2012 | Internationale Jury

Jurypräsident Mike Leigh

Mike Leigh während der Pressekonferenz zu Happy-Go-Lucky 2008

Welch eine Ehre!“, freute sich der Präsident der Internationalen Jury 2012 Mike Leigh über seine Berufung. Denn mit Berlin verbindet er nur gute Erinnerungen: „Die Berlinale ist ein echtes Publikumsfestival und ich liebe sie. Sie war schon vor dem Fall der Mauer wunderbar und hat seitdem nichts von ihrem berauschenden Zauber verloren. Diese warmherzige, leidenschaftliche Feier des Weltkinos in den eisigen Untiefen des Winters ist das reine Vergnügen!“

Mike Leigh während der Pressekonferenz zu Happy-Go-Lucky 2008

Seit langem schon ist Mike Leigh der Berlinale tief verbunden. Seine schwarze Komödie Meantime mit Tim Roth gewann 1984 den Leserpreis des Berliner Stadtmagazins zitty. Seitdem präsentierte der Regisseur seine Filme im Panorama, im Forum und – last but not least – im Wettbewerb: Happy-Go-Lucky, eine Komödie über eine Lehrerin im Norden Londons, brachte Hauptdarstellerin Sally Hawkins 2008 einen Silbernen Bären als Beste Schauspielerin ein. Zuletzt leitete Mike Leigh eine Masterclass für junge Regisseure auf dem Berlinale Talent Campus 2010.

Mike Leigh gehört zu einer Generation von Filmemachern, die in den frühen 1970er Jahren das Ruder im britischen Kino übernahmen. Er ist – wie Ken Loach und bis zu einem gewissen Punkt auch Stephen Frears – im Windschatten der Vorgängergeneration groß geworden. Regisseure wie Lindsay Anderson, Karel Reisz, Tony Richardson und John Schlesinger prägten ein britisches Kino, das sich dem Sozialen verpflichtet fühlte.

Mike Leigh inmitten seiner Jurykollegen

Einer der vielseitigsten Regisseure seiner Generation

Mike Leighs Vielseitigkeit ist außerordentlich. Von anarchistischer Raserei (Naked), Sozialkomödie (Topsy-Turvy) oder heiterem Idealismus (Happy-Go-Lucky) über mitfühlende Beobachtung (Vera Drake) bis hin zu einem scharfsinnigen Verständnis von Familienangelegenheiten (Secrets and Lies oder Another Year): Mike Leigh beherrscht die gesamte Bandbreite der filmischen Klaviatur.

Im Alter von 29 Jahren realisierte Mike Leigh seinen ersten Kinofilm. Vor dem düsteren Hintergrund Südlondons zeigt Bleak Moments (1972) die scheiternden Versuche einer Handvoll sozialer Außenseiter miteinander zu leben – ein zugleich humorvolles, rührendes, grimmiges und tragisches Scheitern.

Erst 15 Jahre später sollte Mike Leigh zum Kino zurückkehren. In der Zwischenzeit konzentrierte er sich auf das Fernsehen und das Theater. Seine TV-Filme wie Nuts in May (1976) oder Abigail’s Party (1977) wurden hoch gelobt und als die Thatcher-Jahre begannen, warf Mike Leigh einen giftigen Blick auf die soziale Landschaft im England der 1980er Jahre.

Mike Leigh verkündet den Gewinner des Goldenen Bären 2012

Individuelle Universen

„Mein Instinkt lässt mich die Gesellschaft als Gesellschaft sehen“, hat Mike Leigh einmal gesagt. „Aber Gesellschaft funktioniert eben nur nur auf der Grundlage der Prinzipien von Individualität. Ich kann nicht auf eine Menschenmenge schauen, ohne tausende Individuen zu sehen. Was mich fasziniert ist, dass jeder von uns anders ist. Deshalb ist in meinen Filmen grundsätzlich jede Figur, ob klein oder groß, auf natürliche und vollkommene Weise das Zentrum ihres Universums.“

Während seiner gesamten Karriere war es für Mike Leigh immer recht schwierig, Produzenten von seinen Projekten für die große Leinwand zu überzeugen. Der Grund dafür ist seine Arbeitsweise: Er meidet sorgsam aufpolierte Drehbücher und bevorzugt es stattdessen, seine Filme und die Ideen in ihnen mit seinen Lieblingsschauspielern zu entwickeln. Entgegen der Mehrheit von Filmemachern, die sich dem Sozialen verschreiben, sind Mike Leighs Arbeiten niemals schulmeisterlich oder doktrinär. Seine Figuren schälen sich nach und nach aus ihren Lebensverhältnissen heraus, wie die Büste aus der Bronze des Bildhauers. Dank seiner Arbeitsweise können Schauspieler wie Ruth Sheen, Imelda Staunton, Jim Broadbent und Lesley Manville unermesslich viel zu Mike Leighs filmischen Welten beitragen. So entstehen kinematographische Kosmen voller Gelächter und Tränen, Schuldzuweisungen und Vergebung.

Erst 1988, als er schon Mitte 40 war, wurde Mike Leigh durch High Hopes auch außerhalb Englands als wahrer Auteur anerkannt. Seitdem haben seine neun Spielfilme das weltweite Publikum scharfsinnig unterhalten und zahlreiche Auszeichnungen abgeräumt: Fünf der Werke wurden für den Oscar nominiert, mit Vera Drake (2004) gewann er den Goldenen Löwen in Venedig, mit Secrets & Lies (1996) die Goldene Palme in Cannes.

Vor dem Beginn des Festivals freute sich Mike Leigh auf seine Aufgabe als Präsident der Internationalen Jury bei der Berlinale 2012: „Meine Mitjuroren und ich werden die Arbeiten unserer Kollegen mit großer Begeisterung genießen. Ich freue mich unbändig auf diese Erfahrung.“