2024 | Artistic Director's Blog
Über Scorsese
Carlo Chatrian war von Juni 2019 bis März 2024 Künstlerischer Leiter der Berlinale. In seinen Texten nähert er sich dem Festival, herausragenden Filmschaffenden und dem Programm auf persönliche Art und Weise.
Wir leben nur kurze Zeit auf der Erde und sind immer ungewiss - Roberta Hill Whiteman
Jeder Film von Martin Scorsese führt in die Weite. Oft spielt in seinen Filmen die Straße eine zentrale Rolle und verweist auf einen Weg, den die Figuren mit großen Schritten zurücklegen, ohne zu wissen, wohin er sie am Ende führen wird. Viele von ihnen nehmen ein tragisches Ende, denn Scorsese hat ein feines Gespür dafür, wie unweigerlich Wünsche sich zerschlagen und wie kurzlebig die Ideale sind, die unser Handeln leiten. Scorseses Figuren wirken so, als würden sie in die Welt, die sie umgibt, nicht passen. Sie leben ihre Lebenszeit, ziehen oft ihren Nutzen oder Vorteil daraus und machen trotzdem den Eindruck, von den Dingen überwältigt zu werden – auch dann, wenn das Glück ihnen hold zu sein scheint. Dieses Gefühl hat sich mir eingeprägt und begleitet mich seit Taxi Driver (1976) – dem ersten Scorsese-Film, den ich gesehen habe, wenn ich mich richtig erinnere. Während des gesamten Films schaute ich aufmerksam, aber auch mit einer gewissen Vorsicht, dem scheuen Travis Bickle zu – und gerade als ich mich ihm mehr und mehr verbunden fühlte, kippte das Geschehen unerwartet.
In After Hours (1985) wird der Eindruck der Fragilität, die sich oft unter einer harten Schale verbirgt, umgekehrt. Dass ich diesen Film allein in der gedämpften Atmosphäre des heimischen Wohnzimmers auf einem kleinen Fernsehschirm sah, hat seine kafkaeske Dimension noch verstärkt. Im Gegensatz zu den meisten anderen Scorsese-Figuren ist Paul Hackett jemand, mit dem man sich leicht identifizieren kann. Paul findet sich – ähnlich wie Alice hinter den Spiegeln – in einer Stadt wieder, die zur verkehrten Welt mutiert scheint. Ihn lockt die Möglichkeit, eine Story „wie im Kino“ zu erleben – und er macht Bekanntschaft mit der verborgenen Seite der Fiktion. Die tatsächlichen oder vermeintlichen Narben Rosanna Arquettes stehen metaphorisch für die Gewalt, die der bürgerliche Mensch sich vom Leib halten will. Doch in Scorseses Weltsicht ist in der Gesellschaft der Menschen die Gewalt unvermeidlich.
Die Bildgestaltung übernimmt in After Hours ein Kameramann, zu dessen Stärken seine spezielle europäische Prägung gehört. Seine Zusammenarbeit mit Fassbinder lag damals schon länger zurück, aber ihr Einfluss ist unverkennbar in der Art und Weise, wie er Oberflächen ins Bild setzt – egal, ob es sich um Orte handelt oder um die menschliche Haut. Michael Ballhaus‘ Leistung besteht darin, dass er Paul Hacketts Reise durch die Nacht an Körpern und Orten festmacht, so dass deren Gewicht fühlbar wird. Die Kraft der Fotografie offenbart sich nicht nur in der fließenden Bewegung dieser Odyssee – die Entscheidung, sich dem Kino zu verschreiben, traf Ballhaus nach einem Besuch am Set von Max Ophüls‘ Lola Montès (1955) –, sondern auch darin, dass sie das Fleisch als Kontrapunkt zur traumähnlichen Dimension des Erzählten spürbar machen kann.
