2009 | Sonderveranstaltungen

Seismographen gesellschaftlicher Umbrüche: Winter adé - Filmische Vorboten der Wende

Aus Anlass des 20. Jahrestages des Mauerfalls von 1989 feiert die Sonderreihe „Winter adé - Filmische Vorboten der Wende“ auf der Berlinale 2009 ihre Premiere, bevor sie deutschlandweit auf Projektionsreise geht. Auf Initiative der Kulturstiftung des Bundes und der Deutschen Kinemathek werden Filme aus den ehemaligen Ostblockländern sowie der BRD gezeigt, die zwischen 1977 und 1989 produziert wurden und auf ganz eigentümliche Weise von den Verwerfungen und dem anstehenden Zusammenbruch der realsozialistischen Gesellschaftssysteme künden. Claus Löser, Kurator der Reihe, berichtet im Interview über die sehr unterschiedlichen, länderspezifischen Produktionsbedingungen, die filmische Fähigkeit, soziale Wirklichkeiten zu vermitteln, und die künstlerischen Aspekte der Filmauswahl.

A kis Valentinó (Der kleine Valentino), Ungarn 1979, R.: András Jeles

Die retrospektive Auswahl von Filmen als Vorboten komplexer gesellschaftlicher Umbruchprozesse ist sicherlich keine einfache Aufgabe. Was waren in Deinen Augen die größten Schwierigkeiten bei der Zusammenstellung?

Claus Löser: Die größte Herausforderung bestand tatsächlich darin, eine Balance zwischen dem subjektiven Geschmack und einem gewissen repräsentativen Anspruch zu finden. Die Filme sollen einerseits die soziale Wirklichkeit der Vorwendezeit widerspiegeln; andererseits ging es mir vor allem um die künstlerische Sicht, also die Reflexion der Zeit in den Filmen. Im Zweifelsfall habe ich die künstlerisch brisanten Filme den politisch brisanten vorgezogen.

Der zweite Punkt ist, dass ich - als Rainer Rother mich eingeladen hat, die Sonderreihe zu kuratieren - 15 Programmpunkte erst einmal für eine ganze Menge hielt. Schon beim ersten Nachdenken wurde mir aber klar, dass das Gegenteil der Fall ist. Wenn man den gesamten ehemaligen Ostblock abdecken und dabei auch noch die spezifischen Länderkontexte berücksichtigen möchte, sind 15 Programmplätze extrem wenig.

Aufgrund der Vielfalt der Kontexte?

Ich würde sagen, weil das Maß an Ungleichzeitigkeit so hoch ist. Auf der einen Seite gab es Länder, die schon in den 70er oder den frühen 80er Jahren relativ liberalisiert waren, allen voran Polen und Ungarn. In anderen Ländern ist es äußerst schwierig, etwas zu finden, was einen gesellschaftlichen Auf- oder Umbruch ankündigt. Denn das ist ja schließlich der Anspruch des gesamten Programms: Filme zu zeigen, die in sich bereits Zeichen dieses Wandels tragen.

Die Gefahr einer Festschreibung übergreifender, filmgeschichtlicher Linien besteht also in dem Sinne gar nicht?

Nein, eine repräsentative Auswahl ist so gar nicht möglich. Insofern kann unsere Zusammenstellung wirklich nur ein erster Schlagschatten sein, der aus dieser Zeit auf die Filmgeschichte fällt.

Historische Dokumente zwischen Kunst und Kulturpolitik

Würdest Du sagen, das Medium Film eignet sich besonders gut als Instrument der „Geschichtsvermittlung“? Zum Beispiel weil es spezifische Qualitäten als historische Quelle von Alltagskultur und sozialen Wirklichkeiten mit sich bringt? Und worin wären diese Qualitäten im Falle der „Winter adé“-Reihe zu suchen?

Wie jede Kunst hat der Film die Fähigkeit, gesellschaftliche Entwicklungen aufzuspüren. Ich benutze in diesem Zusammenhang gerne das Schlagwort des Seismographen. Wenn der Glücksfall eintrifft, können Filme wie Seismographen arbeiten – und das muss nicht einmal einer konzeptionellen Absicht entsprechen. Die Aspekte in den Filmen, die auf ein zukünftiges Ereignis, einen Wandel oder Umbruch hinweisen, sind nicht unbedingt dem Willen der Regisseure geschuldet.

