2010 | Forum

40. Forum: Die Carte Blanche des Filmemachens

Zu seinem 40. Jubiläum verzichtet das Forum auf nostalgische Jubiläumsakte und konzentriert sich mit seinem Programm ganz auf das Wesentliche: den Film. Im Gespräch berichtet Sektionsleiter Christoph Terhechte über existentielle Themen, die Notwendigkeit über sich hinaus zu wachsen und die lustigste Massenselbstmordszene des Festivals.

Der Tag des Spatzen von Philip Scheffner

Ihr charakterisiert die Filme im Forum 2010 als sensible Reaktionen auf die Zeitstimmung. Dabei spielen Reflexionen existentieller Lebenssituationen eine besondere Rolle. Das Thema Tod taucht in mehreren Filmen und in mindestens genauso vielen Facetten auf: Als Beobachtung eines Altenheims in Kanada, als Selbstmord-Verabredung dreier spanischer Jugendlicher, als Beerdigung in Baltimore, als Auftragsmord in Istanbul oder als Anschlag auf die Bundeswehr in Afghanistan im Zusammenhang mit einem erschossenen Spatzen in den Niederlanden. So unterschiedlich, wie diese Filme die Endphase oder das Ende des Lebens in den Blick nehmen, sind wahrscheinlich auch die Inszenierungsweisen der jeweiligen Filmemacher?

CT: Die Krise, die die Welt bereits seit zwei Jahren umtreibt, ist jetzt sichtbar im Film angekommen - von der Konzeption zur Endfertigung eines Films dauert es ja ziemlich lange. Der Tod als wiederkehrendes Thema wurde erst angesichts des fertigen Programms deutlich. Ich bin aber auch sehr froh, unterhaltsame und trotzdem tiefgründige Filme wie So Sang-mins Na-neun gon-kyeong-e cheo-haet-da! (I’m in Trouble!) oder Arvin Chens Yi yè Tái bei (Au revoir Taipei) dabei zu haben, hier stirbt keiner. Die Auswahl zeigt eine wunderbare Bandbreite in der Bearbeitung existenzieller Themen, wobei erstaunlich häufig Genreelemente verarbeitet werden. Sei es in ganz sporadischer Form wie im türkischen Beitrag Pus von Tayfun Pirselimoğlu oder offensiver wie bei Im Angesicht des Verbrechens von Dominik Graf, in dem das Genre regelrecht neu definiert wird. Thomas Arslans Film Im Schatten verwendet bestimmte Grundkonstrukte des Genrekinos und sucht darin neue menschliche Dimensionen.

Die politischen Dokumentarfilme wie Der Tag des Spatzen aber auch The Oath von Laura Poitras setzen sich wiederum ganz explizit mit Gegenwart auseinander. Sie theoretisieren nichts und beschäftigen sich weniger mit Utopien als mit Situationen, in der sich Einzelne immer wieder wesentlichen Lebensentscheidungen stellen müssen.

Laura Poitras' The Oath

The Oath hört sich ja fast nach Enthüllungsjournalismus an…

Nein, das ist es weniger. Poitras liefert das Porträt eines Mannes, der in seinem Leben zwei wesentliche Entscheidungen getroffen hat: sich erst al-Qaida anzuschließen und dann wieder damit zu brechen. Im Zentrum steht sein Gewissenskonflikt. Er ist nicht wirklich entschieden, was er für richtig hält, selbst wenn er sich offiziell von al-Qaida distanziert und dem US-amerikanischen Geheimdienst in intelligent geführten Verhören zu Informationen verhalf, die weit über das hinausgehen, was je durch Folter herausgebracht wird. Also weniger Enthüllungsjournalismus als vielmehr ein Film, der Inneneinsichten liefert und dabei journalistisch sehr genau arbeitet.

Funktioniert Der Tag des Spatzen ähnlich wie The Halfmoon Files desselben Regisseurs?

Formal sicher. Im aktuellen Film wird ja von der Abwesenheit des Krieges erzählt. Scheffner wendet den Blick des Vogelbeobachters an, um eine scheinbar friedliche Natur zu untersuchen, in die sich Zeichen von Politik und auch Kriegsführung eingebrannt haben, auch in Form von Anlagen der Bundeswehr. Er ist aber wirklich an seinem Sujet – dem Spatzen - interessiert und bringt dieses Motiv auf sehr schöne filmische Weise mit dem politischen Thema zusammen.

