2022 | Artistic Director's Blog

Über Mae West

She Done Him Wrong von Lowell Sherman

Carlo Chatrian war von Juni 2019 bis März 2024 Künstlerischer Leiter der Berlinale. In seinen Texten nähert er sich dem Festival, herausragenden Filmschaffenden und dem Programm auf persönliche Art und Weise.

1. Mae West war in Hollywood ein Fremdkörper. Weder hatte sie den Körperbau einer typischen Hollywood-Schauspielerin, noch verfügte sie über die Technik und die Ausdrucksweise, die das Kino seinen Geschöpfen damals aufzwang. Hollywood legte Wert darauf, dass „seine“ Frauen wie eine Meeresbrise duften und an schlanke Palmen erinnern. Mae West hingegen ist eine Erinnerung daran, dass man das Meer vor allem durch seine Häfen kennenlernt. Das Meer lässt die Haut dunkler werden, und es salzt und schärft die Sprache.

Mae West ist die Verkörperung Brooklyns – und das nicht nur, weil sie bestimmte Konsonanten so trocken ausspricht. Hier wuchs sie auf. Im Schatten der Wolkenkratzer von Manhattan kultivierte sie ihre produktiven Widersprüche. Mae West ist eine Stimme, die an den Blues erinnert, wenn sie ihr berühmtes Hüftenwackeln sehen oder ihr Knurren hören lässt. Ihr rhythmischer Gang erinnert an einen tänzelnden Boxer – nicht im Ring, sondern auf dem Gehsteig einer Nebenstraße, wo das Gewicht der Persönlichkeit mehr wiegt als die Körperkraft.

„Zum Schreiben kam ich, indem ich an den Texten herumbastelte, die andere für mich geschrieben hatten und die ich auf der Bühne sprechen sollte. Bald begann ich, ausgehend von einem Gedanken, einem Bild, einem Kostüm oder einem Lied meine eigenen Texte zu schreiben und zu ganzen Bühnenakten auszuarbeiten. Ich schrieb so, wie ich spielte: frech und laut, mit einem Gespür für Applaus und ironischen Zwischentönen, aber immer mit einem klaren Bewusstsein für meinen eigenen Wert.
Ich erkannte immer deutlicher: Hinter dem Symbol, zu dem ich wurde, steckte eine Menge brauchbares Material für Schauspielerei, Satire und ironische Kommentare zum Krieg der Geschlechter und zu den ewigen Auseinandersetzungen, zu diesem nie endenden Kampf und Gerangel zwischen Männern und Frauen. Ich habe dieses Thema vielleicht nicht so ernsthaft behandelt wie Havelock Ellis oder so tiefschürfend wie Sigmund Freud, Adler, Jung oder Dr. Kinsey, aber ich glaube, wenn wir die Möglichkeit gehabt hätten, uns alle zusammenzusetzen und das Thema in Ruhe auszudiskutieren, hätte man meinen Gedanken mit einer gewissen Ehrfurcht gelauscht...“*

Klondike Annie von Raoul Walsh

Noch deutlicher zeigt sich das Unverwechselbare an Mae West in ihrem Widerstand gegen die Kinosprache und vor allem gegen das System des klassischen Filmschnitts. Für sie ist das Kino eine potenzierte Bühne. Und wie auf jeder Bühne ist auch dort Präsenz das A und O. Mae West schaut in die Kamera, wendet sich direkt an ihr Publikum, bricht mit dem Realismus und bringt die unsichtbare Montage in Gefahr, die sich Hollywood in den 1930er und 1940er Jahren auf die Fahnen geschrieben hatte. Mae West setzt sich über die Begrenzungen des Bildausschnitts hinweg und bewegt sich so, als wäre sie noch am Broadway, erzwingt eine forsche Frontalität, verändert den Szenenrhythmus, vereinfacht die Geschichten zugunsten einer Akzentuierung der Charaktere. Das System Mae West kennt weder Ausnahme noch Anpassung. Das, was ihre Stärke ausmacht – das in sich geschlossene Modell, undurchlässig und resistent gegen jegliche störende Einflüsse von außen –, schränkt sie zugleich ein. Mae West arbeitet nicht mit Regisseuren, die ihr eine bestimmte Sprache aufzwingen: Dafür bringt sie kein Interesse auf und vielleicht auch nicht die Fähigkeiten mit. Wie auch andere revolutionäre Schauspieler (Chaplin, Keaton) ist Mae West eine glanzvolle Ausnahmeerscheinung, die reihenweise oberflächliche Nachahmer*innen, aber keinen einzigen echten Jünger hatte.

