2014 | Retrospektive

Aesthetics of Shadow

Die Retrospektive zur Ästhetik der Schatten stellt filmisches Licht ins Zentrum. Zu entdecken sind Beleuchtungsstile des japanischen, amerikanischen und europäischen Films zwischen 1915 und 1950. Der Leiter der Retrospektive Rainer Rother betont im Interview die Wechselseitigkeit der Einflüsse und lädt dazu ein, bisher kaum aufgeführte wegweisende Werke wie auch echte Klassiker neu zu sehen. Die Retrospektive wird bereits zum zweiten Mal gemeinsam mit dem Museum of Modern Art (MoMA), New York, kuratiert.

Anna May Wong und Marlene Dietrich in Shanghai Express (Shanghai-Expreß, USA 1932) von Josef von Sternberg

Ausgangspunkt für die Überlegungen zur diesjährigen Retrospektive war die Publikation „The Aesthetics of Shadow. Lighting and Japanese Cinema“ von Daisuke Miyao, Associate Professor an der University of Oregon. Was hat Sie an seinen Forschungen zur japanischen Filmgeschichte fasziniert und wie sah dann die Zusammenarbeit aus?

Daisuke Miyao widmet sich dem filmischen Licht und greift vermittels einer ästhetischen Fragestellung auf die japanische Filmgeschichte zu. Hierbei bindet er die Lichtgestaltung auch in die japanische Kulturgeschichte ein und beschreibt sie als ein Phänomen, das aus der japanischen Gesellschaft hervorgeht. Gleichzeitig zeigt er viele Bezüge zum amerikanischen und europäischen Film auf.

In den Diskussionen mit den Kollegen vom MoMA in New York haben wir die von Miyao gezogenen Verbindungen weiterverfolgt und daraus gemeinsam das Programm für die diesjährige Retrospektive entwickelt. Was passiert in dem Moment, in dem die Beleuchtung nicht mehr als gegeben hingenommen wird, sondern technische Möglichkeiten es den Filmkünstlern erlauben, das Set und die Charaktere bewusst zu modellieren? Dieser Frage gehen wir in bestimmten Genres und unter verschiedenen Gesichtspunkten nach, zugleich wollen wir die komplexen, wechselseitigen Einflüsse auf transnationaler Ebene aufzeigen.

Unsere Auswahl von Filmen ist ein Angebot an das Publikum, sie unter einem ganz bestimmten Aspekt zu sehen – ein Angebot, das auf die Sensibilität der Zuschauer baut und hoffentlich auch ein neues Sehen ermöglicht.

Fannie Ward und Sessue Hayakawa in The Cheat (Das Brandmal der Rache, USA 1915) von Cecile B. DeMille

Die gekonnte Inszenierung durch Licht

„Helle und fröhliche Filme von Shochiku“, so lautete in den 1920er Jahren der Slogan des japanischen Filmstudios Shochiku, das eines der ältesten Filmstudios weltweit ist. Welcher Beleuchtungsstil war demzufolge typisch für den frühen japanischen Film? Und wie kam es dazu, dass das Filmstudio den in den USA lebenden japanischen Filmschaffenden Henry Kotani einlud, die Arbeit mit Lichteffekten und Reflektoren zu modernisieren?

Sowohl für Hollywood als auch für Japan lässt sich von einer Art Mainstream-Lichtsetzung in den 1910er und frühen 1920er Jahren sprechen. Miyao zufolge orientierte sich die gesamte Inszenierung des frühen japanischen Films an den Traditionen des Kabuki-Theaters. In Bezug auf das Licht bedeutete dies eine gleichmäßige Ausleuchtung der gesamten Szenerie und den weitgehenden Verzicht auf Schatten. Die in Hollywood entwickelte Dreipunkt-Beleuchtung wurde in den 1920er Jahren auch in Japan praktiziert. Und in beiden Ländern gab es Versuche, sich durch eine expressivere Lichtgestaltung hiervon abzusetzen. Damit ist keineswegs nur die Dualität von Licht und Schatten gemeint, sondern jede Form der bewussten Inszenierung von Stimmungen durch Licht.

