2024 | Berlinale Shorts

Von Tieren, Menschen und dem Miteinander

Unterschiedliche filmische Formen und Themen treten im Programm der Berlinale Shorts miteinander in Dialog. Vertrautes wird genauer betrachtet, dem Fremden offen begegnet, Gefühle werden ausgedrückt und Zweifel zugelassen. Im Interview mit Sektionsleiterin Anna Henckel-Donnersmarck geht es um Visionen vom Zusammenleben, um Aufrichtigkeit beim Erzählen und die Rolle der Kunst in schwierigen Zeiten.

Kawauso von Akihito Izuhara

Welche Motive und Themen sind euch bei der Programmauswahl begegnet?

Die vielen Tiere fallen als erstes ins Auge, sei es im Titel, im Hintergrund oder als Protagonisten – ein Trend, der übrigens auch im Langfilm zu beobachten ist. In den Animationsfilmen We Will Not Be the Last of Our Kind, Les animaux vont mieux, Preoperational Model und Kawauso haben Tiere sogar die Hauptrollen übernommen. Erst hatten wir Sorge, dass es dadurch zu viele Doppelungen im Programm geben könnte, aber dann haben wir uns entschieden, den Tieren das Terrain zu überlassen.

Die Filme, in denen Tiere vorkommen, können als Reaktion auf den Klimawandel, auf menschliche Rücksichtslosigkeit und Machtmissbrauch gelesen werden. Siehst Du das ähnlich?

Ja, durchaus. Allerdings verzichten die Filme auf einen Call-for-Action, sondern geben vielmehr einem Gefühl Ausdruck. Kawauso zum Beispiel entpuppt sich als tieftrauriges Abschiedslied an den ausgestorbenen Japanischen Fischotter. Er nutzt dafür ein eigenwilliges filmisches Mittel: Immer, wenn die Protagonistin mit dem Otter sprechen möchte, setzt der Ton komplett aus. Die beiden können nicht miteinander kommunizieren, weil sie nicht in derselben Zeitebene existieren.

Ilias Largo in Oiseau de passage von Victor Dupuis

Im Kurzfilm kommen oft ungewöhnliche erzählerische Mittel zum Einsatz. Hast du weitere Beispiele?

In Shi ri fang gu wird eine Kamera-Drohne ausgeschickt um einen Strand abzusuchen. Diese Drohne verselbständigt sich ganz unmerklich und entführt den ganzen Film ins Magische. That’s All from Me ist ein mehrfach verschachtelter Videobrief, der in einigen Passagen ganz auf das Bild verzichtet. Ungewollte Verwandtschaft analysiert protokollierte Berichte ziviler Opfer des Krieges in der Ukraine. Er wählt dafür das Mittel des Reenactments und verweigert sich gleichzeitig einer Reproduktion von gewaltvollen Bildern. In Oiseau de passage verwendet ein Tonmann ein hochsensibles Mikrofon um mit seinem verstorbenen Freund in Kontakt zu treten. Das gemeinsame Lauschen führt zum gegenseitigen Zuhören und letztendlich zu einer Vergebung – eine Geste, die wir so selten zu sehen bekommen und zurzeit doch so dringend brauchen.

Meltem Unel und Nursema Çepni in Adieu tortue von Selin Öksüzoğlu

In der Pressemitteilung zu eurem Programm schreibst du, dass Kunst uns dabei unterstützen kann, den Kompass für das eigene Handeln auszurichten. Was meinst du damit?

Ich glaube wir bewegen uns zu oft in längst überholten, nutzlosen und manchmal sogar gefährlichen Narrativen. Die Kunst kann dieses Manko auffangen, indem sie Narrative hinterfragt und uns Alternativen vor Augen führt. Unser Umgang miteinander ist zurzeit so geprägt von Unterstellungen und Misstrauen, dass ich zum Beispiel ganz gerührt bin, wenn sich Menschen auf der Leinwand Vertrauen entgegenbringen, vor allem, wenn sie einander gar nicht kennen.

Gibt es Filmbeispiele, die das besonders gut zum Ausdruck bringen?