2. Mae Wests Hollywood-Abenteuer verdankt sich einer wohl einmaligen Situation. In den frühen 1930er Jahren musste Hollywood grundlegend umdenken: Die Krise von 1929 und der tote Punkt, an dem das System sich in der Übergangsphase zwischen Stummfilm und Tonfilm befand, hatten unverhoffte Freiräume geschaffen und für eine Offenheit in der neu entstehenden Filmindustrie gesorgt. Mae West kommt nach Hollywood, weil sie zu reden versteht und sofort begreift, dass es dort – mehr noch als am Broadway – vor dem Reden auf das Schreiben ankommt. Wer schreibt, hält die Schlüssel zur Macht, wenn nicht zum Geld in der Hand.

Mit Patricia Farley in Night After Night von Archie Mayo

Mae Wests Erscheinen in der Filmwelt schlägt ein wie ein Blitz, der die Produzenten und Publikum gleichermaßen überrascht wie verzaubert. Sie werden auf eine neue Art verführt – nicht durch Charme, sondern durch physischen und verbalen Überschwang. Mit nur wenigen Filmen gelingt Mae West ein doppelter Durchbruch: Sie etabliert nicht nur sich selbst, sondern auch eine absolut revolutionäre Art des Frau-Seins. Wie ein Manifest zu dieser Pionierleistung wirkt ihr Auftritt in Night After Night (USA 1932). Die geniale Replik, mit der sie den Zusammenhang zwischen „Goodness“ und ihren Diamanten umkehrt, ist der Auftakt zu einer Szene, in der ihre auf der Ebene des Drehbuchs zweitrangige Figur, das Timing der Dialoge vorgibt, allen die Schau stiehlt und schließlich den Protagonisten mitsamt seinem romantischen Plan, sie zu umgarnen, k. o. schlägt. Apropos k. o.: Zu gerne hätte ich einmal Groucho und Mae zusammen erlebt – beide haben einen ähnlichen Umgang mit Sprache, der das Gegenüber sprachlos macht.

„Die Frauen versuchten, meinen Gang und meine Sprache zu imitieren. Kaum wurde irgendwo mein Name erwähnt oder fiel eine Federboa zu Boden, traten Mae-West- und Diamond-Lil-Kopien auf den Plan; es war wie eine Seuche. Die Frauen wurden sexbewusster, und das war für einige Männer ein großer Durchbruch und für andere ein Ärgernis. Der Sex hatte seinen Auftritt in der Öffentlichkeit und erwies sich als unterhaltsam.“**

Every Day’s a Holiday von A. Edward Sutherland

Der Sex und Mae Wests Art von ihm zu sprechen, reich an expliziten Zweideutigkeiten, fällt besonders ins Auge. Wie frei sie mit Gefühlen umgeht, Regeln für die Liebesbeziehung diktiert und Rollenbilder untergräbt – all das wurde später vom Bannstrahl des Hays Codes getroffen, der eine regelrechte Welle des Puritanismus auslöste. Weit mehr als an den lasziven Bemerkungen ihrer frivolen Figuren – stets am Rande der Legalität – störte man sich an der Rolle der Frau. Die Frau, die Mae West verkörpert, ist Herrin ihres eigenen Schicksals und zeigt sich kampfbereit, wenn es darum geht, das Heft des Handelns nicht aus der Hand zu geben. Zu ihrer Rolle gehört nicht nur, die Männer in ihre Schranken zu weisen, sondern Frauen Mut zu machen, ihrem Beispiel zu folgen. Womöglich hätte Mae West die Vereinigten Staaten um Jahrzehnte nach vorne bringen können, vor allem wenn man bedenkt, was für ein Echo ein solcher Entwicklungsschub in Europa hervorgerufen hätte, wo zwischen den beiden Kriegen die Frauen deutlich in der Überzahl waren. Leider nahm die Geschichte einen anderen Verlauf, aber vielleicht haben ihre Persönlichkeit und ihre Filme uns gerade deshalb heute so viel zu sagen.

Carlo Chatrian


* Zitiert nach: Mae West: Goodness had nothing to do with it: The Autobiography of Mae West, S. 72 f, im Original: “I began writing by tinkering with the lines assigned to me, written by others, and I was soon on the path of beginning my own texts with just an idea, a picture, a costume or a song, and developing an entire act. I wrote the way I performed: boldly and loudly, I suppose, with an applauding dash and ironic overtones. But always with an awareness of my worth. I had a proper understanding which grew stronger; that behind the symbol I was becoming, there was much good material for drama, satire and some kind of ironic comments on the wars of sexes and the eternal engagement and grappling between men and women in a battle that never ends. I did not perhaps treat the subject as seriously as Havelock Ellis, or as deeply as Sigmund Freud, Adler, Jung or Dr Kinsey, but I think if we all could have sat down and discussed the subject fully, my ideas would have been listened to with some sense of awe… “

** Zitiert nach: Mae West: Goodness had nothing to do with it: The Autobiography of Mae West, S. 152, im Original: “Women were trying to walk and talk like me, and Mae West-Diamond Lil imitations, both amateur and professional, sprang up like a plague at the drop of the name or a feather boa. Women became more sex-conscious, and this, for some men, was a big break; for others, a bother. Sex was out in the open, and amusing.”