Wie für Filmstudios durchaus üblich, waren für diese Bestrebungen auch bei Shochiku zunächst ökonomische Erwägungen ausschlaggebend. Ziel war es, die Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Filme zu steigern. Von den Fachkenntnissen anderer Kinematografien konnte man dabei nur profitieren. Der Japaner Henry Kotani arbeitete ab 1910 mit dem Regisseur Cecil B. DeMille und dessen Kameramann Alvin Wyckoff in Hollywood zusammen. Wyckoff und DeMille entwickelten die sogenannte Lasky-Beleuchtung, benannt nach der Produktionsgesellschaft Jesse L. Lasky Feature Play Co. Inc. Durch den Einsatz von Reflektoren ermöglichte sie eine selektive Lichtführung und scharf konturierte Schatten. Ein sehr frühes Beispiel hierfür ist The Cheat (Das Brandmal der Rache, USA 1915). Shochiku war an Kotanis Kenntnissen interessiert, auch wenn der expressive Einsatz von Licht der Shochiku-Philosophie nicht ganz entsprach. Nasake no hikari (Light of Compassion, Japan 1926), einer der wenigen überlieferten Filme Kotanis, wird während der Berlinale erstmals in Deutschland zu sehen sein.

In den 1920er Jahren lässt sich in Japan darüber hinaus ein gesellschaftlicher Transformationsprozess beobachten. Einerseits fühlt man sich japanischen Traditionen im Kabuki-Theater, in der Malerei und der Architektur verpflichtet. Andererseits vollziehen sich rasante Modernisierungsprozesse. Tokio erstrahlt auch damals schon im Neonlicht und löst mit diesen leuchtenden Reklamebotschaften nicht zuletzt bei den Filmschaffenden eine starke Faszination aus.

George O'Brien und Janet Gaynor in Sunrise – A Song of Two Humans (Sonnenaufgang – Lied von zwei Menschen, USA 1927) von Friedrich Wilhelm Murnau

Daisuke Miyao beschreibt die Bemühungen um eine Integration dieser unterschiedlichen und zum Teil widersprüchlichen Strömungen und Ideen im Verlauf der weiteren Entwicklung und geht hierbei auf die Einflüsse von außen ein. Neben der Ästhetik Friedrich Wilhelm Murnaus, dessen Meisterwerk Sunrise – A Song of Two Humans (Sonnenaufgang – Lied von zwei Menschen, USA 1927) wir zeigen, sind das auch die Schattenwelten Josef von Sternbergs, beispielsweise in Shanghai Express (Shanghai-Expreß, USA 1932), also vor allem deutsch-amerikanische Einflüsse.

Wie hat sich die Lichtgestaltung in Japan über die Jahre hinweg verändert? Immerhin wandelten sich die Beziehungen zwischen Japan und den USA auf politischer Ebene doch erheblich. Und der japanische Angriff auf Pearl Harbor 1941 war ein Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges.

Das Spiel mit den Schatten wird in der japanischen Diskussion durchaus als eine kulturelle Eigenart betrachtet. Es heißt, dass die traditionellen japanischen Häuser eine Inspirationsquelle für die Lichtregie waren. Insofern kann die Ästhetik der Schatten auch in Kriegszeiten weiterhin als eine eigene Errungenschaft gepflegt werden. Das Vorbild Hollywood spielt dann keine ausdrückliche Rolle mehr.

Hinzu kommt, dass ein gewisser Hang zum Minimalen schon im Genre des Kriegsfilms angelegt ist. Eine High-Key-Beleuchtung würde der intendierten Glaubwürdigkeit und Einbindung in die Propaganda nur widersprechen. Kajiro Yamamotos Hawai Mare oki kaisen (‚Die Schlacht von Hawaii und in der Malaien-See‘, Japan 1942) ist beispielweise in Zusammenarbeit mit der japanischen Armee entstanden und wirkt fast dokumentarisch. Gerade der ästhetischen Gestaltung wurde in diesem Film viel Wert beigemessen.

