2009 | Retrospektive

70 mm – Bigger Than Life

Mit dem 70-mm-Film stehen die bahnbrechende Wirkkraft des Breitfilms und die deutlich verbesserte Filmtonqualität im Mittelpunkt der Retrospektive der 59. Internationalen Filmfestspiele Berlin. Das 22 Langfilme umfassende Programm in den Kinos International und Cinestar8 wird durch Begleitveranstaltungen ergänzt, in denen sich internationale Gäste näher mit den historischen Auswirkungen und gegenwartsbezogenen Aspekten des Themas beschäftigen. Im Gespräch gibt Rainer Rother, der Leiter der Retrospektive, Auskunft über die Besonderheiten des Formats, die Auswahl der Filme und die inhaltliche Ausrichtung der geplanten Diskussionen.

'Hello, Dolly!' (Gene Kelly; 1968)(Deutsche Kinemathek)

Barbra Streisand und Marianne McAndrew in Gene Kellys Hello, Dolly! (USA 1968)

Die thematische Ausrichtung der Retrospektive 2009 wird durch einen technischen Aspekt des Mediums bestimmt. Technik macht Film ja bis zu einem gewissen Grad als Medium aus und setzt auch Rahmenbedingungen und Grenzen für ästhetische Vorhaben. Gleichwohl könnten auf den ersten Blick die ausgewählten Filme unterschiedlicher nicht sein. Bringt das Format dennoch Niederschläge mit sich, die sich trotz unterschiedlicher Produktionskontexte in allen 70-mm-Filmen feststellen lassen?

Zunächst sollte man grundlegend festhalten: 70 mm ist ein grandioses Material, was die Bildwirkung und den Toneindruck angeht. Es ist aber, technisch gesehen, für die Produktion zugleich ein relativ aufwendiges Format, unter anderem, weil die Kameras in der Regel sehr viel größer und schwerer sind als bei 35 mm. Und es ist natürlich ein teures Format. 70 mm lässt sich meines Erachtens als Versuch sehen, die brillantestmöglichen Bilder zu bekommen und dadurch unter anderem eine zusätzliche Attraktivität für das Medium Film zu schaffen, auch in der Konkurrenz mit dem Fernsehen, die in den 50er Jahren allmählich fühlbar wird.

Dreharbeiten zu 'West Side Story' (USA 1960/61, Regie: Robert Wise, Jerome Robbins); Quelle: Cinémathèque Suisse, Lausanne

Dreharbeiten zu West Side Story (USA 1960/61, R.: Robert Wise, Jerome Robbins)

Musik- und Antikfilme brillieren in Bild und Ton

Bedeutet das auch, dass es Gestaltungsformen gibt, die das Format begünstigt, die Kameraarbeit betreffend, die Auswahl der Bildausschnitte, die Montage? Oder sind bestimmte Narrationsformen oder Geschichten in den Filmen besonders präsent?

Dadurch, dass es ein teures Produktionsformat ist, sind eigentlich schon bestimmte Entscheidungen getroffen. Bei 70 mm haben wir es im Allgemeinen mit Filmen zu tun – jedenfalls wenn wir von dem westlichen Produktionssegment reden –, die als Blockbuster konzipiert waren. D.h., es wurden für die 70-mm-Produktionen in erster Linie Geschichten verfilmt, von denen man eine Massenwirksamkeit erwartete. Es wurden große Regisseure verpflichtet und – was eigentlich noch entscheidender war – berühmte Stars für die Hauptrollen gewonnen. Fragt man nach den bevorzugten Geschichten oder Genres für diese Blockbuster in spe, stößt man ohne Umschweife auf die Musicals, die eine enorme Rolle in der Produktionslandschaft spielten.

Mit Blick auf die Sowjetunion sollte man jedoch allgemeiner vom Musikfilm sprechen, da hier statt bunter Musicals Werke wie Tschaikowski entstanden, die ebenfalls die Musik in den Mittelpunkt stellten. Das hängt mit dem 6-Kanal-Magnetton zusammen, welcher ein Klangerlebnis ermöglicht hat, das völlig unvergleichlich war in der damaligen Zeit und auch heutigen Ansprüchen vollständig genügt. Damit stellte der Musikfilm ein ideales Betätigungsfeld für das 70-mm-Format dar.