Aus der Zusammenarbeit mit dem Kameramann, geboren in Berlin, entstand eine außergewöhnliche Bindung. Ballhaus‘ Suche nach neuen Ausdrucksformen, die im Laufe seines amerikanischen Abenteuers eine Neuinterpretation des deutschen Expressionismus hervorbringt, gibt Scorseses dramatischer Bildwelt ganz neue Impulse. Während der diesjährigen Berlinale zeigen wir den ersten und den letzten Film, die im Rahmen dieser Zusammenarbeit entstanden sind. Geografisch sind New York und Boston nicht weit voneinander entfernt, aber durch die zwischen The Departed (2006) und After Hours entstandenen Filme – von The Last Temptation of Christ (1988) über Goodfellas (1990) und The Age of Innocence (1993) bis zu Gangs of New York (2002), um nur einige zu nennen – scheinen Welten zwischen diesen beiden zu liegen.
Ich weiß nicht mehr, in welchem Kino ich The Departed gesehen habe. Lebhaft in Erinnerung geblieben ist mir aber die Szene am Anfang des Films, speziell der kleine Junge mit dem verlorenen Blick, der in einer in warmes Licht getauchten Mischung aus Kneipe und Kramladen sitzt. Den Rest des Films sehe ich in der Erinnerung in kalte Farben getaucht, sowohl in den Innenräumen als auch im Freien. Neben dem Krimi-Thriller erzählt der Film zugleich eine Art Melodrama, das durch den Schauplatz, an dem es sich abspielt, heruntergekühlt wird. Ich meine nicht nur die Liebesgeschichte zwischen dem korrupten Polizisten (Matt Damon) und der Psychologin (grandios gespielt von Vera Farmiga), sondern auch die Beziehung zwischen der Figur, die Jack Nicholson spielt, und den beiden Protagonisten. Aus heutiger Sicht hat die von Matt Damon gespielte Figur viel von dem Ernest Burkhart, den Leonardo DiCaprio in Killers of the Flower Moon (2023) verkörpert und die aus einem absurden Schutzbedürfnis heraus zum Komplizen und Anstifter abscheulicher Verbrechen wird. Beide sind Waisen, beide haben einen Ziehvater, der ihnen Angst macht und für den sie die grausamsten Untaten begehen. Beide wünschen sich ein normales Leben und glauben bis zu einem gewissen Grad, dass ihnen das gelingt. Während Jack Nicholson seinem Frank Costello einen theatralischen Anstrich gibt, spielt De Niro sehr viel physischer. Wie immer.
Die Gewalt, in The Departed als eruptives Ausagieren von Wut zur Schau gestellt, erreicht in Killers of the Flower Moon eine neue Dimension. Es werden Morde verübt wie eine x-beliebige Alltagsverrichtung – eine Dienstleistung unter vielen, erbracht für einen großzügigen Auftraggeber, der als Kombination aus Onkel und Herrscher auftritt. Die Vernichtung der Opfer wird mit Zynismus und interessegeleitetem Kalkül betrieben. Amerikas Gewaltfantasien finden hier ihre extremste und heilloseste Ausprägung. Die staubigen, vom Weißen Mann angelegten Straßen werden mit Blutspritzern befleckt (und lassen damit an die Anfangssequenz von Casino (1995) denken, einem weiteren Scorsese-Film, in dem es ums Geld geht; hier stellt Joe Pescis Stimme aus dem Off die Wüste als den Ort vor, an dem die Leichen aus Las Vegas vergraben werden), aber der Film beginnt und endet mit einem Bild, das ein gegenteiliges Zeichen setzt. Zu Beginn des Films stellen das in Großaufnahme gezeigte Augenpaar und das Tipi und am Ende der farbenfrohe, aus der Vogelperspektive gezeigte Tanz der geraden Linie die Kreisform entgegen. In einem Film, der konzipiert ist wie ein Western, in dem die Unterdrückung des Schwachen System hat, wird die von Lily Gladstone gespielte Mollie Burkhart mit ihrer würdevollen Haltung und weichen Stimme zur Widerstandsfigur. Sie ist der Ausgangspunkt einer der schönsten und traurigsten Liebesgeschichten, die Scorsese je in Szene gesetzt hat. Sie nimmt kein glückliches Ende, weil das Blut letztlich dicker ist als das Herz, durch das es fließt, aber sie schafft es, einen Nimbus des Unbeschwerten zu verströmen, der sich von oben auf die Erde herabsenkt. Wie ein Tanz aus einer anderen Zeit.
Carlo Chatrian