Jennifer Lawrence in Winter's Bone von Debra Granik

Das Recht auf Entscheidung

Ein anderes Motiv, das mir bei ein paar Filmen ins Auge gefallen ist, passt vielleicht sehr gut zum Forum, weil es dabei um ein Aufbegehren gegen straffe und unbewegliche Gesellschaftsmuster geht, die den Menschen in ihrer Begrenztheit klare Rollen vorzuschreiben versuchen. Inwiefern finden sich Konventionsbrüche im Programm, etwa auffällige Narrationsstrukturen?

Der Konventionsbruch ist immer ein Thema von Kino gewesen und selbst im Klassischen Kino ein ganz wesentliches Element des Geschichtenerzählens – eine Figur, die mit ihrer Umgebung bricht, über sich hinauswächst oder einen ihr nicht zugedachten Ort erkämpft. Ob das nun ein Film ist wie Im Angesicht des Verbrechens von Dominik Graf, in dem ein Polizist aus russisch-jüdischem Milieu eine mafiöse Struktur bekämpft, der seine eigene Familie angehört, oder Winter’s Bone, in dem die 17-jährige Protagonistin für ihre Familie kämpft. Im Aufbegehren gegen eine soziale Umgebung, die ihr nicht das Recht existenzieller Entscheidungen zugesteht, wächst sie über sich hinaus. Auch Kenta to Jun to Kayo chan no kuni (A Crowd of Three) handelt von einem Aufbegehren, das in diesem Fall allerdings scheitert. Das sind Beispiele wahrer Filmfiguren, deren Konflikte oder Bigger-Than-Life-Momente die Narration begründen.

Wie schafft es die Hauptfigur in Tatjana Turanskyjs Eine flexible Frau sich der HartzIV-Maschine zu widersetzen?

Durch Insolenz. Sie fügt sich nicht in dieses System und ist eine unangepasste Person, die gleichzeitig sehr unter ihrer Situation leidet. An ihrem neuen Arbeitsplatz im Callcenter scheitert sie, weil ihr natürlich keine wirkliche Perspektive eröffnet wird. Dieser Film ist typisch für eine Generation, die sich im Wirtschaftsleben ohne Vollbeschäftigung behaupten muss. Hier geht es vor allem um die Gebildeten, die trotzdem ihr Leben am Rande des Zusammenbruchs fristen. Diese unglaublich frustrierende Existenz vermag der Film emphatisch zu zeigen, wobei er ihr dennoch komische Seiten abgewinnen kann – ein sehr schönes Regiedebüt!

Tatjana Turanskyjs Eine flexible Frau

Letztes Jahr gab es einige Filme, die sich direkt mit der menschlichen Psyche auseinandergesetzt haben. In diesem Jahr ist es zumindest einer, der das Thema sehr persönlich angeht. Welche filmische Sprache findet die Filmemacherin Gamma Bak für die Erkundung ihrer eigenen Krankheit?

Schnupfen im Kopf ist ein sehr mutiger, selbstreflexiver Film. Die Berliner Regisseurin spricht selbst über ihre psychische Erkrankung, gleichzeitig äußern sich andere Menschen über sie und ihre Geschichte. Sie wurden aber nicht alle von ihr selbst interviewt, was ihnen ermöglicht, freier zu sprechen. Gamma Bak hat eine sehr gute Verfahrensweise gefunden, um die verschiedenen Perspektiven auf ihre Krankheit zusammenführen.

Zwei Filme befassen sich im weitesten Sinne mit den Lebensverhältnissen im so genannten Nahen Osten, und zwar mit recht konträren Akzentsetzungen: Soreret (Black Bus) handelt von zwei Ausreißerinnen aus ihrem Umfeld einer Haredi-Glaubensgemeinschaft in Jerusalem, Aisheen [Still Alive in Gaza] zeigt dokumentarisch ein auswegloses Leben im Gaza-Streifen. Sind die beiden Filme zufällig in dieser Konstellation programmiert?