Eine weitere 70-mm-Genreaffinität lässt sich an der vielfachen Produktion von Antik- oder Historienfilmen ablesen, was natürlich mit den Möglichkeiten des Bildes zusammenhängt. Wenn man an die Wagenrennensequenz in Ben-Hur denkt, überhaupt an die großartigen Bilder in diesen Antikfilmen, oder auch an El Cid von Anthony Mann, wo es ja um eine Geschichte des christlichen Widerstands in Spanien gegen die Sarazenen ging, dann sind diese riesigen Tableaus, diese Massenszenen natürlich schon ein Selling Point für diese Filme.

Wird - überspitzt formuliert - durch diese Bildgewalt die Grenze zum Pathos eher überschritten als das bei anderen Formaten der Fall wäre?

Nein, das muss gar nicht so sein. Es gibt ja Filme wie In 80 Tagen um die Welt oder Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten, die sicherlich auch spektakuläre Bilder und wunderbare Schauplätze beinhalten und auch mit den Möglichkeiten des Formats spielen, die aber vom Pathos her gar nicht übersteigert sind, sondern eher einen ironischen Grundton haben. Auch Komödien sind in 70 mm möglich gewesen. Das Format bedeutet keine eindeutige Festlegung auf bestimmte Erzählformen, Geschichten oder Genres, so wie es das Cinemascope ja auch nicht getan hat. Der 70-mm-Film legt allerdings unter den Bedingungen der Produktion nahe, dass es sich um besonders erfolgreiche Filme handeln muss, deswegen sind die Flops auch so schmerzhaft. Wenn The Fall of the Roman Empire seine Produktionskosten nicht wieder einspielt, und das hat er nicht getan, dann gefährdet das mitunter tatsächlich das Studio oder führt eben in der Folge auch zu einer Abkehr vom Antikfilm.

Welche Auswahlkriterien gab es für die Filme, die nun auf der Berlinale gezeigt werden? War es in erster Linie eine Frage der Zugänglichkeit und Aufführbarkeit?

Die Verfügbarkeit von Filmkopien in guter Qualität ist natürlich eine Frage, die bei filmhistorischen Retrospektiven grundsätzlich immer mehr an Bedeutung gewinnt. Zunächst einmal ging es uns aber darum, mit den 22 Lang- und einigen Kurzfilmen, die wir zeigen, einen Überblick über die 70-mm-Filmproduktion weltweit zu geben und ihre Vielfalt widerzuspiegeln. Es gibt nur selten Gelegenheit, eine größere Auswahl von 70-mm-Filmen einem so breiten Publikum zugänglich zu machen, wie es die Berlinale hat. Vor diesem Hintergrund war es unser Ziel, die wichtigsten Produktionsländer im internationalen Vergleich zu präsentieren, die unterschiedlichen Technologien zu demonstrieren und die Spielbreite an Themen und Genres zu zeigen, die das 65- oder 70-mm-Aufnahmeformat bestimmten.

Peter O'Toole, Anthony Quinn in 'Lawrence of Arabia' (David Lean; 1961-62)(Cinémathèque Suisse, Lausanne)

Peter O'Toole und Anthony Quinn in Lawrence of Arabia (R.: David Lean; GB 1961-62)

Aber natürlich ist das 70-mm-Kino auch und zuerst ein Überwältigungskino, das in hohem Maße von seiner visuellen und klanglichen Opulenz lebt. Und darum war es uns bei dieser Retrospektive mehr noch als in anderen Jahren wichtig, in puncto Kopienqualität möglichst keine Abstriche zu machen. Das hatte Konsequenzen für die Filmauswahl. Bei unseren umfangreichen Recherchen in Archiven und Studios auf der ganzen Welt mussten wir feststellen, dass von manchen Schlüsselwerken derzeit keine spielbaren 70-mm-Kopien existieren. So wurde zwar zum Beispiel von Otto Premingers Exodus gerade erst eine schöne neue 35-mm-Kopie vorgestellt, aber alle bekannten 70-mm-Kopien kamen wegen ihrer Farbstichigkeit für uns nicht in Frage. Auch der mechanische Zustand ist oft ein Problem: Viele archivierte Kopien würden eine Vorführung möglicherweise nicht mehr unbeschadet überstehen.