In Adieu tortue treffen zwei sehr unterschiedliche Menschen aufeinander – ein fünfjähriges Mädchen und eine erwachsene Frau – und sind einander eine Hilfe, ohne das selbst zu merken oder gar geplant zu haben. Die Schriftstellerin aus That’s All from Me ist bereit, Rat zu geben, obwohl sie die Ratsuchende nicht kennt. In der temporären Gemeinschaft eines Filmsets in Shi ri fang gu entstehen Momente der Solidarität zwischen denen, die am unteren Ende des Machtgefälles stehen. In dem gezeichneten Film Circle versuchen Passanten, die an sich nichts miteinander zu tun haben, sich so innerhalb eines Kreises zu positionieren, dass für alle Platz ist.

Al sol, lejos del centro von Luciana Merino und Pascal Viveros

Dieses Wechselspiel zwischen Individuum und öffentlichem Raum bzw. Stadt ist auch ein wiederkehrendes Motiv in diesem Jahr.

Ja, und diese Städte sind über den Globus verteilt. Al sol, lejos del centro begleitet zwei Frauen auf ihrem Spaziergang durch Santiago de Chile. Erst am Ende versteht man, dass sie auf der Suche nach einem Platz für ihre Liebe waren. Zwei Männer in einer Ferienwohnung in Frankfurt wiederum erinnern sich in Jing guo (Goodbye First Love) an eine Liebe, die einst im fernen Beijing begann. City of Poets erzählt zunächst von einer fiktiven, vermutlich persischen, Stadt und wird dann zum Porträt der Mutter der Ich-Erzählerin. Und Stadtmuseum / Mon Rai ist eine autobiografisch erzählte Hommage an die Stadt Berlin, ihr Chaos und ihre Bewohner*innen.

City of Poets und Stadtmuseum sind auch Porträts ihrer jeweiligen Gesellschaft. Gibt es davon noch mehr?

Un movimiento extraño schildert mit trockenem Humor die Lebensumstände in Buenos Aires vor der Pandemie. The Moon Also Rises beschreibt die Atmosphäre, die man in China während der Pandemie ansiedeln kann, und Re tian wu hou fängt das Lebensgefühl in einer Großfamilie ein, diesmal im China der späten 1990er-Jahre. Für diese beiden Filme diente übrigens die eigene Familie als Inspiration.

Kaalkapje von Marthe Peters

Das Schöpfen aus eigenen Erfahrungen, aber auch die konkrete Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie verleiht den Filmen oft eine besondere Intensität. Woran liegt das?

Ich denke, es liegt an der Aufrichtigkeit, mit der die Filme gemacht sind. Und an der Bereitschaft andere am eigenen Leben, an den Freuden und Ängsten, aber auch an den Zweifeln und der Verletzbarkeit teilhaben zu lassen. Ich denke da an Ungewollte Verwandtschaft oder Kaalkapje, die sich beide mit ihren Kindheitserfahrungen auseinandersetzen. Die Art wie Kaalkapje von der eigenen Krebserkrankung und den sowohl physischen als auch psychischen Spätfolgen berichtet, macht diesen Film so einzigartig und berührend. That’s All from Me, We Will Not Be the Last of Our Kind und City of Poets gehen spielerischer mit ihren Ich-Erzählungen um und geben keine Hinweise darauf, wo das persönlich Erlebte aufhört und das Erdachte anfängt. Jedem Film ist es gelungen eine sehr eigene aber jeweils stimmige Formensprache zu entwickeln um das zu transportieren, was er erzählen möchte. Man spürt die Aufrichtigkeit auch in der Wahl der Mittel.

Lass uns nochmal auf die Machart der Filme zu sprechen kommen. Welche Ästhetiken gibt es im Programm der Berlinale Shorts zu entdecken?

Wir haben zum Beispiel ein Machinima im Programm, also einen Film, der in einem Computerspiel gedreht wurde. Wie schon bei It Wasn’t the Right Mountain, Mohammad, den wir 2020 gezeigt haben, hat die Regisseurin für We Will Not Be the Last of Our Kind diese Computerspielwelt wieder selbst gebaut und sich als zeitgenössischer Avatar in eine Geschichte des Alten Testaments begeben. Eine ganz andere Technik kommt in Tako Tsubo zum Einsatz: Dieser Film ist in satten Wasserfarben gemalt, man sieht den nassen Pinselstrich und die Farbverläufe auf dem Papier. Und die digitale Collage Pacific Vein mutet wie die zeitgenössische Reinkarnation eines Hieronymus Bosch-Gemäldes an.

