2023 | Encounters

Signale aus der Galaxie des Kinos

Innovative Filmsprachen und das Ausloten von Genregrenzen stehen auch dieses Jahr im Zentrum des Programms von Encounters. Im Interview sprechen der Künstlerische Leiter Carlo Chatrian und Programmleiter Mark Peranson über die in der Auswahl vertretenen dokumentarischen Formen, das Spiel mit Stilmitteln und ganz besondere Filmpaare.

Hannah Gross, Sophia Lillis und Michael Cera in The Adults

Die noch recht neue Sektion hatte einen bewegten Start: Seit sie 2020 anlässlich des 70-jährigen Festivaljubiläums ins Leben gerufen wurde, hat sie digital, als Sommeredition und als physische Ausgabe unter Pandemiebedingungen stattgefunden. Worauf habt ihr euch in diesem Jahr bei der Auswahl konzentriert? Und was sind die Schwerpunkte 2023?

Wir versuchen, unsere Auswahl von Anfang an vollkommen unvoreingenommen zu treffen. In der Sektion Encounters hoffen wir, Signale aus der sich stets weiterentwickelnden Galaxie des Kinos zu empfangen. Wir achten hier mehr als irgendwo sonst darauf, was sich an den Grenzen abspielt – an den Grenzen zwischen Filmsprachen und zwischen Filmgenres. In diesem Jahr haben wir mehr denn je etliche dokumentarische Formate berücksichtigt. Beim genaueren Hinsehen ist jeder dieser Filme jedoch ziemlich hybrid, selbst die einfacheren.

Das Programm ist hinsichtlich der Produktionsländer äußerst vielfältig. Spielt dies eine entscheidende Rolle im Auswahlprozess? Und wenn ja, welche?

In keiner Festivalsektion arbeiten wir mit vorab festgelegten Quoten. Wir bemühen uns um ein möglichst breites Länderspektrum, forcieren aber unsere Auswahl nicht dahingehend, um die Weltkarte zu füllen. Uns ist bewusst, dass Filme in Wellen kommen; wenn in diesem Jahr beispielsweise Asien stark vertreten ist, könnte dies im nächsten Jahr für Südamerika der Fall sein. Apropos Produktionsland: Wir möchten betonen, dass dies in manchen Fällen nicht der beste Weg ist, um das Herkunftsland des Filmes zu bestimmen. Mon pire ennemi (My Worst Enemy) von Mehran Tamadon wurde beispielsweise in Frankreich gedreht und zwischen Frankreich und der Schweiz produziert. Es handelt sich aber um einen komplett iranischen Film, wenn wir uns seinen Schaffensprozess ansehen.

Oscar-Roza Miller in Orlando, ma biographie politique

Die Filme im Programm decken eine Vielzahl von Themen ab: Familie, Krieg, Gender, Politikgeschichte oder abstraktere Begriffe, wie Freiheit und Einschränkung. Ein verbindendes Element scheint ihre gesellschaftliche Relevanz zu sein...

Genau genommen gibt es kein wirkliches verbindendes Element – wenn nicht den Willen, filmische Mittel auf unkonventionelle Art einzusetzen. Wir wollen die gesellschaftliche Relevanz, die Filme haben können, nicht leugnen – und die meisten Filme im diesjährigen Encounters-Programm haben diese Qualität. Das ist jedoch nicht der Grund, warum sie ausgewählt wurden. Unsere Motivation besteht darin, junge Filmschaffende oder Filme mit innovativem Storytelling zu unterstützen; und Filme, die Kategorien hinterfragen, die versuchen zu ergründen, was mit den Mitteln des Kinos möglich ist. Nehmen wir zum Beispiel Orlando, ma biographie politique (Orlando, My Political Biography) von Paul B. Preciado, ein starkes, politisch engagiertes Projekt, ein Film, der die binäre normative Sicht auf die Gesellschaft hinterfragt. Aber wir haben ihn ausgewählt, weil es auch ein sehr freier Essay ist, in dem fiktionalisierte und dokumentarische Szenen Hand in Hand gehen. Paul B. Preciado ist es gelungen, seine Gedanken in etwas filmisch Innovatives zu übertragen. Ein anderes Beispiel von der gegenüberliegenden Seite des Spektrums ist The Adults, eine recht schnörkellose Komödie von Dustin Guy Defa, mit solidem Drehbuch und großartiger Besetzung. Wir haben uns entschieden, diesen Film für Encounters auszuwählen, nicht nur, weil wir Dustin Guy Defas Arbeit hervorheben und unterstützen möchten, sondern auch, weil der Film auf dem vielschichtigen Konzept des „Spiels“ aufgebaut ist. Die drei Geschwister des Films sind die ganze Zeit am Spielen. Die Hauptfigur, verkörpert von Michael Cera, ist beispielsweise pokersüchtig. Das Imitationsspiel geht jedoch noch weiter und trennt sie manchmal von der realen Welt – das gilt auch für die Handlung, die sie eigentlich fortführen sollen. Insofern ist The Adults eine Art metaphysische Geschichte, die dabei die Zuschauer*innen stets in ihrem Bann hält.