Umso mehr freut es uns, dass die Retrospektive der Auslöser dafür wurde, dass das Bundesarchiv-Filmarchiv jetzt mit großem Aufwand eine neue 70-mm-Kopie von Flying Clipper herstellt. Dieser Film – der erste, der mit der in Deutschland entwickelten relativ leichten und damit beweglichen MCS-70-Kamera gedreht wurde – konnte seit vielen Jahren nicht mehr gezeigt werden und wird jetzt bei uns in alter Schönheit wiederaufgeführt.

Swetlana Shgun in 'Powest Plamennych Let' (Regie: Julia Solnzewa, UdSSR 1960-61); Quelle: Staatliche Filmhochschule für Kinematographie Sergej Gerassimow, Moskau (WGIK)

Swetlana Shgun in Julia Solnzewas Powest Plamennych Let (UdSSR 1960-61)

Von Digitalisaten und der Sorge ums Filmerbe

Ist die Themensetzung auch ein Statement für die Materialität von Film in Zeiten, in denen die Digitalisierung voranschreitet und die Kinos mehr oder weniger willentlich dazu getrieben werden, sich darauf einzustellen?

Wir beschäftigen uns natürlich wie jedes Archiv weltweit mit den Problemen, die durch die Digitalisierung auf uns zukommen, und wir wissen auch, dass wir uns da positionieren müssen. Es wird eine Zeit geben, in der wir Digitalisate sammeln und nicht mehr Polyesterfilm. Vielleicht werden wir zur Sicherung dann immer noch auf Acetat- oder Polyesterfilm zurückgreifen, aber diese Herausforderung besteht. Wenn wir jetzt eine 70-mm-Retrospektive machen, steht also nicht die Absicht im Vordergrund, zu sagen, Film sei nur das, was auf einem 35- oder 70-mm-Filmstreifen existiert.

Dieses Programm ist allerdings durchaus ein Plädoyer dafür, die Pflege historisch bedeutsamer Filmformate nicht zu vernachlässigen, und in dieser Hinsicht sehen wir uns einig mit zahlreichen Kollegen und Institutionen weltweit. Unseres Erachtens ist die Ausgangssituation für diese Retrospektive sehr gut, weil einige Studios in Amerika sich gerade in jüngerer Zeit sehr intensiv um das eigene Filmerbe gekümmert haben und wir deswegen in der glücklichen Lage sind, die Hälfte des Programms in relativ neuen, teilweise restaurierten Kopien zu zeigen. Das wäre vor fünf Jahren noch gar nicht möglich gewesen, und das trug natürlich dazu bei, dass wir uns jetzt diesem Thema gewidmet haben.

Die Retrospektive 2009 trägt auch „Bigger than Life“ im Titel. Hat das neue Format historisch betrachtet die Frage der Repräsentierbarkeit von Wirklichkeit noch einmal neu aufgeworfen oder werden die Bilder eher fantastisch überhöht?

„Bigger than Life“ ist ja normalerweise ein Ausspruch, der für das Kino allgemein gilt, wenn es bestimmte Erzählformen bedient. Außerdem gibt es natürlich das gleichnamige Melodram von Nicholas Ray. Wir haben versucht, den Titel ein bisschen ironisch einzusetzen in Anspielung auf den überwältigenden Bildeindruck, den die Einrichtung der 70-mm-Kinos für das damalige Publikum mit sich brachte. Heute kennen wir ähnlich überwältigende Bildeindrücke als Normalität in den Multiplexen oder etwa im IMAX, aber dieses Riesenbild mit dieser brillanten Auflösung, das wirkte damals im Vergleich zum 35-mm-Film als ein richtiger Qualitätssprung. Und insofern wirkte es plastischer und damit fast natürlicher als das wirkliche Leben, darauf spielen wir ein bisschen an.

Die Filmwelt war von Beginn an mit wirtschaftlichen Sphären eng verflochten. Inwiefern waren neben der Einführung auch für den späteren Niedergang des 70-mm-Formats ökonomische Kriterien ausschlaggebend?

