2020 | Artistic Director's Blog

Über Monica Vitti

Monica Vitti mit dem damaligen Leiter der Berlinale Alfred Bauer 1971

Carlo Chatrian war von Juni 2019 bis März 2024 Künstlerischer Leiter der Berlinale. In seinen Texten nähert er sich dem Festival, herausragenden Filmschaffenden und dem Programm auf persönliche Art und Weise.

Immer wieder schaue ich das Foto an. Ich versuche darin etwas zu finden, was mir die darauf abgebildete Persönlichkeit wiedergibt, diese Ausnahmeschauspielerin, die in der Vorstellung vieler Zuschauer*innen, die sie – so wie ich – erst spät entdeckt haben, einen besonderen Platz einnimmt. Ich versuche dieses Etwas hinter der großen Brille, hinter dem Blumenstrauß, den sie in der offenen Hand hält, zu entdecken, aber es gelingt mir nicht.

Vielleicht ist es genau diese Zurückhaltung, die das Bild von ihr ausmacht. Trotz ihres strahlenden Gesichts mit dem breiten Mund, umgab Monica Vitti ein dunkler Schatten, der sie wie ein Schutzschild davor bewahrte, sich so zu exponieren wie ihre Zeitgenossinnen und Kolleginnen, die (gerne) im Rampenlicht standen. Sie hatte nicht die überwältigende Präsenz einer Gina Lollobrigida oder Sofia Loren, weder die geheimnisvolle Aura einer Silvana Manganos oder Claudia Cardinale noch die subtile Anmut Elsa Martinellis. Monica Vitti entwickelte mit jedem Film, in dem sie mitspielte, einen ganz eigenen Kanon der Schönheit und Verführung. Mal kindlich, mal raffiniert, bisweilen deftig und dann wieder mit intellektuellem Scharfsinn unterlief sie immer wieder die Erwartungshaltung der Zuschauer*innen und überrumpelte sie so. Egal ob sie als Muse des kunstfertigsten Regisseurs überhaupt agierte oder als Körper/Stimme in den populärsten italienischen Komödien auftrat. Das Wesen dieser Schauspielerin – die sowohl in der italienischen als auch in der internationalen Kinolandschaft so einzigartig ist - offenbart sich in den Extremen. Von L’Avventura (1960) bis Dramma della gelosia (1970) verkörperte Monica Vitti die verschiedenen Seiten eines Landes, das im Begriff stand sich von Grund auf zu verändern und den Hinterhofgeruch auch dann nicht ablegte, wenn es sich in Abendkleid und hohen Schuhen präsentierte. Monica Vitti vereint in sich die vielfältigen Ambivalenzen, die Italien zu einem modernen und gleichzeitig archaischen Land gemacht haben. In einem kulturell und wirtschaftlich von Männern dominierten System avancierte sie zum Rollenmodell für ein unabhängiges Leben und den Widerstand gegen die Konventionen. Wohl deshalb war sie eine der wenigen Schauspielerinnen, die sowohl in Dramen, als auch in Komödien überzeugte, einem Kino der Stille und einem, das mehr auf Witze, denn auf Worte setzt. In beiden Fällen war der dunkle Schatten, der sie umgab, ein wertvoller Verbündeter, der es ihr erlaubte in Komödien dem allzu Derben die Spitze zu nehmen und sich in dramatischen Rollen nicht ins rein Metaphysische zu verflüchtigen. Sie selbst formulierte es so: In Michelangelo Antonionis Figuren erschlossen sich ihr die verborgenen Leidenschaften, die unter den Ängsten schlummern, während sie in den Komödien von Dino Risi oder Mario Monicelli die „Rebellion gegen die Angst, Tristesse und Schwermut des Lebens“ entdeckte.

Beim Wiederlesen ihrer Memoiren bleibe ich an der Stelle hängen, an der sie von ihren Erfahrungen in Cannes mit L’Avventura, der 1960 einen Eklat auslöste, erzählt. Monica Vittis Resümee ist kurz und knapp: „Für mich war Cannes kein Traum, sondern ein Alptraum. Diese ganzen Leute, die Fotografen …“ Etwa ein Jahr später wurde La notte (1961) im Wettbewerb der Berlinale gezeigt und gewann den Goldenen Bären. Monica Vitti spielte nicht die Hauptrolle, aber sie braucht nicht viel Zeit und Raum, um als Valentina weit über den Plot und die einzelnen Szenen hinauszuwachsen. Das Erste, was auf Valentina hindeutet, ist ein Buch. Die junge Frau sitzt auf einer Treppe und liest, während die anderen Partygäste dem unbeschwerten American Way of Life nacheifern. Umgeben von lauter Figuren, die – als würden sie von einem Wind aus einem von Dantes Höllenkreisen in Gang gehalten – ständig in Bewegung sind, geschäftig tun und Geselligkeit simulieren, erscheint die junge Unternehmer- und Gastgebertochter wie ein Fixpunkt. Damit bringt sie auf ihre Art die innere Unruhe zum Ausdruck, die sie umtreibt und die mit der Rastlosigkeit korrespondiert, die der Film vermittelt. Valentina ist das Produkt einer modernen Welt und zugleich deren Kritik: Diese Ambivalenz offenbart die Figur in einer großartigen Sequenz, die vom Schattenspiel auf ihrem Gesicht lebt. Die Funktion des Schattens in Antonionis Filmen wäre ein Thema für einen eigenen Text: Schatten, die das Sonnenlicht erzeugt, und – so wie in La notte – nächtliche Schatten. Der Schatten auf dem Gesicht der Schauspielerin verweist und antwortet auf das tiefe Schwarz, das Monica Vitti perfekt kleidet und noch stärker als bei Jeanne Moreau mit ihrem weißen Teint kontrastiert. In La notte gleitet der Protagonist allmählich in die Indifferenz ab. Für die Kontraste sind die Frauenfiguren zuständig. Sie versuchen, aus der Abstumpfung auszubrechen. Valentina ist gleichzeitig Mädchen und Frau, Spielgefährtin und Verführerin – und letztlich als Einzige ehrlich sich selbst gegenüber: Ihre Stimmungswechsel und ihr Spiel mit den Räumen, dem Mobiliar und den Männern beschreiben treffend einen Menschen, der seinen Platz in der Welt der Dinge nicht findet – vielleicht deswegen, weil die Dinge nie so sind, wie sie zu sein scheinen. Antonioni beschreibt in La notte eine existenzielle Krise vor dem Hintergrund eines Landes und einer Stadt, die sich verändern und deren Wurzeln aufgrund dieses Wandels nur noch als Überblendungen auf den immer weiter um sich greifenden urbanen Räumen auftauchen dürfen. Der Regisseur hat seiner damaligen Lebensgefährtin die Aufgabe zugedacht, diese Dualität deutlich zu machen, und macht ihr Gesicht zur Projektionsfläche für seine eigenen Ungewissheiten. Ein beachtlicher Schritt, wenn man bedenkt, dass der Regisseur bei der ersten Begegnung zu Monica Vitti gesagt hatte: „Sie haben einen schönen Nacken. Sie könnten zum Film gehen“ und die junge Schauspielerin konterte: „Ach und dann würde man nur die Gesichter meiner Partner sehen?“

Carlo Chatrian