2023 | Perspektive Deutsches Kino

Zwischen Leidenschaft und Selbstbestimmtheit

In ihrer ersten Edition als Sektionsleiterin der Perspektive Deutsches Kino spricht Jenni Zylka über die vielfältigen filmischen Formen der diesjährigen Auswahl: von auf Originalmaterial beruhenden eindringlichen Dokus über ein Kurzmusical bis zu klug konzipierten Beziehungsporträts. Was sie eint, ist der Blick auf das Globale im Eigenen.

Knochen und Namen von Fabian Stumm

Jenni, diese Edition ist deine erste als Leiterin der Perspektive Deutsches Kino, aber bei weitem ist es nicht deine erste Berlinale - inwiefern lässt sich deine Erfahrung aus der Mitarbeit beispielsweise bei Panorama in die neue Position überführen?

Die Leidenschaft für Film ist ja quasi Grundlage für beide Jobs, also für den alten, als Vorsichterin und Moderatorin, und den neuen als Sektionsleiterin. Jetzt habe ich zwar mit den deutschen Debüt- und Zweitfilmen ein anderes Kontingent, aber es geht bei der Auswahl immer noch darum, sich in einen Film, also eine Figur, ein Thema, eine Idee, eine Umsetzung zu verlieben, zu analysieren, wieso das so ist, und Kriterien zu finden, wie das zu beurteilen ist. Darüber hinaus lerne ich in meiner ersten Festanstellung bemerkenswerte Dinge wie Teammanagement und das Kennzeichnen von Joghurtbechern und Crémantflaschen mit meinen Initialen für den Gemeinschaftskühlschrank. Letzteres ist natürlich am Wichtigsten.

In Bezug auf die Ausrichtung der Perspektive, welche Ideen und Wünsche hast du für die zukünftige Entwicklung der Sektion?

Ich würde sie gern größer machen, in jeglicher Hinsicht – vor allem, was die Bedeutung des deutschen Films im Ausland betrifft. Es gibt keinen Grund, wieso deutsche Nachwuchsfilme nicht in die Welt losziehen und global wahrgenommen werden sollten. Dafür hat die Perspektive von Anfang an gearbeitet. Filme sind dann gut, wenn sie eine universale Botschaft haben, eine universale Geschichte erzählen – es ist doch eigentlich nebensächlich, woher sie kommen. Und in Deutschland produzierte Geschichten sind selbstredend genauso dringlich, emotional und universal wie alle anderen.

Sieben Winter in Teheran von Steffi Niederzoll

Der Eröffnungsfilm Sieben Winter in Teheran von Steffi Niederzoll erzählt von einem Justizskandal im Iran, der einer jungen Frau das Leben kostete - wie schafft es der Film, das verheerende Ausmaß misogyner Gesetzgebung eines patriarchalen Systems so eindrücklich zu vermitteln? Und wie kommentiert Sieben Winter in Teheran die aktuellen Geschehnisse der Revolution im Iran?

Es ist klar, worauf bei dieser unfassbaren und empörenden Geschichte der Fokus liegt, und auch liegen muss: Auf der Protagonistin Reyhaneh Jabbari, ihrer Familie, und auf der Darstellung der Ungerechtigkeit dieses Systems. Die Debütregisseurin Steffi Niederzoll hat einen beeindruckend zurückhaltenden Film gemacht, der allein durch die Fakten spricht, und der – gerade darum – wahnsinnig anrührend ist. Ihr Material ist zudem wirklich ungewöhnlich – viele Originalbilder, Originalstimmen, dazu konnte sie eine enge und warme Beziehung zu den Hinterbliebenen aufbauen. Das macht es noch authentischer und näher. An dem Film stimmt einfach alles. Es ist natürlich furchtbar, wie aktuell der Film ist – er zeigt einmal mehr, wie Frauen- und damit schlicht Menschenrechte in diesem Land ignoriert werden, und wie notwendig es ist, national und international dagegen zu protestieren. Damit sich endlich etwas ändert, und solche Geschichten wie die von Reyhaneh nie wieder passieren.

Ararat von Engin Kundağ

In vielen Beiträgen des Programms lassen sich Protagonist*innen ausmachen, deren Wunsch nach (sexueller) Selbstbestimmtheit in scharfem Kontrast zu den gesellschaftlichen und familiären Erwartungen steht. Zu denken wäre dabei etwa an Elaha von Milena Aboyan, Ararat von Engin Kundağ, Geranien von Tanja Egen und El secuestro de la novia (Die Brautentführung) von Sophia Mocorrea. In welchem Verhältnis stehen diese Filme zueinander, wie ergänzen und kommentieren sie sich, vor allem bezüglich des oben genannten Aspekts?

