forum ein. Für Thamaniat wa ushrun laylan wa bayt min al-sheir (Twenty-Eight Nights and A Poem) öffnet der Fotograf im kleinen libanesischen Ort Saïda sein Studio. Der Filmemacher Akram Zaatari entdeckt nicht nur das archivierte fotografische Material, sondern auch die archivierten Produktionsmittel. Der Fotograf hat jahrelang den Kunden bei der Selbstdarstellung assistiert und dafür die unterschiedlichsten analogen und später digitalen Techniken verwendet. Akram Zaatari spielt mit verschiedenen Mitteln und so ist eine extrem reiche Mischung von Formaten und Herangehensweisen entstanden, die direkt korrespondiert mit dem Sujet dieses Archivs, des Ortes als Archiv.

The 81st Blow | Strange Victory

Gehen die verschiedenen Filme unterschiedlich mit den Dokumenten um?

Strange Victory von 1948 und The 81st Blow von 1977 sind Filme, die aufgrund ihres Alters natürlich nicht auf dem heutigen Stand der dokumentarischen Herangehensweise sind, also eher klassische Dokumentarfilme. Beide arbeiten stark mit Archivmaterial. Was sie interessant macht, ist ihr noch immer hochaktuelles Sujet. Strange Victory könnte ein Film über die heutige Situation sein, auch wenn er bereits vor 67 Jahren entstanden ist. Er zeigt den Rassismus in den USA. Amerika feiert den Sieg über den Faschismus in Europa, hat aber den inneren Faschismus noch längst nicht überwunden – man denkt automatisch an alles, was im letzten Jahr von Ferguson bis New York passiert ist. Der Film beklagt sich nicht nur über den Rassismus gegenüber Schwarzen – beispielsweise bekamen schwarze Kampfpiloten nach dem Krieg keinen Job in der zivilen Luftfahrt, einfach weil ihre Hautfarbe nicht stimmte. Der Film beklagt auch den Antisemitismus in den USA, der auch dort krasse Auswüchse gezeitigt hat. Dieser Hass ist in Amerika natürlich nicht zur Staatsdoktrin geworden, aber er ist bis heute nie wirklich überwunden worden.

The 81st Blow ist ein Meilenstein im Hinblick auf den Einsatz von Archivmaterial für aufklärerische Zwecke. Film wird hier als Zeugenaussage verwendet – und gemischt mit den Tondokumenten des Eichmann-Prozesses, mit dem eine Beweisführung gegen die Leugner des Holocaust und gegen die Unterschlagung des jüdischen Widerstandes geführt wird. So kann ein Film auch Wahrheit verfechten.

Heute gehen Dokumentarfilme viel spielerischer mit Dokumenten um. Gibt es dafür Gründe?

Die Filmemacher müssen mit der Gewöhnung des Zuschauers an die Möglichkeiten der Bilder rechnen. Solange das Publikum noch nicht derart mit bewegten Bildern überfüttert war, konnten dokumentarische Bilder mehr Suggestivkraft entwickeln. Heute ist es möglich, sehr viel ironischer und feiner mit dem Material umzugehen. Filmemacher müssen eine andere Ebene finden, weil sich die Zuschauer nicht mehr so leicht beeindrucken lassen. Die Fälschung von Bildern ist inzwischen viel verbreiteter und die Zuschauer dementsprechend kritischer.

Flotel Europa von Vladimir Tomic

Flotel Europa zeigt den Umgang mit dem Archiv auf eine sehr persönliche Weise…

Ja, man kann ihn als Found-Footage-Film bezeichnen. Ob das nun wirklich das eigene Archiv ist, ließe sich bezweifeln. Man erkennt nicht, wie viel Fiktion in dieser Geschichte steckt. Es sind Originalaufnahmen von einem Flüchtlingsschiff im Hafen von Kopenhagen, wo in den 1990er Jahren Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien ankamen. Sie machten Aufnahmen ihres Alltags und versorgten über VHS-Kassetten die daheim Gebliebenen mit Informationen. Aber die Coming-of-Age Geschichte, die über diese Bilder und den Off-Kommentar erzählt wird, könnte ebenso gut fiktiv sein. Das muss jeder Zuschauer selbst beantworten. Daraus entsteht für mich die Spannung dieses Films: Das Material und der Kommentar werden in einer kreativen, schöpferischen Weise verwendet, auch wenn das bedeutet, dass dadurch möglicherweise eine Fiktion entsteht und keine rein dokumentarische Arbeit. Was in Sachen Found-Footage schon immer ein legitimes Verfahren war.