We Will Not Be the Last of Our Kind von Mili Pecherer

Bei einem Festival geht es ja nicht nur um die Filme, sondern auch um die Möglichkeit der Begegnung. Was habt ihr da zu bieten?

Jedes der fünf Programme der Berlinale Shorts wird sechs Mal öffentlich gezeigt: Wer nur die Filme sehen möchte, geht am besten in die Vorstellungen im Colosseum oder in der Titania. Im Cubix und dem HKW hat man die Gelegenheit die Filmteams kennenzulernen, die nach ihrem jeweiligen Film zu einem kurzen Gespräch auf die Bühne kommen. Wer sich an diesen Gesprächen beteiligen möchte, sollte die sogenannten „Shorts take their time“ - Wiederholungen im silent green besuchen.
Unsere wunderbare Jury kann man im Rahmen von Berlinale Talents kennenlernen. Mehr dazu auf der Berlinale Talents Website.
Vertiefendes zu den Filmen findet man wie immer auf dem Berlinale Shorts Blog.
Und in der Botschaft von Kanada setzen wir unsere Gesprächsreihe Shorts, Communities and Conversations fort. Hier betrachten wir, wo Kurzfilm außerhalb von Filmfestivals stattfindet. Diesmal geht es um den künstlerischen Kurzfilm im journalistischen Umfeld.

Ilker Çatak, Xabier Erkizia und Jennifer Reeder

Wer ist denn dieses Jahr in der Internationalen Jury der Berlinale Shorts?

Wir freuen uns sehr darüber Ilker Çatak, Xabier Erkizia und Jennifer Reeder in der Jury begrüßen zu dürfen. Die amerikanische Filmemacherin Jennifer Reeder ist eine langjährige Freundin des Festivals, ihr Film Blood Below the Skin lief 2015 bei Berlinale Shorts, Crystal Lake und Knives and Skin bei Generation und Perpetrator letztes Jahr im Panorama. Sie ist regelmäßig Mentorin bei Berlinale Talents und war 2017 in der Internationalen Jury von Generation 14plus. Xabier Erkizia ist ein Sound-Künstler und -Forscher aus Spanien. Er hat an über 100 Filmen mitgewirkt, u.a. an El sembrador de estrellas (Berlinale Shorts 2022) und Samsara (Encounters 2023) und ist auch selbst als Filmemacher tätig. Ilker Çatak ist deutsch-türkischer Regisseur und Drehbuchautor aus Berlin. Er hat über ein Dutzend Kurzfilme gemacht und sorgt gerade mit seinem Das Lehrerzimmer für viel Aufsehen. Der Film feierte 2023 seine Premiere im Panorama, erhielt zahlreiche Preise und ist für den Oscar als Bester Internationaler Film nominiert.

Circle von Joung Yumi

Jury-Arbeit ist Teamwork, Filmemachen ist Teamwork und du bist auch nicht allein bei der Auswahl der Filme der Berlinale Shorts. Wer war dieses Jahr in deinem Auswahlgremium?

Im Gremium der Berlinale Shorts kommen sehr unterschiedliche Expertisen, Perspektiven, Erfahrungen und Lebensläufe zusammen. In alphabetischer Reihenfolge sind das der Berlinale-Veteran und Festival-Koordinator Wilhelm Faber, der Künstler Azin Feizabadi, der Filmemacher Alejo Franzetti, die Filmprogrammerin und Produzentin Qila Gill, der Filmprogrammer und Student Moritz Maul, die Filmwissenschaftlerin und Kuratorin Maria Morata und die Kulturarbeiterinnen und Filmprogrammerinnen Jana Riemann, Sarah Schlüssel und Nihan Sivridag. Es ist immer wieder eine Freude und Bereicherung mit diesem wunderbaren Team arbeiten zu dürfen.