Während sich eine Kontinuität der Ästhetik der Schatten im japanischen Kino relativ deutlich aufzeigen ließe, seien die Begründungen für diese durchaus bestimmten Konjunkturen unterworfen, so Miyaos Argumentation.

Douglas Fairbanks, Marguerite De La Motte und Robert McKim in The Mark of Zorro (Das Zeichen des Zorro, USA 1920) von Fred Niblo

Strahlende Stars und blitzende Schwerter

Ökonomische Beweggründe haben sie bereits erwähnt. Inwieweit hat auch die Entwicklung des Starsystems gewisse Stile und Ästhetiken gefördert?

Die Idee, Darsteller ins Zentrum von Werbemaßnahmen zu stellen, ist etwas älter als die Bemühung, Stars in ein besonderes Licht zu setzen. Die Herausbildung eines Starsystems im Laufe der 1910er Jahre ist sicherlich auch im Kontext technischer und ästhetischer Entwicklungen zu betrachten, die auf eine Hervorhebung des Stars und seine Attraktivität fürs Publikum abzielen.

Hier ist wiederum Cecil B. De Milles Film The Cheat aus dem Jahr 1915 ein gutes Beispiel. Mit lichtbildnerischen Mitteln verwandelt er den japanischen Hollywood-Schauspieler Sessue Hayakawa in eine filmische Ikone. Oder nehmen wir Kazuo Hasegawa, auch bekannt unter dem Namen Chojiro Hayashi, der nicht zuletzt wegen der ausdifferenzierten Lichtkonzeptionen für sein Gesicht zum größten Filmstar in Japan wurde. In Tsuruhachi Tsurujiro (‚Tsuruhachi und Tsurujiro‘, Mikio Naruse, 1938) erstrahlt er in einem seitlichen Glamourlicht, das bemerkenswerte Parallelen zum Beleuchtungsstil für Greta Garbo in dem amerikanischen Film Flesh and the Devil (Es war, Clarence Brown, 1926) aufweist. Für die Inszenierung Marlene Dietrichs wurde wiederum eine ganz eigene Lichtgestaltung entwickelt: In Shanghai Express setzt Josef von Sternberg ein steil einfallendes Führungslicht ein. Auch in der Inszenierung des in Japan sehr beliebten Schauspielers Douglas Fairbanks Sr. lässt sich ein gezielt gesetztes Licht studieren. Noch interessanter ist sein Film The Mark of Zorro (Das Zeichen des Zorro, Fred Niblo, USA 1920) allerdings unter dem Genreaspekt und den Einflüssen der amerikanischen Mantel-und-Degen-Filme auf die japanischen jidaigeki-Filme, die Historienfilme.

Saburo Sawai, Naoe Fushimi, Yoshito Yamaji und Chojiro Hayashi in Yukinojo henge (Yukinojos Verwandlung, Japan 1935) von Teinosuke Kinugasa

À propos. Welche Genres spielen denn innerhalb der diesjährigen Retrospektive eine Rolle?

Wir haben bewusst auf einige Genres verzichtet, für die die Lichtsetzung und das Spiel mit den Schatten ganz besonders typisch sind. So finden sich im Programm keine Horrorfilme im eigentlichen Sinne und auch keine Films noirs. Uns hat vielmehr die Frage interessiert, wie sich Stile und Ästhetiken wechselseitig beeinflussen.

Wenn die Schwerter in der Dunkelheit aufblitzen und die Helden in Aktion treten, ist in den jidaigeki-Filmen die Anverwandlung einer effektvollen Lichtsetzung, wie sie aus Hollywood-Filmen bekannt ist, nicht zu übersehen. Das gilt beispielsweise für Yukinojo henge (Yukinojos Verwandlung, Teinosuke Kinugasa, Japan 1935–1936/1952) mit Chojiro Hayashi/Kazuo Hasegawa in der Titelrolle.