Einige Filme im Programm suchen explizit nach Spuren in der sichtbaren Welt, greifen also auch hier auf eine Art Archiv zurück, in dem Altes auf irgendeine Weise gespeichert ist. Wie passiert das etwa in Ce gigantesque retournement de la terre (This Gigantic Furrowing of the Ground)?

Die Spurensuche erfolgt doppelt. In der Wirklichkeit und in einem historischen Film – Le six juin à l’aube von Jean Grémillon -, der sich 1944/45 mit dem Ort auseinandersetzte und dem, was die damals noch junge Geschichte mit diesem Ort gemacht hat: die Besatzung der Normandie durch die Deutschen und die amerikanische Invasion, die tiefe Spuren in der Landschaft hinterlassen haben. Die Art und Weise, wie die Filmemacherin Claire Angelini den heutigen Ort mit dem historischen vergleicht und dabei auch den Ton des Films von Grémillon verwendet, ist komplex und sicherlich ein Beispiel dafür, wie Dokumentarfilme heute anders mit Archivmaterial umgehen können. Da hat sich formal eine Menge getan. Es ist viel mehr möglich, aber auch einfach nötig geworden, weil die Art und Weise, wie wir auf Bilder, auf Archivmaterial schauen und wie wir deren Beweiskraft einordnen, sich stark verändert hat.

Futaba kara toku hanarete dainibu (Nuclear Nation II) von Atsushi Funahashi

Verzichtet Out of the Forest von 2003 bewusst auf Archivaufnahmen oder gibt es einfach keine Bilder?

Der Film verzichtet bewusst darauf, so wie es auch Claude Lanzmann in Shoah gemacht hat. Das ist eine andere Methode, die vermutlich auch als Reaktion auf Filme wie The 81st Blow sagt: „Wir gehen den umgekehrten Weg. Wir versuchen nicht mit Bildern etwas zu beweisen, sondern wir versuchen Erinnerungen zu evozieren und die Vorstellung zu animieren, die sich der Zuschauer selber machen muss und die wir ihm nicht vorschreiben.“

Bleiben wir beim Erzählen über Zeit oder in der Zeit. Mit Futaba kara toku hanarete dainibu (Nuclear Nation II) habt ihr das Sequel zu Nuclear Nation von 2012 im Programm. Was hat sich in den drei Jahren getan?

Der erste Teil handelte von einem Bürgermeister, der, nachdem sein Ort durch den Tsunami und die Atomkatastrophe mehr oder weniger ausgelöscht wurde, seine Gemeinde in einer Notaufnahme zusammenzuhalten versuchte. Die Gemeinde hatte extrem stark profitiert von der Atomindustrie, fast jeder war dort beschäftigt. Der Bürgermeister versuchte sie dazu zu bringen, eine neue Sicht auf die Dinge einzunehmen. Das war in diesem ersten Film stellvertretend für ein ganz großes Umdenken insgesamt in Japan. Nuclear Nation II konstatiert nun, dass drei Jahre später alles wieder beim Alten ist. Die Gemeinde hat sich aufgelöst, der Bürgermeister ist abgesetzt worden. Der Film ist der realistische und notwendige Abgesang zum ersten Teil, der eher mitreißend und hoffnungsvoll war.

Al-wadi (The Valley) von Ghassan Salhab

Vor drei Jahren haben wir über den Mangel an Bildern gesprochen, die Unsichtbarkeit der alles bedrohenden radioaktiven Strahlung. Manifestieren sich heute die Auswirkungen der Strahlung als Bild?

Ja, natürlich. Es gibt die Figur eines Bauern, der entgegen allen Anordnungen im Katastrophengebiet geblieben ist und seine Tiere weiterhin hält. Man sieht die Krebsgeschwüre, die diese Tiere überall entwickeln. Da gibt es schon Bilder. Aber das, was die Radioaktivität entwickelt, ist natürlich schleichend und wirklich bildlich fassen lässt es sich kaum, da muss man mit visuellen Metaphern versuchen zu beschreiben, was das Unheimliche und Monströse dieser Kraft eigentlich ist.

