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09.02.2021
Slalomfahrten zwischen Fiktion und Dokument: zu den Filmen des 51. Berlinale Forums

Aurielle Akerele in The Inheritance von Ephraim Asili, Doch rybaka (Tzarevna Scaling) von Uldus Bakhtiozina, Esquí (Ski) von Manque La Banca

Arbeit, Liebe, Freundschaft, Kino: All das gestaltet sich heute anders als vor einem Jahr. Die Sicherheiten, auf die man sich noch im Herbst 2019 verlassen konnte, sind porös geworden. In anderen Gegenden der Welt, in denen Unsicherheit ohnehin Teil des Alltags ist, mag man im Umgang damit geübter sein. Im auf Plan- und Machbarkeit ausgerichteten Westeuropa muss man sich an eine Situation, die an einen auf Dauerschleife gestellten Agilitäts-Workshop erinnert, erst gewöhnen. Wem es unter diesen Bedingungen gelingt, einen Film zu drehen und fertigzustellen, gebührt Hochachtung.

Die 17 Filme umfassende Auswahl des 51. Berlinale Forums setzt auf Arbeiten, die den außerfilmischen Unwägbarkeiten begegnen, indem sie in ihren Plots und Konstellationen die Unberechenbarkeit umarmen. Sie gibt dem Fragilen den Vorzug vor dem Bewährten. Filmemacher*innen, die am Anfang ihrer Karriere stehen, nehmen mehr Raum ein als ihre arrivierten Kolleg*innen. Viele Filme schlagen narrative Haken, fahren wie Manque La Bancas Debüt Esquí (Ski) Slalom zwischen Fiktion und Dokument, tauchen ab in Archive und vernähen die Fundstücke aus der Vergangenheit mit der Gegenwart. Gleich zweimal zum Beispiel wird Jean-Luc Godards La chinoise der Revision unterzogen: in Ephraim Asilis The Inheritance und in Vincent Meessens Juste un mouvement (Just a Movement). Sabrina Zhao verwandelt in ihrem ersten Langfilm Sichuan hao nuren (The Good Woman of Sichuan) ein Brecht’sches Lehrstück in einen opaken filmischen Raum. Uldus Bakhtiozina erzählt in ihrem Debüt Doch rybaka (Tzarevna Scaling) auf geradlinige Art ein Märchen, doch schraubt sie zugleich schwindelerregende kulturgeschichtliche Spiralen in die luftige Höhe ihrer Fiktion. Die besten Zahnverblendungen haben ihre Figuren sowieso.

Verdiente Filmemacher*innen sind natürlich auch dabei. Mit The First 54 Years – An Abbreviated Manual for Military Occupation zum Beispiel erweitert der israelische Dokumentarist Avi Mograbi sein reiches Werk um eine bittere Bestandsaufnahme dessen, was Besatzung bedeutet. Die Berliner Regisseure Chris Wright und Stefan Kolbe loten mit Anmaßung die Möglichkeiten dokumentarischen Filmemachens auf bewährt unerschrockene Weise aus. Und die thailändische Regisseurin Anocha Suwichakornpong setzt in Jai jumlong auf souveräne Weise fort, was ihr bisheriges Oeuvre (u. a. Mundane History, 2009) auszeichnete: die Mischung aus narrativer Subtilität und historisch tiefenscharfem Blick.

In einer Zeit, in der der Rückzug auf das Eigene – Land, Stadt, Viertel, Wohnung, Familie – geboten erscheint, ist die Gefahr groß, dass sich der Wahrnehmungshorizont verringert. Die Filme des 51. Berlinale Forums helfen dabei, in Gedanken und in der Imagination durchlässig für die Außenwelt zu bleiben.

Filme des 51. Forums

*Weltpremiere zeigt an, dass dieser Film noch keinem Publikum vorgeführt wurde. Da er nur einem Fachpublikum (Industrie und Presse) als Online-Vorführung zugänglich gemacht wird, behält er seinen Status als Weltpremiere, bis er öffentlich in Kinos oder auf Festivals präsentiert wird.

* Internationale Premiere zeigt an, dass dieser Film noch nicht außerhalb seines Herkunftslandes vorgeführt wurde. Da er nur einem Fachpublikum (Industrie und Presse) als Online-Vorführung zugänglich gemacht wird, behält er seinen Status als Internationale Premiere, bis er öffentlich in Kinos oder auf Festivals präsentiert wird.

À pas aveugles (From Where They Stood)
Frankreich / Deutschland
von Christophe Cognet
mit Christophe Cognet
*Weltpremiere

Anmaßung
Deutschland
von Chris Wright, Stefan Kolbe
mit Nadia Ihjeij, Josephine Hock
*Weltpremiere

Doch rybaka (Tzarevna Scaling)
Russische Föderation
von Uldus Bakhtiozina
mit Alina Korol, Viktoria Lisovskaya, Valentina Yasen
*Internationale Premiere / Debütfilm

Esquí (Ski)
Argentinien / Brasilien
von Manque La Banca
mit José Alejandro Colin, Segundo Botti, Shaman Herrera
*Weltpremiere /Debütfilm

The First 54 Years – An Abbreviated Manual for Military Occupation
Frankreich / Finnland / Israel / Deutschland
von Avi Mograbi
mit Avi Mograbi
*Weltpremiere

Garderie nocturne (Night Nursery)
Burkina Faso / Frankreich / Deutschland
von Moumouni Sanou
*Weltpremiere / Debütfilm

The Inheritance
USA
von Ephraim Asili
mit Eric Lockley, Nozipho McClean, Chris Jarrell
Debütfilm

Jai jumlong (Come Here)
Thailand
von Anocha Suwichakornpong
mit Apinya Sakuljaroensuk, Waywiree Ittianunkul, Sirat Intarachote
*Weltpremiere

Juste un mouvement (Just a Movement)
Belgien / Frankreich
von Vincent Meessen
mit Dialo Blondin Diop, Ousman Blondin Diop, Marie-Thérèse Diedhiou
*Weltpremiere

Mbah Jhiwo (Mbah Jhiwo / Ancient Soul)
Spanien
von Alvaro Gurrea
mit Yono Aris Munandar, Sayu Kholif, Musaena’h
*Weltpremiere /Debütfilm

No táxi do Jack (Jack’s Ride)
Portugal
von Susana Nobre
mit Amindo Martins Rato, Maria Carvalho, Joaquim Verissimo
*Weltpremiere

Qué será del verano (What Will Summer Bring)
Argentinien
von Ignacio Ceroi
mit Ignacio Ceroi, Mariana Martinelli, Charles Louvet
*Weltpremiere

A River Runs, Turns, Erases, Replaces
USA
von Shengze Zhu
*Weltpremiere

Sichuan hao nuren (The Good Woman of Sichuan)
Kanada
von Sabrina Zhao
mit Weihang He, Ruobing Zhao
*Weltpremiere /Debütfilm

Ste. Anne
Kanada
von Rhayne Vermette
mit Isabelle d’Eschambault, Jack Theis, Valerie Marion
*Weltpremiere /Debütfilm

Taming the Garden
Schweiz / Deutschland / Georgien
von Salomé Jashi

La veduta luminosa (The Luminous View)
Italien / Spanien
von Fabrizio Ferraro
mit Alessandro Carlini, Catarina Wallenstein, Freddy Paul Grunert
*Weltpremiere


Presseabteilung
9. Februar 2021