2022 | Artistic Director's Blog

Zwischen Bild und Wirklichkeit: Isabelle Huppert

Carlo Chatrian war von Juni 2019 bis März 2024 Künstlerischer Leiter der Berlinale. In seinen Texten nähert er sich dem Festival, herausragenden Filmschaffenden und dem Programm auf persönliche Art und Weise.

In Fritz Langs The Woman in the Window (Gefährliche Begegnung, USA 1944) bleibt ein Professor, gespielt von Edward G. Robinson, beim Verlassen seines angestammten Clubs vor einem Schaufenster stehen, in dem ihm das gemalte Porträt einer jungen Frau ins Auge fällt. Unvermutet verdoppelt sich das Bild: Zu der gemalten Frau erscheint im Schaufenster das Spiegelbild einer anderen Frau, die genauso aussieht. Die Frau lädt den Professor zu sich nach Hause ein, wo dessen wohlgeordnetes Leben aus den Fugen gerät. Robinson verkörpert als Professor in Pantoffeln, wie Luc Moullet treffend bemerkt hat, auf perfekte Weise den Bürger, der in jedem von uns steckt. Ein vorsichtiger Langeweiler, den die Grenzüberschreitung lockt. Vor ihm erscheint – außer einer Schaufensterscheibe – ein Bild, inkarniert in einem Körper, der für die gesamte Dauer des Films ebenso wie das gemalte Bild ein reines Objekt des Begehrens bleiben wird. So nah vor Augen und doch so fern.

Isabelle Huppert bei der Berlinale 2006, wo sie mit Claude Chabrols L'ivresse du pouvoir Premiere feierte

Ich habe zum Einstieg diesen Umweg gewählt, weil Joan Bennett in der beschriebenen Szene etwas an sich hat, das mich an Isabelle Huppert erinnert. Auch sie erscheint sehr oft wie ein Wesen aus einer Museumsvitrine – mehr noch als im viktorianischen Zeitalter bewegen wir uns mit ihr in der Domäne der flämischen Malerei. Genau wie Joan Bennett besitzt Isabelle Huppert die Fähigkeit, den Zuschauenden aus seiner Komfortzone zu reißen und in ungewohnte und gefährliche Gefilde zu entführen. Auch sie wird – vor allem in den Filmen, die im Rahmen ihrer außergewöhnlichen Zusammenarbeit mit Claude Chabrol entstanden – zu einem Spiegel, durch den die Verlogenheit der Bourgeoisie sich offenbart. Auch sie kokettiert fortwährend mit der Spannung zwischen Repräsentation und Wirklichkeit, ist Objekt des Blicks sowie der Blick selbst, der antwortet und in Frage stellt. Während die meisten Schauspielerinnen ein Bild zu erzeugen suchen, das auf unmittelbare Weise verführt, und damit ein wiedererkennbares Frauenmodell verkörpern, drängt sich bei Isabelle Huppert stets der Eindruck jener Verdoppelung zwischen Bild und Wirklichkeit auf, das Lang auf so wunderbare Weise in eine einzige Kameraeinstellung übersetzt hat. Isabelle Huppert ist seit ihren cineastischen Anfängen um Abstand bemüht und überlässt es den Zuschauer*innen, mit den Sehnsüchten, Dämonen und Widersprüchen, die ihre Rollen auslösen, zurechtzukommen.

La dentellière

In Claude Gorettas La dentellière (Die Spitzenklöpplerin, Schweiz 1977) gibt es eine in diesem Kontext recht aussagekräftige Szene. In der Halbtotalen ist die junge Pomme zu sehen, die ein Schokoladeneis isst. Langsam führt sie den Löffel zum Mund. Kurze Pause. Es folgt ein zweiter Löffel. Aus dem Off ist die Stimme eines jungen Mannes zu hören; Pomme hört die Stimme und antwortet genauso seelenruhig, wie sie ihr Eis genießt. Bei aller Schüchternheit fühlt sich das Mädchen sichtlich wohl. Sie hat keine Scheu vor der Anwesenheit des Mannes, unternimmt aber auch nichts, was ihm die Gelegenheit eröffnen würde, sich anzunähern. Noch bedeutsamer ist die Perspektive, aus der die Szene dargestellt wird. Wie in einem Gemälde sehen wir uns einem Bild gegenüber: Obwohl auf der Erzählebene eine Annäherung der beiden Figuren stattfindet, verharrt die Kamera in einem Abstand, den wir als soziale Distanz definieren könnten. Pomme wird nicht aus der Perspektive des jungen Mannes aufgenommen, sondern frontal wie beim Blick auf eine Theaterbühne. Oder beim Blick auf ein Gemälde. Pomme hält inne, schaut kurz ins Off, ohne ihre Haltung zu verlieren; ihre Bewegungen sind langsam und wohlkalkuliert, als würde gerade jemand ein Porträt von ihr anfertigen. Der Rhythmus der Gesten, die sparsamen Worte, die Art der Aufnahme entrücken die Szene aus dem Bereich des Wirklichen.