Eigentlich könnte man argumentieren, dass die 70-mm-Filmproduktion in dem Moment nachgelassen hat, als das 35-mm-Negativmaterial besser wurde. Dadurch, dass also der Qualitätsvorteil von 70 mm zu 35 mm nicht mehr so eklatant war, fallen die Entscheidungen für bildgewaltige Filme zunehmend zugunsten des billigeren 35-mm-Materials. Zugleich hat das aber in der Distribution – jedenfalls in den 70er und 80er Jahren – nicht dazu geführt, dass 70 mm nicht mehr gezeigt wurde. So hat man Blow-ups von 35-mm-Negativen hergestellt und in sogenannten Road-Shows die 70-mm-Kinos bespielt, und zwar mit großem Erfolg, wie man an Filmen wie dem ersten Indiana Jones oder Die Hard sehen konnte.

Donatas Banionis in Konrad Wolfs 'Goya' (DDR/UdSSR 1969-71); Quelle: DEFA-Stiftung/Arkadi Sager

Donatas Banionis in Konrad Wolfs Goya (DDR/UdSSR 1969-71)

Fokus auf Technik und Ästhetik

Werden solche ökonomischen Dimensionen in den Diskussionsveranstaltungen während der Retrospektive aufgegriffen?

Ökonomische Erwägungen spielen im Kino immer eine zentrale Rolle, und das gilt für 70 mm angesichts der enormen wirtschaftlichen Tragweite jeder Entscheidung sicher in noch viel stärkerem Maße als für 35 mm. Insofern werden diese Fragen sicher auch in den Diskussionen bei uns von Bedeutung sein. Wir werden uns in unserem Begleitprogramm dennoch eher auf die technischen und ästhetischen Aspekte konzentrieren und reflektieren auf diese Weise auch den Stand der filmhistorischen Forschung, in der die ökonomischen Fragen nicht im Vordergrund stehen. Überdies rücken wir damit jene Unterschiede zwischen den Formaten in den Fokus, die wir auch tatsächlich im Kino sichtbar machen können.

Und wie wird der Fokus entsprechend in den Veranstaltungen gesetzt? Sind Gäste zu einzelnen Filmen geladen oder eher Filmgeschichts- und Technik-Experten?

Wir planen Gespräche mit Kameraleuten und anderen Filmschaffenden, die mit 70 mm gearbeitet haben, um aus ihrer Sicht zu erfahren, worin die spezifischen Besonderheiten oder auch Schwierigkeiten mit der Technik liegen. Wir werden sicher auch ein Panel zu verschiedenen Aspekten des heutigen Umgangs mit 70-mm-Filmen veranstalten, auf dem neben der Restaurierung die Präsentationsformen und möglicherweise die Distribution thematisiert werden. Wir hoffen darauf, dass einige Regisseure oder sonst an der Produktion Beteiligte ihre Filme bei uns vorstellen werden. Und natürlich laden wir wie immer die Kollegen aus den Archiven und den Studios ein, die uns unterstützt haben.

Auch heute wird ja 70-mm-Material noch in der Filmproduktion verwendet, hauptsächlich für Spezialeffekt-Aufnahmen bzw. für IMAX-Produktionen. Gab es in der Planungsphase der Retrospektive auch Erwägungen, diese Dimension in das Programm einfließen zu lassen?

Wir haben kurz daran gedacht, das miteinzubeziehen, man bekommt dann aber große Probleme in der Auswahl, da einfach sehr viele Filme gerade bei den Spezialeffekten auch mit 70-mm-Material gearbeitet haben. Deswegen haben wir uns früh entschieden, nur Filme zu zeigen, die sowohl auf 65 oder 70 mm gedreht als auch als 70-mm-Kopien in die Kinos gekommen sind. Wir werden aber versuchen, diese aktuellen Tendenzen im Begleitprogramm zu berücksichtigen. Beispielsweise ist eine Diskussion mit Frank Griebe und Tom Tykwer zum Berlinale-Eröffnungsfilm The International geplant, für den ebenfalls 70mm-Sequenzen gedreht wurden.