2020 | Artistic Director's Blog

Über King Vidor

Carlo Chatrian war von Juni 2019 bis März 2024 Künstlerischer Leiter der Berlinale. In seinen Texten nähert er sich dem Festival, herausragenden Filmschaffenden und dem Programm auf persönliche Art und Weise.

King Vidor wurde zur gleichen Zeit geboren wie das Kino: 1894. Mit anderen Pionieren des Kinos teilte er das Gefühl, dass die Realität nur darauf warte, von jemandem eingefangen zu werden. Bewegung und Handlung dominierten die Gedanken. Um zu filmen, musste man sich bewegen, dorthin gehen, wo etwas passierte. Und wenn die Kamera sich nicht bewegen ließ, filmte man Bewegung: eine Parade, einen Sturm – das waren Vidors erste Sujets.

James Murray, Eleanor Boardman, Estelle Clark und Bert Roach in The Crowd

Vidor war Autodidakt und erlernte das Filmen auf ganz praktische Art und Weise: als Kameramann, Schauspieler, Produzent, Regisseur, Drehbuchautor. Etwas von diesem Pioniergeist lebte weiter, auch als die Entstehung der „Maschinerie“ Kino es einem einzelnen Menschen unmöglich gemacht hatte, einen Film alleine herzustellen. Wenn das Drehbuch oder eine einzelne Szene zu abstrakt oder intellektuell wurden oder der Einfluss der „Maschinerie Kino“ zu groß wurde, wechselte Vidor zur Realität, nutzte einen dokumentarischen Stil, um den Film zu erden. Die zwei berühmtesten Beispiele dafür sind die Anfangssequenz von The Crowd und die Aufnahmen der Hochöfen in American Romance. Die Szenen strotzen nur so von Realität, gleichzeitig sind sie äußerst sorgfältig inszeniert. Durch den Schnitt, den Vidor in die Kamera verlegt (American Romance) und so eine für die damalige Zeit äußerst raffinierte Folge von Einstellungen und Überblendungen (The Crowd) schafft, kreiert er etwas Einzigartiges, Wirklichkeitsnahes und zugleich Universelles. Die Hitze des Brennofens und die kreisförmige Bewegung der Arbeiter werden spürbar, der Lärm der Stadt und das Stimmengewirr der Büroangestellten hörbar – gleichzeitig schlägt die Beschreibung ins Satirische um. Mit dieser Symphonie der Bewegungen ist Vidor seinem Freund Charlie Chaplin ganz nah, auch wenn sein Ausgangspunkt ein ganz anderer ist.

Nina Mae McKinney und Daniel L. Haynes in Hallelujah

Nur wenige würden Vidor als experimentierfreudig bezeichnen, ein Blick auf sein Gesamtwerk zeigt jedoch das Gegenteil. Das gilt nicht nur auf visueller Ebene (wenn man die Actionszenen eines scheinbar biederen Films wie Bardelys the Magnificent betrachtet), sondern auch auf konzeptueller (Show People ist ein Juwel, eine bittersüße Darstellung des Starsystems der Stummfilmära). Viele seiner Filme sind eine ästhetische Herausforderung: vom bahnbrechenden Einsatz des Sounds als Träger eines Gemeinschaftsgefühls (Hallelujah), bis hin zum Set, in dem der architektonische Raum zu einer Art abstraktem Rahmen wird (The Fountainhead).

Street Scene ist – wenn auch auf einem anderen Niveau – ebenfalls ein ausgezeichnetes Beispiel. Der Film spielt bekanntermaßen in einem einzigen Set: einer Straße, wie es viele andere in New York gibt, mit einem alltäglichen Mietshaus. Wir könnten im Theater sein – oder eben in einem Chaplin-Film. Dennoch führt uns Vidor mit einer Abfolge aus Halbnahen, Nah- und Detailaufnahmen von Beginn an in eine ganz eigene Realität, in der etwas Unfilmbares – die Sommerhitze – die Zuschauer*innen ins kinematografische Hier und Jetzt befördert. Der Film ist wie ein Standbild von New York, in dem dennoch nichts statisch oder metaphorisch ist. Ganz im Gegenteil. Während sich die Figuren wie in einem Musical bewegen, stellt der Film über ihre Dialekte die kulturelle Vielfalt der Stadt vor. Die Fenster des Hauses führen in ein Jenseits der Leinwand, und obwohl der Text komplett geskriptet ist, überführen der Schnitt und eine souveräne Kameraführung den Film ins Reich des Realen.