Im Fall von „Winter adé“, also vorwiegend Filmen aus sozialistischen Systemen, liegt eine prägende Besonderheit gewiss in der starken Staatsnähe. Damit ist auch eine hohe Trägheit der Filmproduktion verbunden. Sie ist an einen riesigen technischen und verwaltungspolitischen Apparat gebunden, den man allerdings auch in westlichen Ländern findet. Im Ostblock kommt noch die kulturpolitische Anbindung hinzu, die ja immer ein Spiegelbild der Parteipolitik ist. Und das macht es auch so schwer, die jeweilige Charakteristik der einzelnen Länder herauszufiltern.

In der Sowjetunion zum Beispiel sind schon immer interessante Filme entstanden, spätestens aber ab 1985/86, mit Gorbatschow als Generalsekretär der KPdSU. Damals wurde innerhalb einer kurzen Zeitspanne ein sehr hohes Maß an Liberalisierung erreicht. Die Zensur wurde gelockert und der Innendruck, der sich über Jahre angestaut hatte, konnte sich schlagartig entladen. Viel stärker als in den 1960er Jahren, in denen es mit Tarkowski, Schukschin, Paradschanow und anderen zum ersten großen Schub an Filmkunst aus der Nachkriegs-Sowjetunion kam. Es gibt also historisch gesehen nur einen sehr kurzen Zeitraum, in dem künstlerische Qualität mit inhaltlicher Brisanz zusammenfällt und deckungsgleich ist.

Igla (Die Nadel), UdSSR 1988; R: Raschid Nugmanow

So ein Film ist zum Beispiel der Genre- und Kriminalfilm Die Nadel von Raschid Nugmanow, der 1988 gedreht wurde und in Alma-Ata in Kasachstan spielt. Der Filmhochschulabsolvent, dem der Stoff aufgrund der Absage eines anderen Regisseurs quasi in den Schoß gefallen war, hat aus diesem harmlosen, konventionellen Kriminalfilm einen unglaublich energiegeladenen, ja fast revolutionären Kunstfilm gemacht, der stark mit den Mitteln des Avantgarde-Kinos arbeitet. Die Nadel wurde noch dazu zu einem der erfolgreichsten sowjetischen Filme, die je gedreht wurden.

In Polen hingegen verhielt es sich ganz anders: Im Dezember 1981 wurde dort das Kriegsrecht ausgerufen, welches erst im Februar 1989 wieder aufgehoben wurde. In dieser Zeit wurden die wahnwitzigsten Filme gedreht, mit einer politischen Offenheit und Radikalität, für die man in der DDR ins Gefängnis gekommen wäre. 1987 wurde in Polen die Zensur faktisch abgeschafft. Und all das unter Kriegsrecht, was absurd scheint und aus heutiger Sicht kaum zu verstehen ist.

Einbrüche in die Wirklichkeit

Lässt sich ein Zusammenhang zwischen den staatlichen Einflüssen auf das Filmschaffen und der Filmsprache in den Werken ausmachen? Zum Beispiel im Sinne von „Je größer die Rolle der Zensur, desto metaphorischer die Form der filmischen Gesellschaftskritik?“

Das kann man so nicht generalisieren, da es sich auch diesbezüglich in den einzelnen Ländern ganz unterschiedlich verhält. In der DDR wurde tatsächlich eine Art Geheimsprache entwickelt, also Codes, versteckte Anspielungen, Metaphern. Die ostdeutsche Filmsprache ist extrem allegorisch, man findet beispielsweise sehr häufig Figuren, die in psychologischer Hinsicht überhaupt nicht funktionieren, sondern immer stellvertretend für etwas stehen. In Jadup und Boel löst Regisseur Rainer Simon die Verschlüsselung in gewisser Weise, indem er mit stärker realistischen Momenten arbeitet und die Handlung eben nicht mehr im Mittelalter oder in der Klassik ansiedelt, sondern in der Gegenwart. Da bricht dann plötzlich ein Stück Wirklichkeit ein. Genau deswegen wurde der Film dann auch verboten.