Ja, dieser Aspekt findet sich tatsächlich in all diesen Filmen – und dennoch sind sie extrem vielfältig, weil die Ausgangssituationen so unterschiedlich sind: Die Deutschkurdin Elaha muss für sich herausfinden, welche Rolle beschränkende kulturelle Zwänge – in diesem Fall geht es um die Rekonstruktion ihres Hymens – für sie spielen. In Ararat ist der Konflikt viel unausgesprochener, geheimnisvoller – man ahnt nur, was die sehr verschlossene, aber auch hochinteressante Protagonistin erlitten haben könnte. In Geranien geht es um die – wie ich finde – sehr weise und hübsche Erkenntnis, dass auch die eigenen Eltern jemandes Kinder sind. Und Sophia Mocorrea erzählt schön frei davon, wie bescheuert Traditionen sein können und welche Missverständnisse sie bergen. Das sind also mannigfaltige Konflikte – so divers wie das Leben.

Niels Thalmann und Christian Erdt in Langer Langer Kuss von Lukas Röder

Auf sehr eigene und sehr unterschiedliche Art erzählen Knochen und Namen von Fabian Stumm und Langer Langer Kuss von Lukas Röder von Beziehungen, die an einem Endpunkt angekommen sind. Welche Perspektiven nehmen die Filme in der Erkundung dieser mitunter schmerzhaften Reflektionen ein?

In Knochen und Namen geht es um eine Liebesbeziehung, die schon eine Weile dümpelt – Boris und Jonathan verhandeln Nähe- und Distanzfragen, typische Konflikte, die jede*r aus eigener Erfahrung kennt, das Ganze ist ungemein klug und unterhaltsam dargeboten, in tableauartigen Szenen mit vielen philosophischen Seitenhieben auf den Unterschied zwischen Realität und Film. Langer Langer Kuss dagegen porträtiert die Beziehung zwischen Geschwistern: Aarons Schwester macht sich große Sorgen um ihn, weil er sich seit dem Liebesaus mit seinem Freund nicht mehr die Zähne putzt. Der Film hat trotz seiner mittleren Länge eine enorme Sogkraft und etwas sehr Spannendes und Beunruhigendes. Allein die Vorstellung, dass sich jemand nicht die Zähne putzt, geht einem ja schon auf eine komische Weise unter die Haut.

Nomades du nucleaire (Atomnomaden) von Kilian Armando Friedrich porträtiert in bestechenden Bildern nicht nur individuelle Schicksale sogenannter Atomnomaden, er zieht zudem Verbindungslinien ein, um prekäre Arbeitsbedingungen am Rande der Gesellschaft anzuprangern. Was leistet dieser Film, speziell in einer Zeit, in der die krisenhaft gewordene Energieversorgung die Nachrichten dominiert?

Das ist ein sehr eindringlicher Film. Wir sehen Menschen, die ihre Gesundheit aufs Spiel setzen, um eine Zukunft zu haben – und genau diese Zukunft damit eventuell verhindern… Neben den individuellen Geschichten, die übrigens alle allein durch das nahe und vorsichtige Beobachten der Beteiligten entstehen, also im klassischen Fly-on-the-Wall-Style, wird einem nochmal nachhaltig und schmerzhaft bewusst, wie gefährlich AKWs in jeder Beziehung sind. Gleichzeitig ist der Film aber auch ein wirklich erschütterndes Portrait einer ganz besonderen Arbeitswelt. Das „Nomadische“, das ja in letzter Zeit durch den hippen Begriff der nonchalant globetrottenden „Arbeitsnomaden“ eine positive Konnotation bekommen hat, aber dann durch großartige Filme wie Nomadland zurecht relativiert wurde, bekommt in diesem Film eine düstere Anmutung: allein wie der Wohnwagen vor dem rauchenden Meiler steht, und drum herum glücklich Kinder spielen, geht einem sehr nah.

Nomades du nucleaire (Atomnomaden) von Kilian Armando Friedrich

Auch die eindringliche und aufwühlende Dokumentation Vergiss Meyn Nicht von Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl und Jens Mühlhoff kommt ihrem Protagonisten, Filmstudent Steffen Meyn, alleine schon über das genutzte Material sehr nahe: zwei Jahre lang filmte Meyn mit einer 360°-Helmkamera die Besetzung des Hambacher Forsts, bis er bei der Räumung durch die Polizei zu Tode kam. Der Film nun greift dieses Material auf und erweitert es um Interviews mit Aktivist*innen. Nicht zuletzt in Hinsicht auf die jüngsten Entwicklungen um den bis vor kurzem von Klimaaktivist*innen besetzten Ort Lützerath bekommt der Film eine so aktuelle wie bittere Note...