Street Scene ist das Extrem in Vidors Werk, das zwei verschiedene Wahrnehmungsweisen der „Maschinerie“ Kino zusammenführt. Der in Texas geborene Regisseur beweist amerikanischen Pragmatismus, indem er beide in Angriff nimmt. Auf der einen Seite macht er Filme, die aus dem Aufeinandertreffen von Schauspieler*innen und Räumen – ob diese nun real oder gebaut sind – entstehen. Filmen, die ihre Form außerhalb von Bürogebäuden finden und dabei oft den Wegen ihrer Figuren folgen. Ein anderer Teil seiner Filme entsteht jedoch in der klassischen Hollywood-Produktionsmaschine: klare Rollenverteilung, klar strukturiertes Set und Geschichten, die sich am Jahreszyklus und kommerziellen Erfordernissen orientieren. Je nach Betrachtungsweise tendieren Vidors Filme, selbst die unbedeutenderen, entweder in die eine oder die andere Richtung. Bird of Paradise ist ein Genrefilm, beinahe eine Karikatur des in Hollywood so beliebten Exotismus, zugeschnitten auf Dolores del Rio. Gleichzeitig ist der Film aber auch die Erkundung eines neuen Raums, mit fantastischen Unterwasserszenen, in denen Körper und nicht Worte die Geschichte tragen. The Champ ist die Konfrontation zweier sehr ungleicher Physiognomien und Schauspieler (des robusten Wallace Beery und des schmächtigen Jackie Coogan) und die perfekte Inszenierung des Chaos, in dem sie leben (Tijuana). Gleichzeitig wird das Set zum kreativen Raum, der die Ähnlichkeiten der Erzählung mit der von Jesus und ihre melodramatischen Züge zugleich hervorhebt und ausbalanciert.

Vidor ist Teil des Hollywood-Systems (In Duel In the Sun überzeugte der Produzent Selznick den Regisseur Vidor, Gregory Pecks Rolle böser zu gestalten), steht ihm aber auch geradezu als Antipode gegenüber - und war verrückt genug, seine Filme selbst zu produzieren (nicht nur am Anfang seiner Karriere, sondern auch später sein Schlüsselprojekt American Romance). Sein Stil folgt nur einem Grundsatz: dem der absoluten Freiheit, die Geschichte zu erzählen, die ihm anvertraut wurde.

Wenn man heute über Vidors Filme nachdenkt, gibt es zahlreiche Anknüpfungspunkte, nicht bloß jene bereits erwähnten technischen und stilistischen. Vidor ist wahrscheinlich der US-amerikanische Regisseur, der die Botschaft des „bigger than life“ am wenigsten propagiert hat. Für ihn ist das Leben – das Leben der Figuren, bei denen der Film seinen Ausgang nimmt und zu denen er zurückkehrt – größer als alles andere. Anders wäre der viel zitierte Zusammenhang zwischen Individualismus und Kollektivität nicht zu verstehen. Im Mittelpunkt seiner Geschichten stehen keine glorreichen und selbstgenügsamen Figuren. Seine Helden sind oft düster. Seine einsamen Reiter sind faszinierend, aber auch gefährlich. Vidor bevorzugt die nicht ganz so tapferen Charaktere, die dafür jene Schwächen und Unsicherheiten zeigen, die den Menschen auch ausmachen. Der verstümmelte Soldat in The Big Parade ist der perfekte Prototyp, Harry Pulham das Gegenstück in Friedenszeiten. Vidors Männer brauchen – im Gegensatz zu seinen Frauenfiguren, die sicher, mutig und unternehmungslustig sind – immer einen Anstoß, der sie in Bewegung setzt; sei es eine Begierde oder Besessenheit, ein Zu- oder Unfall. Bewundernswert ist die Art, wie sie darauf reagieren: Als wären sie daran erinnert worden, dass die Realität, so chaotisch, brutal und absurd sie auch sein mag, immer auch eine Gelegenheit ist, das, was ihnen versprochen wurde, zu erreichen.

Carlo Chatrian