Viver Mal

Die beiden Filme von João Canijo, Mal Viver (Bad Living, Wettbewerb) und Viver Mal (Living Bad, Encounters), bilden ein „Filmpaar“. Zeit und Ort, in/an denen die Filme spielen, sind zumindest auf einer gewissen Ebene eins. Allerdings erzählen beide Filme die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven und Blickwinkeln, wodurch sie ihre eigenen spezifischen Räume schaffen und so die Wahrnehmung der Geschichte verändern. Inwieweit muss das Publikum beide Filme sehen?

Das ist ein sehr spezielles Projekt. Wir haben viel darüber nachgedacht, bevor wir uns entschieden haben, die Filme in zwei unterschiedlichen Sektionen zu zeigen. Die Filme bilden ein Diptychon. Wir müssen also, wie bei einem Gemälde, beide Filme sehen, um zu verstehen, was der Regisseur erreichen wollte. Aber wie bei vergleichbaren Projekten – ich denke da an Smoking und No Smoking (Alain Resnais, Wettbewerb 1994) oder The Souvenir (Joanna Hogg, Panorama 2019) und The Souvenir II (2021) – kann jeder Film für sich allein stehen und ist erzählerisch und ästhetisch verständlich, ohne dass wir die anderen Filme sehen. Canijo hat die beiden Filme nach dem Schuss-Gegenschuss-Prinzip komponiert. Bei dem einen Film stehen die Betreiberinnen eines Hotels im Mittelpunkt, beim anderen die Gäste. Beide basieren zwar auf denselben Szenen, die aber aus verschiedenen Blickwinkeln aufgenommen wurden. Canijo spielt mit dem Konzept der Mise en Scène, also der Kunst, Geschichten durch eine besondere Raumgestaltung zusätzliche Bedeutung zu verleihen.

Mummola

Der Film Mummola (Family Time) von Tia Kouvo behandelt das Thema Familie auf vollkommen andere Art als Mal Viver. Er zeichnet sich visuell durch lange Einstellungen aus, konzentriert sich auf teils ungelöste, teils offen ausgetragene Familienkonflikte und entwickelt seine ganz eigene Form der Komik...

Ein Vergleich der zwei Filme kann interessant sein, auch wenn bei Mal Viver die Beziehung zwischen Liebenden im Vordergrund steht und die Familie eher ein zusätzliches Element ist. Aber beide Filme nutzen Räume, größtenteils Innenräume, um Gefühle oder Stimmungen der Figuren zu übertragen – zumindest die der Hauptfiguren. Dramaturgisch setzen beide auf Konflikte, die sich unter einer recht gleichförmigen Oberfläche verbergen. Tia Kouvo beschließt, jene Oberfläche nicht zu durchbrechen, sondern lässt die Zeit innerhalb der Einstellung wirken, um die Risse innerhalb der Familie aufzudecken. Canijo nutzt Einstellungen und Kamerabewegungen, um ähnliche Risse offenzulegen – das ist bei Mal Viver öfter der Fall als bei Viver Mal, der eher linear verläuft.

Zar Amir Ebrahimi und Mehran Tamadon in Mon pire ennemi

Der bereits erwähnte Mehran Tamadon ist ein weiterer Filmemacher, der mit zwei Filmen in unterschiedlichen Festivalsektionen vertreten ist. In Mon pire ennemi (Encounters) und in Jaii keh khoda nist (Where God Is Not, Forum) greift er Traumata aus der Vergangenheit auf und erläutert aktuelle politische Krisen. Inwieweit kommentieren oder ergänzen sich die beiden Filme? Wie wird ihr Dialog gestaltet?