Ja, darum war – und bin – ich auch wirklich angefasst. Nicht nur, dass man quasi den Moment des Todes von Steffen Meyn im Bild festgehalten hat – die Filmemacher*innen sind selbstverständlich pietätvoll und schlau genug, das nicht zu zeigen – sondern das gesamte Material ist in vielerlei Hinsicht von im wahrsten Wortsinn schwindelerregender Qualität. Wir bewegen uns fast die gesamte Zeit auf 30 Meter Höhe, wir sind also in Gefahr – und erleben, dass Menschen diese Gefahr auf sich nehmen, indem sie ihr Leben für den Naturschutz aufs Spiel setzen. Den Beteiligten im Film, den von Steffen Meyn kontaktierten und danach von den Filmemacher*innen nochmal befragten Aktivist*innen ist das total klar – sie reflektieren ihre Rolle und Intention nach der ganzen Aktion voller Zweifel und Selbstkritik, obwohl sie natürlich weiterhin vom Ziel ihres Handelns überzeugt sind. Vergiss Meyn Nicht ist darum ein extrem aktueller Film: Was kann es Relevanteres geben, als die Frage danach, wie weit Aktivismus gehen muss oder darf? Im Zusammenhang mit „Lützi oder auch mit den Aktionen der „Letzten Generation“ sind genau das Themen, die unsere Gesellschaft gerade enorm bewegen. Es geht ja im Endeffekt immer darum, gemeinsam unsere Welt zu verbessern, und Wege zu finden, um nachhaltiger zu leben.

Vergiss Meyn Nicht von Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl und Jens Mühlhoff

Die in Vergiss Meyn Nicht aufgeworfenen Fragen um Polizeigewalt und einem ihr inhärenten strukturellen Rassismus greifen auch Bárbara Santos und João Pedro Prado in Ash Wednesday auf besondere Weise auf, nämlich in Form eines Kurzmusicals. Worin liegt die besondere Stärke dieser sehr speziellen Form, die rohe Gewalt mit Musik kombiniert?

An dem Film überzeugt mich, wie gut Rhythmen und Instrumentierung zum Thema passen: Wenn der Polizist zu diesen brasilianischen Trommeln sein verächtliches „Favelado!“, in etwa: Slumdog, also eine Beleidigung herausspuckt, dann erzählt das auf mehreren Ebenen von Machtverhältnissen und von Rassismus. Er kann es sich leisten, die Menschen in der Favela zu beleidigen, sie willkürlich zu bestrafen, auf sie zu schießen. Die gesamte Favela wurde übrigens im Studio der HFF Potsdam nachgebaut – unglaublich! Es sieht wahnsinnig echt aus, und der Film wirkt trotz mittlerer Länge sehr immersiv.

Ash Wednesday von Bárbara Santos und João Pedro Prado

Überdies hinaus, kristallisieren sich für dich in der Auswahl dieser Edition weitere thematische oder stilistische Motive heraus?

Für mich ist dieses Jahr ziemlich von dem Nachdenken über Sustainability und Selbstbestimmung geprägt – und das ist auch gut so! Film ist ja immer auch ein Spiegel der Gesellschaft. Im Ganzen scheinen globale Themen ein kleines bisschen die Suche nach den eigenen Dämonen abzulösen. Stilistisch sehe ich – wie immer – eine große Bandbreite, und es macht wirklich Spaß, sich das anzuschauen.

Neu dieses Jahr ist die Einführung des Formats Perspektive Match, kannst du dieses kurz erläutern? Wie seid ihr bei der Auswahl der Filme für diese ergänzende Reihe vorgegangen?