Die Kritik, die sich in Filmen äußert, ist ja nicht immer absolut. Heutzutage leben wir in einer Kultur, in der Kritik zum großen Teil als etwas Positives aufgefasst wird, weil sie als Optimierungswerkzeug fungiert. Haben die Filme der Sonderreihe auch solche Funktionen erfüllt oder waren sie vorwiegend auf die absolute Kritik ausgerichtet?

Da gibt es tatsächlich einen Riesenunterschied. In einer offenen Gesellschaft, wie wir sie jetzt haben, ist Kritik von vornherein integriert. Das kann man mitunter bedauern, denn jede Protestgebärde wird heutzutage fast zwangsläufig als Teil der Gesellschaft oder des Marktes eingebunden. Das war in den Ostblockländern sicherlich nicht der Fall. Die wertvollen, kritischen Energien, die sich in den Filmen formulieren, wurden als feindlich eingestuft und nicht als dienlich. Letztlich ist dieses System unter anderem genau daran kaputtgegangen: dass es eben absolut starr und nicht offen und flexibel war.

Gábor Bódy in seinem Film Kutya éji dala (Nachtlied des Hundes), Ungarn 1983

Das historische Überraschungsmoment beim Fall der Mauer und dem Zusammenbruch des Ostblocks spricht ja im Grunde genommen dafür, dass niemand vorher ernsthaft mit der Möglichkeit eines Systemwandels gerechnet hat. Spiegelt sich dieser Aspekt auch in den Filmen wider?

Auf jeden Fall – und das ist wirklich ein Paradox, wenn man sich die kurze Zeitspanne vor Augen führt, innerhalb derer dieser historische Umbruch stattgefunden hat: ein paar Wochen im Frühling und im Herbst 1989. Aber genau das schwingt oft subtil in diesen Filmen mit, dass „unterirdisch“ schon viel mehr Veränderungen stattgefunden haben als man „oberirdisch“ gespürt hat. Anders wären ja diese großen Umwälzungen gar nicht möglich gewesen. Gleichzeitig muss man ganz klar sagen, dass wir es mit Ausnahmefällen zu tun haben. Die Filme der „Winter adé“-Reihe repräsentieren nicht den Stand der jeweiligen nationalen Kinematografien, sondern es sind vorwiegend Filme, die gegen den allgemeinen Trend entstanden sind.

Insgesamt ist es wahrscheinlich eine gewünschte Nebenwirkung der Reihe, eine gesteigerte Aufmerksamkeit für das osteuropäische Filmschaffen zu generieren.

Natürlich, denn hierin liegt auch eine große Ungerechtigkeit der Filmgeschichtsschreibung. Vieles aus dem Osten wurde einfach nicht gebührend wahrgenommen, zum Beispiel der polnische Regisseur Piotr Szulkin, den wir mit Krieg der Welten - Das nächste Jahrhundert ausgewählt haben. Er hat beeindruckende Fantasy- und Science-Fiction-Filme gemacht, trotzdem ist von ihm nie ein Film im westdeutschen Fernsehen oder im Kino gelaufen. Es ist wirklich ungerecht, dass diese Leute niemand kennt. Da gibt es auf jeden Fall noch viel zu entdecken.

Thematisch lässt sich in der Reihe oft die Beschreibung einer Alltagstristesse feststellen, ihr gegenüber steht der Wunsch nach einem Ausbruch, nach Befreiung aus dieser Tristesse.

Ein Schlüsselfilm diesbezüglich ist Nachtlied des Hundes von Gábor Bódy, der auch im europäischen Maßstab, nicht nur auf Ungarn oder den Ostblock beschränkt, ein wegweisender Film ist. Wenn man so will, kann man ihn mit anderen frühen postmodernen Filmen vergleichen, z. B. von Peter Greenaway oder David Lynch, nicht unbedingt stilistisch, aber was das Aufbrechen klassischer Erzählstrukturen betrifft. Dieses Zerbrechen narrativer Muster kann durchaus auch mit dem Zerbrechen gesellschaftlicher Zusammenhänge in Verbindung gebracht werden. Genau das wird in Nachtlied des Hundes besonders deutlich.