Ihr habt viele Filme im Programm, die anhand von kleinen Ausschnitten der Gesellschaft ganze Gesellschaften darstellen können. Zum Beispiel Al-wadi (The Valley)…

Es ist kein Geheimnis, dass kleinere Geschichten, die symbolisch für eine größere Situation stehen, kraftvoller sein können als Versuche, alles in eins zu fassen. Je bombastischer ein Film sein will, desto wirkungsloser ist er ja meist. Und zugleich ist es so, dass Filme von Regisseuren, die sich nicht als Handwerker, sondern als Künstler verstehen, meistens auch mit weniger Geld entstehen und dadurch gezwungen sind, sich solche Geschichten auszusuchen. Das gilt für The Valley von Ghassan Salhab genauso wie für La mujer de barro (The Mud Woman) von Sergio Castro. Oder den türkischen Film Nefesim kesilene kadar (Until I Lose My Breath). Das sind kleine, mehr oder weniger private Geschichten, die entweder wirklich nur für den Zuschauer auf etwas Größeres verweisen, oder wie La mujer de barro die Sozialkritik offen zeigen, weil auch Arbeitsbedingungen thematisiert werden. Oder wie bei Ghassan Salhab über eine apokalyptische Vision, die mit zwar geringen Mitteln, aber doch sehr effektiv inszeniert wird.

Über die Jahre (Over the Years) | La sirène de Faso Fani (The Siren of Faso Fani)

Wie auch im letzten Jahr habt Ihr viele Filme im Programm, die sich dem Thema Arbeit widmen. La sirène de Faso Fani (The Siren of Faso Fani) und Über die Jahre, um nur zwei Beispiele zu nennen…

La sirène de Faso Fani und Über die Jahre sind gute Beispiele dafür, wie sich die Filme in unserem Programm miteinander in einen Dialog setzen. Nikolaus Geyrhalter hat vor zehn Jahren eine Textilfabrik im österreichischen Waldviertel an der tschechischen Grenze aufgesucht. Dort hat er – vergleichbar auch mit der Methode in Il gesto delle mani – erst einmal beobachtet: mit welchen Arbeiten die Menschen konfrontiert sind, mit welchen Maschinerien, die altertümlich anmuten mögen. Dann musste die Stofffabrik schließen und er beschloss bei den Menschen zu bleiben, die er nun über zehn Jahre beobachtet hat. Auf ihrem Weg in die Arbeitslosigkeit oder in neue Tätigkeiten ganz anderer Natur – eine hochspannende Langzeitbeobachtung. Eine ähnliche Geschichte, aber umgekehrt gesehen, erzählt La sirène de Faso Fani. Auch hier geht es um eine geschlossene Textilfabrik. Michel K. Zongo richtet den Blick in die Vergangenheit und erzählt dabei nicht nur die Geschichte des Staates Burkina Faso, dessen modellhaftes sozialistisches Programm durch eine üble Form von Neoliberalismus ersetzt wurde, dem auch diese Textilfabrik 2001 zum Opfer gefallen ist. Statt sich allein auf den Niedergang der Fabrik zu konzentrieren, zeigt er den Willen der Menschen, weiterhin ihrem Handwerk nachzugehen, also den Ruhm dieser Arbeit fortzuschreiben. Über den Prozess des Filmens kommen sie wieder dazu sich zusammenzuschließen und entscheiden quasi als Kooperative ein neues Modell entstehen zu lassen. Interessant ist auch, dass diese viel gerühmte Textilfabrik Faso Fani, die als extrem modern beschrieben wird, so ungefähr die gleichen Maschinen hatte wie die in Österreich, die wegen ihrer Veraltetheit ungefähr zum selben Zeitpunkt geschlossen wurde. Es ist sehr spannend, die beiden Filme im Zusammenhang zu sehen.

Ok, dann die letzte Frage: Freust du dich auf die Rückkehr in die Akademie der Künste?

Oh ja, absolut. Das ist ein ganz wunderbarer Ort, der hervorragend geeignet ist, unser Filmprogramm und das von Forum Expanded einschließlich der Ausstellungen zu vereinen. Die Akademie der Künste am Hanseatenweg lädt viel mehr zum Verweilen ein, als die doch eher industriellen Orte hier am Potsdamer Platz.