Das ist ein tolles Format – es war schon letztes Jahr von Linda Söffker angedacht, konnte aber coronabedingt nicht realisiert werden. Umso glücklicher bin ich jetzt, dass wir es in leicht veränderter Form umsetzen können: Wir wollen die Gewerke stärken, die Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken, dass ein Film ein kollektives Kunstwerk ist. Darum bringen wir bei vier Filmen aus dem Programm die jeweiligen Verantwortlichen aus verschiedenen Gewerken – Musik, Montage, Ton, Schauspiel – mit erfahrenen Kolleg*innen aus der Deutsche Filmakademie zusammen. Wir konnten dafür den Editor Hansjörg Weissbrich, die Schauspielerin Jenny Schily, den Sounddesigner Frank Kruse und den Filmkomponisten Ali N. Askin gewinnen. An vier Nachmittagen zeigen wir je einen Film aus dem Oeuvre ders DFA-Kolleg*innen, danach tauschen sich die Newcomer*innen und die Profis aus. Die Filmauswahl haben wir zusammen mit den DFA-Kolleg*innen getroffen, es sollten natürlich Filme sein, in denen ihr jeweiliges Gewerk eine besondere Rolle spielt: Requiem von Hans-Christian Schmid hat eine besondere und sensible Montage, bei Ein Hologramm für den König von Tom Tykwer ist unter anderem die Tongestaltung wirklich außergewöhnlich, der Soundtrack von Ali Soozandehs Teheran Tabu ist beeindruckend versatil, und Jenny Schily spielt in Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern von Stina Werenfels so hingebungsvoll, dass es eine reine Freude ist.

Gibt es weitere Wortveranstaltungen, jenseits des Perspektive Matchs?

Ja! „Reden über Film“ wird wieder stattfinden, dieses Mal in neuer Location: Im Manifesto Market in The Playce (den ehemaligen Potsdamer Platz Arkaden), treffe ich an zwei Terminen Expert*innen aus der Branche. Am ersten Sonntag spreche ich mit einer Schauspielerin und einer Castingagentin über Casting und die vielen Fragen, die damit zusammenhängen – wie kriegt man heraus, wer sich eignet, was ist Typecasting und so weiter. Und am Samstag spreche ich über Musik und Musikrechte im Film, mit einer Musiksupervisorin und einem Filmmusikkomponisten. Musik beziehungsweise der Score ist ja ein enorm wichtiges Gewerk im Film, es geht direkt an die Emotionen – und dennoch wird es manchmal kaum wahrgenommen. Auf der anderen Seite steht der Soundtrack, der im Gegensatz zum Score aus Musik besteht, die es schon vorher gab – und das ist auch eine sehr komplexe Angelegenheit, denn es kostet selbstverständlich Geld, wenn man anderer Menschen Musik benutzt. Und die richtige auszuwählen ist ebenso wichtig, wie die richtige Musik zu komponieren.

Kash Kash von Lea Najjar

Es gibt auch wieder zwei Filme als Gäste der Perspektive; könntest du etwas vor allem zu Kash Kash von Lea Najjar erzählen?

Klar. Der eine Film wird im Rahmen unserer Kooperation mit der DEFA Stiftung gezeigt; das ist eine tolle, frisch restaurierte Fassung von Jakob der Lügner, Frank Beyers sehr bewegender Jurek Becker-Adaption von 1974, mit Vlastimil Brodský und einem jungen Henry Hübchen. Und Kash Kash, unser First Steps-Gast, also der Gewinner des letztjährigen First Steps-Awards, ist ein ungewöhnlicher Dokumentarfilm: Er porträtiert Taubenspieler, Menschen, die auf den Dächern von Beirut Tauben halten und diese in einem Glücksspiel in den Himmel schicken – auf wessen Dach am meisten fremde Tauben landen, der hat gewonnen. Ein sehr poetischer Film, sowohl auf der inhaltlichen wie auch auf der Bildebene – man sieht viel aus Taubensicht, man gleitet quasi auf den Schwingen der Vögel über den Beiruter Himmel, während sich unten harte Realitäten wie die Explosion im Hafen, die Proteste gegen die Regierung und die Missstände in der Gesellschaft abspielen.

Kannst du abschließend noch etwas zu der diesjährigen Perspektive-Jury sagen?

Sehr gern – von Jöns Jönssons hintergründigem Film Axiom in der Sektion Encounters war ich im letzten Jahr so begeistert, dass ich ihn gleich für dieses Jahr in die Jury eingeladen hab! Die Schauspielerin Dela Dabulamanzi ist mir schon lange aufgefallen – sie hat einen einzigartigen Schalk in ihren Rollen, und kann aber auch blitzschnell umschalten. Und von der Editorin Anne Fabini bin ich eh Fan, sie ist großartig in ihrem Fach und eine sehr weise Gesprächspartnerin, wenn es um Film geht. Ich bin gespannt, was die drei von unseren Filmen halten, und welchen sie als Gewinner auswählen. Und ich bin froh, dass ich ihren Job nicht machen muss – ich könnte mich garantiert nicht entscheiden!