Isabelle Huppert – ausgebildet am Theater, dem sie immer verbunden blieb – hat ein ausgeprägtes Bewusstsein dafür, dass das Kino nicht die Wirklichkeit ist. Der Grundrealismus des cineastischen Erzählens ist ein sehr wirkungsvolles Instrument, um den Betrachtenden in das Geschehen hineinzuziehen, und zugleich eine Falle, wenn er mimetisch eingesetzt wird. In keiner der Figuren, die sie spielt, sucht Huppert nach Identifikation. In ihrer Grundhaltung, in der Wahl und Interpretation ihrer Rollen hält sie Distanz zur Kamera und zu den Zuschauenden, die durch die Kamera zum Geschehen in Beziehung treten. Es gibt eine Fähigkeit oder Technik, die Isabelle Huppert brillant beherrscht: sich von der Wirklichkeit zu lösen, ohne die Aufmerksamkeit auf diesen Prozess zu lenken. Häufig ist der prägende Ausdruck einer Szene, eines Gemütszustands, einer Figur - und mag er noch so stark und emblematisch sein - der krönende Abschluss einer solchen langsamen, fortschreitenden und unmerklichen Ablösung von der Wirklichkeit.

Mit Benoît Magimel in La pianiste

Beispielhaft zeigt sich dies an der berühmten Grimasse in La pianiste (Die Klavierspielerin, Frankreich 2002, Regie: Michael Haneke). Die gesamte Szene basiert auf ihrer Großaufnahme (nach Balázs‘ Definition der „Mikrobewegung“) und seiner Abwesenheit. Nachdem Walter Kemmler vorübergeeilt ist, ohne dass die Filmkamera ihn zu fassen bekommt, zeigt sich die unerwartete Geste: Das stets kontrollierte Gesicht öffnet sich zu einer Grimasse, bitter, heftig und schmerzhaft zugleich. Die Wunde, die Erika sich selbst zufügt, ist die Folge dieser Grimasse. Eine Wunde wie ein sardonisches Lächeln. Ein kleines Blutrinnsal, das sich auch mit einer sehr kleinen Hand verdecken lässt. Die Szene endet mit einem überraschenden Ebenenwechsel: In einer breiten Außenansicht ist zu sehen, wie Erika in einem synkopischen Gang vor der Front des Theaters, deren Hell-Dunkel-Kontraste an die Tasten eines Klaviers erinnern, davongeht.

8 femmes

Schwarz und Weiß. Bei Isabelle Huppert arbeiten Mund und Augen häufig in entgegengesetzte Richtungen. Sie unterhalten eine dialektische Beziehung: Die Augen stellen Fragen, der Mund wahrt den Abstand. Die Augen sind das Tor für ein kaum beherrschbares Gefühl, der Mund ist das Vehikel für eine gnadenlose Ironie. Bisweilen kehren sich die Rollen um: Die Augen werden kalt und eisig, und der Mund öffnet sich zu einem breiten und mitreißenden Lächeln. In François Ozons 8 femmes (8 Frauen, Frankreich 2002), der sich an der Reinheit der Gesichter, am Weiß der Haut begeistert, spielt die von Isabelle Huppert verkörperte Figur mehr als alle anderen mit den Farben – mit dem Grün (das an einen späten Frühling denken lässt) und dem Ziegelrot der Kleidung, das mit dem intensiveren Rot der Haare flirtet. Die grellen Farben der Kleidung lösen sich auf, wenn das Gesicht in Großaufnahme gezeigt wird. In der Gesangsszene werden durch die Idee, Hände, Mund und Augen durch Handbewegungen voneinander zu trennen, die beiden Pole des Gesichts von Isabelle Huppert zur Geltung gebracht und eine Dramaturgie geschaffen, die im Alleingang auf scherzhafte und zugleich höchst dramatische Weise die Tiefe der Figur sichtbar macht, die bis dahin in ihrer choreografischen Dimension gefangen war.

Carlo Chatrian