Winter adé von Helke Misselwitz, DDR 1988

Ungekannte Offenheit

Der Film Winter adé von Helke Misselwitz ist der Namensgeber der Reihe. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

Winter adé lief 1988 auf dem Leipziger Dokumentarfilmfestival, exakt ein Jahr vor der Revolution in Leipzig im September und Oktober 1989. Schon damals konnten sensible Zuschauer spüren, dass die Offenheit in dem Film eine andere Qualität hatte, denn die Leute trauten sich plötzlich vor der Kamera offen aufzutreten. Damit bringt Winter adé eine Transparenz und Deutlichkeit zum Ausdruck, die es sonst in der DDR-Gesellschaft nicht gab.

Winter adé wurde in Leipzig ausgezeichnet - so wie ja einige preisgekrönte Filme in der Reihe auftauchen. Spielten bei der Preisverleihung politische Beweggründe eine Rolle?

Ja, aber eben gerade in der Widersprüchlichkeit. Alle haben sofort gemerkt, dass das ein ganz wichtiger Film ist. Vor allem die internationalen Gäste waren sich einig, dass er den Hauptpreis bekommen muss. Als er dann „nur“ die Silberne Taube erhielt, stellte sich heraus, dass die Vertreter des DDR-Fernsehens sich gegen seine Prämierung eingesetzt hatten. Da waren also unterschiedliche und teils sehr konträre Kräfte am Werk.

Haben auch die nicht-preisgekrönten Filme der Reihe Aufsehen erregt, also speziell die Filme aus dem „künstlerischen Untergrund“, wie es in der Pressemitteilung heißt?

Nicht in der DDR, dort war es eher eine geheime Parallel-Filmgeschichte, die sich da entwickelt hat. Und genau das sind auch Kennzeichen von eher offenen oder geschlossenen Gesellschaften. Zum Vergleich, in Polen und in Ungarn gab es sogar einen staatlichen Experimentalfilm. Leute wie Zbigniew Rybczyński oder vorher noch Jan Lenica oder Walerian Borowczyk haben in den offiziellen Studios Filme gedreht. In der DDR hingegen gab es überhaupt keinen Experimentalfilm, weil es Autodidakten quasi unmöglich war, von außen in das geschlossene System einzudringen. Man musste an der Filmhochschule gewesen sein, um Filme zu machen. In der Sowjetunion war es genauso, deswegen war die Subkultur dort auch „abgetrennter“ vom Mainstream und von der Staatskultur. Bei den Underground- und Experimentalfilmen der Reihe ist eins besonders verblüffend: In Ländern mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen wurden doch ganz ähnliche formale Lösungen gefunden. Alle diese Filme arbeiten mit Found Footage oder verwenden Material aus dem Fernsehen oder von populärwissenschaftlichen Filmen, sie übermalen es, benutzen ähnliche Schauplätze etc. Obwohl man nichts voneinander wusste, gibt es große Ähnlichkeiten.

Was gibt es Spezielles bei den Animationsfilmen zu entdecken?

Das verbindende Element der Animationsfilme sind die Themen, die sie verhandeln, und zwar wortlos verhandeln: Sprachlosigkeit, Situationen von Stagnation und Eingesperrtsein. Das trifft ja sogar auf den westdeutschen Oscar-Preisträger Balance zu, der nicht zufällig 1989 gedreht wurde. Der Film lässt sich sehr leicht als Gleichgewichtsmetapher in Zeiten des Kalten Krieges lesen. Oder Das Märchen der Märchen von Juri Norstein, der mit 30 Minuten der längste Animationsfilm der Reihe ist. Dort wird Krieg, der Zweite Weltkrieg, im Grunde genommen als Basis für ein bipolares Weltmodell ausgebildet. Ausgehend von einer vom Krieg strukturierten und traumatisierten Gesellschaft passen die Animationsfilme trotz ihrer Unterschiedlichkeit zueinander – und stehen paradigmatisch für alle Filme von „Winter adé“.