Sie sind nicht zufällig programmiert, ich sehe die beiden Filme aber auch nicht als Konstellation. Wobei es auch Jahre gab, in denen wir bewusst Konstellationen mit Filmen aus dem israelischen und arabischen Bereich programmiert haben. Der israelische Film Soreret ist auf den ersten Blick der politischere von beiden, weil er auf die Radikalisierung der orthodoxen Juden in Jerusalem bzw. Israel aufmerksam macht. Über den Fokus auf zwei Aussteigerinnen setzt er sich zwar weniger mit dem weltpolitischen Thema auseinander, entwickelt aber eine sehr wichtige privatpolitische Perspektive. Ganz anders Aisheen, der nicht explizit politisch auftritt, sondern vielmehr subtil über den Zuschauer funktioniert. Dieser Film konfrontiert nicht, sondern beruht auf stilleren Beobachtungen im Gazastreifens. So kommt er zu ganz neuen Einblicken und Perspektiven – im Vergleich zu anderen Dokumentarfilmen, die wir gesehen haben, ein sehr unterschwelliger Umgang mit dem Thema.

Congo in Four Acts

Kontakte zum Weltkino

Neben Sunny Land gibt es gleich zwei weitere Produktionen vom afrikanischen Kontinent im Programm, den Omnibusfilm Congo in Four Acts und Imani von der Campus-Alumna Caroline Kamya. Sind im Afrikanischen Kino insgesamt Entwicklungen beobachtbar, die ein gesteigertes Interesse bei Euch hervorrufen oder stehen die Filme eher als Ausnahmen da?

Noch sind es Ausnahmefälle, die glücklicherweise immer mehr werden. Eine neue Generation bemüht sich, das afrikanische Kino wiederzubeleben. Trotz der schwierigen Infrastruktur gibt es immer noch Produzenten auf der Suche nach Talenten - im Falle von Congo in Four Acts Dokumentarfilmtalente, die unterschiedliche Perspektiven auf die Stadt Kinshasa zeigen. Die Regisseurin von Imani dagegen hat das Festival bereits auf dem Talent Campus kennen gelernt. Hier zeigt sich das Produktive solcher Einrichtungen, durch die auch wir überhaupt von aktuellen Entwicklungen im Kino erfahren. Talent Campus und World Cinema Fund sollten nicht als Entwicklungshilfe für Filmemacher missverstanden werden, sie sind im Gegenteil Instrumente der Entdeckung und Wegbereiter des Kontakts mit dem Weltkino – also eher eine Entwicklungshilfe für uns, für die Berlinale.

Bleibt man beim geografischen Blick: Was hält das asiatische Kino dieses Jahr für Schätze und vielleicht auch Überraschungen bereit?

Wir haben wieder viel aus Ostasien, vor allem Japan, und ich würde mir wünschen, dass wir mehr aus dem südostasiatischen Raum wie den Philippinen oder Indonesien zu sehen bekämen. Erfreulicherweise sind wieder zwei koreanische Abschlussarbeiten der Korean Academy of Film Arts dabei. Einmal mehr bestätigt sich diese Schule als spannende Talentschmiede. Aus Taiwan zeigen wir zwei sehr unterschiedliche Debüts. Als Sohn taiwanesischer Eltern in Kalifornien groß geworden, kehrte Arvin Chen nach Taiwan zurück. Sein Film Yi yè Tái bei (Au revoir Taipei) zeigt Taipeh als das interessantere Paris. Ganz anders der zweite taiwanesische Beitrag, der von Hou Hsiao-Hsien produzierte You yi tian (One Day). Ein eher träumerischer, fast schon theoretischer Film mit einer kleinen Note von Chris Markers La Jetée. Mit Kanikosen pflegt Sabu seinen direkt spöttischen Stil. Eine tolle Oper mit der lustigsten Massenselbstmordszene des Festivals.

Double Tide von Sharon Lockhart

In drei Filmen spielt die Natur und die menschliche Beziehung zur selben eine nicht unwesentliche Rolle: in Fan shan (Crossing the Mountain), Double Tide, aber auch zu einem gewissen Grad in Paltadacho Munis (The Man Beyond the Bridge). Geht es in den Werken eher um den menschlichen Einklang mit der Natur, um die Bewältigung und Nutzbarmachung der Naturgewalten oder auch um die Gefahren von Zivilisierung?