Beide Filme sind aus derselben Inspiration und einem identischen Wunsch heraus entstanden. Mehran Tamadon wollte, dass Menschen, die Gefängnis und Folter im Iran erlitten hatten, so sachlich wie möglich über ihre grausamen Erfahrungen berichten. Eigentlich hatte der Regisseur die „verrückte“ Idee, eine Trilogie zu drehen, deren drittes Kapitel ein Dialog mit den Verantwortlichen iranischer Gefängnisse hätte sein sollte. In Anbetracht der aktuellen Protestbewegung hat sich herausgestellt, dass dieser dritte Akt nie zustande kommen würde. Aber die Realität dessen, was im Iran passiert ist und bis heute passiert, gibt dem Film ein anderes Gewicht, und unserer Ansicht nach nimmt er dadurch eine direktere politische Haltung ein. Der bei Encounters gezeigte Film hat ein stärker fiktionalisiertes Element als der Film im Forum. Wir können den Prozess als Reenactment oder „Mise en abyme“ bezeichnen, da sich die Hauptfiguren der von ihnen aufgeführten Fiktion bewusst sind. Und eigentlich ist es genau dieses fiktionale Element, das aus dem Inneren der Dramaturgie heraus motiviert ist und sie an ihre Grenzen treibt. Letztlich geht es doch darum, ein hohes Maß an Realismus zu schaffen – oder anders gesagt: die Zuschauer*innen in eine klaustrophobe Situation zu versetzen und sie gleichzeitig ständig daran zu erinnern, dass es sich um Fiktion handelt; so dass ganz zum Schluss die Enthüllung der wahren Geschichte vorhersehbar und schockierend zugleich ist.

Le mura di Bergamo

Eine andere Art von Trauma spukt wie ein filmischer Schatten durch das Programm, und zwar Covid-19. Le mura di Bergamo (The Walls of Bergamo) von Stefano Savona ist ein gleichermaßen persönlicher wie universeller Film über die Pandemie und einen Ort, der als einer der ersten am stärksten betroffen war. Haben wir inzwischen den nötigen Abstand, um einen solchen Film vollständig zu begreifen, oder sind wir noch zu nah dran?

Wir haben im Auswahlgremium darüber diskutiert, ob es der richtige Zeitpunkt ist, einen so starken Film über Covid-19 zu zeigen oder nicht. Die Antwort auf diese Frage fällt von Person zu Person unterschiedlich aus. Was aber letztendlich den Anstoß gab, diesen Film in unser Programm aufzunehmen, ist, dass Le mura di Bergamo nicht nur ein Dokumentarfilm ausschließlich über Covid ist. Während der erste Teil des Films äußerst eindringlich ist, schlägt er nach einer Weile eine andere Richtung ein und beschäftigt sich mit einer komplizierteren Fragestellung, sprich: Was tun wir, wenn der Notfall vorbei ist? Wie gehen wir mit unserer Angst und den Verlustgefühlen um? Wie unterstützen wir diejenigen, die durch die Hölle gegangen sind und die es geschafft haben, zu überleben? Das ist nicht nur eine große, tiefgründige Frage für die Menschen und unsere Gesellschaft, sondern auch aus filmischer und erzählerischer Sicht relevant. Savona entscheidet sich für eine Erzählweise, die kontinuierlich verschiedene Zeitebenen miteinander in einen Dialog bringt. Die Vergangenheit der Region – festgehalten durch Archivaufnahmen – dringt wie ein Echo auf die aktuelle Tragödie an die Oberfläche. Das Material liefert nicht nur eine zweite visuelle Ebene, sondern rückt auch die Gegenwart in ein anderes Licht. Wenn wir uns mit Bildern aus einer Zeit auseinandersetzen, in der der Tod als Teil eines natürlichen Verlaufs des Lebens akzeptiert wurde, ist dies eine großartige Erinnerung an unsere Grenzen.

Ha Seoungguk, Shin Seokho und Kim Seungyun in mul-an-e-seo

Mul-an-e-seo (in water) soll der persönlichste und einer der poetischsten von Hong Sangsoos bisherigen Filmen sein. Was könnt ihr über sein neuestes Werk sagen?

Jeder von Hong Sangsoos Filmen ist sehr persönlich, auch wenn sie sich nicht auf seine Biografie beziehen. In diesem Werk stellt seine Entscheidung, die meisten Aufnahmen unscharf zu filmen, die Zuschauer*innen in gewisser Hinsicht vor eine Frage. Aber anstatt den Schlüssel für eine mögliche Antwort zu liefern – es ist zu beachten, dass es vielleicht nicht nur eine Antwort gibt – versetzt diese Entscheidung Zuschauer*innen in einen anderen Zustand, dessen Erforschung sehr interessant ist. Es hat etwas mit dem Geisteszustand des Protagonisten zu tun, einem jungen Filmemacher, der nach einer passenden Vision für seinen Kurzfilm sucht. Es hat etwas mit der Idee zu tun, dass es nicht um die Vision selbst geht, sondern eher um den Prozess. Es hat etwas mit dem Gefühl zu tun, in ein impressionistisches Gemälde hineingezogen zu werden. Film für Film spielt Hong Sangsoo Melodien mit sehr wenigen Noten und eröffnet uns eine besondere Art von Poesie, die auf kleinen Dingen beruht; auf Dingen oder Situationen, denen wir normalerweise keine Aufmerksamkeit schenken. Diese Philosophie und Lebenseinstellung ist herzzerreißend.