Bei den Kriegsfilmen haben wir uns ebenfalls auf die Gegenüberstellung von japanischen und amerikanischen Filmen konzentriert. So etwa weist die Darstellung des Angriffs auf Pearl Harbor 1941 in Hawai Mare oki kaisen (Japan 1942) und in Air Force (Airforce, Howard Hawks, USA 1943) nicht nur unter ideologischen Gesichtspunkten nationale Besonderheiten auf, sondern auch beim Einsatz von Schatten versus Licht. Das Genre des „Straßenfilms“ ist mit Werken aus unterschiedlichsten kinematografischen Traditionen vertreten. Neben ausgewählten japanischen Filmen gehören hierzu Sunrise, von F. W. Murnau 1927 in den USA inszeniert, Le Quai des brumes (Hafen im Nebel, Marcel Carné, Frankreich 1938), gedreht von dem emigrierten deutschen Kameramann Eugen Schüfftan, oder Dirnentragödie (Bruno Rahn, Deutschland 1927) von Guido Seeber, dem „Altmeister“ unter den Kameramännern.

Machiko Kyo und Masayuki Mori in Ugetsu monogatari (Ugetsu – Erzählungen unter dem Regenmond, Japan 1953) von Kenji Mizoguchi

Mit Licht und Schatten malen

Die Retrospektive richtet ihren Fokus auch auf die Themen „Light and Rhythm“, „Towards Realism” und „Painting with Shadows“. Welche Gestaltungsprinzipien sind hier besonders reizvoll?

Mit Oshidori utagassen (Singing Lovebirds, Masahiro Makino, Japan 1939) haben wir ein sehr charmantes Musical im Programm, in dem der Umgang mit Licht und Schatten zu einer Art rhythmischem Prinzip wird. Das gilt auch für Berlin. Die Sinfonie der Großstadt (Walther Ruttmann, Deutschland 1927) und die Avantgarde-Filme, die wir unter dem Gesichtspunkt „Light and Rhythm“ zeigen.

„Towards Realism“ versammelt Filme, die die Grenze zwischen Realität und Fiktion ausloten. Die Annäherung an Schloss Xanadu in den ersten Bildern von Citizen Kane (Orson Welles, USA 1941) lässt sich als Zitat eines Horrorfilm-Anfangs beschreiben. Im weiteren Verlauf ist ein Hell-Dunkel-Wechsel bestimmend, meisterhaft gefilmt von Kameramann Gregg Toland. Auch The Naked City (Stadt ohne Maske, USA 1948) von Jules Dassin, gedreht ausschließlich an Originalschauplätzen, ist sehenswert.

Unter der Überschrift „Painting with Shadows“ zeigen wir neben Faust. Eine deutsche Volkssage (Deutschland 1926) von F. W. Murnau unter anderem Stagecoach (Höllenfahrt nach Santa Fe, USA 1939) von John Ford, über den man in diesem Zusammenhang im ersten Moment stutzen mag. Der Western ist für die Filmkritik ja nicht unbedingt wegen seines Einsatzes von Licht und Schatten interessant. Wir möchten Stagecoach jedoch sichtbar machen als einen Film, der auf virtuose Weise mit Licht und Schatten arbeitet. Dies gilt dann auch für Ugetsu Monogatari (Ugetsu – Erzählungen unter dem Regenmond, Japan 1953) von Kenji Mizoguchi und La Belle et la Bête (Es war einmal, Frankreich 1946) von Jean Cocteau.

Sind im Rahmen der Retrospektive 2014 auch Gesprächsveranstaltungen geplant? Welche Gäste werden erwartet?

Wir freuen uns ganz besonders über das Kommen von Daisuke Miyao und haben auch den renommierten britischen Filmhistoriker Kevin Brownlow eingeladen, der in seinem Aufsatz für die Publikation zur Retrospektive die frappierenden internationalen Wechselwirkungen darstellt und die oft ignorierten Leistungen der Kameramänner hervorhebt. Als Auftakt am Samstag, den 8. Februar, werden wir mit beiden ein Gespräch führen.