Ein sehr interessanter Gedanke, diese drei Filme zusammenzubringen. In Paltadacho Munis geht es um Religion und Macht. Fan shan begibt sich in ein Terrain, das im chinesischen Kino bisher nicht geläufig war: die Grenzregion zu Burma, in der ein Volk lebt, das bis vor einigen Jahrzehnten noch Menschenopfer darbrachte - wobei man sich die Opfer vor allem im Nachbardorf gesucht hat. Vor dem Hintergrund dieser regelrechten Spukgeschichten wird das ganz alltägliche Leben der heutigen jungen Generation zwischen Fernsehen, Landminen und alten Traditionen wie in einem Vexierspiel erzählt. Sharon Lockhart, vertreten mit Double Tide, ist eine Regisseurin, die sich für Orte und ihre Strukturen interessiert. Diesmal begleitet sie eine Muschelsammlerin bei ihrem Tagesablauf. Ein Film, in dem nicht die Figur nach ihrer Beziehung zur Natur befragt wird, sondern wir selbst über deren direkte Wahrnehmung in Farben, Licht und Gesten eine Beziehung aufbauen.

Shimazu Yasujiros Konyaku sanbagarasu

(Wieder)entdeckte Perlen

Was verbirgt sich hinter den Special Screenings und was macht sie so besonders?

Für die Bezeichnung Special Screening gibt es unterschiedliche Gründe. Entweder sind es Wiederveröffentlichungen wie O Dragão da Maldade contra o Santo Guerreiro (Antonia das Mortes) von Glauber Rocha oder die drei Filme von Shimazu Yasujiro, einem Modernisierer des japanischen Vorkriegskinos und Wegbereiter u.a. von Ozu. Hier handelt es sich um gerade frisch restaurierte Klassiker, die neu verfügbar geworden sind. Im Falle Dominik Grafs hat dieser sich einfach gewünscht, seine Fernsehserie einmal auf der Berlinale aufzuführen. Eigentlich ist es ein großes Epos, das in eine serielle Struktur gefasst ist – ähnlich wie Heimat von Edgar Reitz. Boris Lehman ist mit einem Programm dreier seiner 16-mm-Kurzfilme vertreten. Der gemeinsame Nenner, nach dem ich sie zusammengestellt habe, sind die Beziehungen des Filmemachers zu seinen Freunden. Ja, und der wunderschöne Nénette von Nicolas Philibert ist deswegen ein Special, weil er zwar in dieser Fassung eine Weltpremiere ist, aber in verkürzter Version bereits auf anderen Festivals gezeigt wurde – hier sozusagen der Director’s Cut.

Wie die Berlinale feiert auch das Forum in diesem Jahr ein rundes Jubiläum, und zwar schon das 40. Mit „4 Jahrzehnte Forum“ wurde zu diesem Anlass ein zwölf Filmblöcke umfassender programmatischer Rückblick zusammengestellt, der mit großen Namen der Filmgeschichte aufwarten kann. Stimmt es, dass die Auswahl der Filme ähnlich wie bei der großen sektionsübergreifenden Berlinale-Retrospektive ausgelagert wurde? Was waren Eure Beweggründe dafür?

Wir haben im vergangenen Sommer internationale Filmemacher ins Arsenal eingeladen, um ihnen eine Carte Blanche für ein Programm zu geben, das mit je drei Filmen die vier Jahrzehnte des Forums abbildet. Zwölf Filmemacher haben je einen Lieblingsfilm ausgewählt. Das Ergebnis dieser Veranstaltung ist ein Buch mit DVD, das wir zur Berlinale veröffentlichen, gleichzeitig mit der Wiederholung dieses Programms. Wir wollen keine nostalgischen Jubiläumsakte, und ich denke, das ist ganz im Geist der Forums-Gründer, die wenig Interesse an großem Brimborium hatten, sondern sich explizit auf das Zeigen und Diskutieren von Filmen beschränkt haben.

Warum wird das Forum auch in Zukunft nicht Gefahr laufen, sich - wie bei etablierten Institutionen oftmals feststellbar - häuslich einzurichten und seine Beweglichkeit zu verlieren? Was könnt ihr als Organisatoren dafür tun, um Euch eine gewisse „Unberechenbarkeit“ zu erhalten?

Nach insgesamt 40 Jahren Forum bin ich erst der zweite Leiter und muss mir natürlich diese Frage stellen. Ich denke, man muss in dem Moment aufhören, wenn man keine neuen Ideen mehr hat und die Entdeckerlust schwindet. So weit ich das selbst beurteilen kann, sind wir davon weit entfernt.