Gringo – Story of a Junkie

Lech Kowalski und John Spacely während der Dreharbeiten zu Gringo

Als Gringo 1985 bei der Berlinale gezeigt wurde, war ich ungefähr 13 Jahre alt. Damals kannte ich weder den Film noch den Regisseur und hatte nicht den Hauch einer Vorstellung von seinem Schauplatz, der Lower East Side in New York. Als europäisches Vorstadtkind brachte ich New York mit Wolkenkratzern und Woody Allen in Verbindung. Das Einzige, was ich vom New Yorker Underground mitbekam, war Walter Hills Epos The Warriors (1979). Hätte ich damals die Gelegenheit gehabt, Gringo zu sehen – wer weiß, wie ich auf die Anfangsszene reagiert hätte, in der John Spacely mit der Spritze in seinem Arm herumstochert. Vermutlich hätte ich mich gegen den Film gesperrt – oder vielleicht auch nicht, verströmt er doch trotz seines schonungslosen Blicks auf die Realität eine gewisse Romantik. Das liegt an der Art und Weise, wie Regisseur Lech Kowalski die Lebensgeschichte des jungen, früh gealterten Junkies einführt bzw. einer filmischen Technik, die das Dokumentarische ins Fiktionale verschiebt und durch eine Lichtsetzung, die Detailaufnahmen betont. Obwohl Gringo das Resultat einer dreimonatigen Drehzeit ist, in der jede Einstellung sorgfältig geplant und jeder Dialog einstudiert wurde, vermittelt der Film ein überaus plastisches Lebensbild, das zeigt, wie damals in einigen Straßen und Häusern der Lower East Side gelebt wurde. Man spürt, wie unter den Rollen des Skateboards die Stadt vibriert, riecht das südamerikanische Essen, die Abluft, die aus den U-Bahnschächten steigt, den glühend heißen Löffel, mit dem das Heroin aufgekocht wird. Da damals Dokumentar- und Spielfilm zwei getrennte Welten waren, dürfte die Ungezwungenheit, mit der Kowalski die beiden Genres vermischte, für einige Irritation gesorgt haben. Als ich im November 2002 zum ersten Mal einen Kowalski-Film sah, frappierte mich am meisten, welche Freiheiten er sich nahm, wie er mit Interviews und alten Fotos arbeitete, die Akteur*innen frontal im Close-up in die Kamera sprechen ließ und mit Totalen von schmerzender Schönheit kombinierte. Ich war damals zum ersten Mal zum International Documentary Film Festival in Amsterdam gefahren, weil ich mich voller Ungeduld mit dem Terrain zwischen Fiktion und Dokumentation vertraut machen wollte, das sich damals wie ein Abgrund zu öffnen begann.

On Hitler’s Highway (2002), eine Reise in abgelegene polnische Gegenden auf der Suche nach den Resten postkommunistischer Menschlichkeit, beeindruckte mich durch seinen sachlichen Stil. Die Personen – ob jung oder alt – wurden so gefilmt, als gehörten sie zu einer sonntäglichen Ausflugsgesellschaft. Nach der Vorführung und dem üblichen Q&A stellte ich mich in die Warteschlange, um mit dem Regisseur mit den langen graumelierten Haaren, dessen Punk-Aura einen auffallenden Kontrast zu seiner freundlich lächelnden Erscheinung bildete, ein paar Worte zu wechseln. Mehr als meine unbeholfenen Sätze dürfte Lech Kowalski meinen Blick registriert haben, der wohl irgendetwas zwischen Enthusiasmus und Verlegenheit ausdrückte. Seither begegnete ich Lech (und seiner Partnerin und Produzentin Odile Allard) immer wieder – beim Festival in Alba, zu dem die beiden mit ihren Filmen eingeladen wurden, in Florenz beim Festival dei Popoli, an ihrem Wohnort in Paris, in Venedig, wo Lech seinen persönlichsten, ungeschminktesten und schmerzhaftesten Film East of Paradise (2005) präsentierte, der von der langen Flucht seiner Mutter am Ende des Zweiten Weltkriegs erzählt. Zwei Jahre später, im Sommer 2007, gelang es uns, einen Film dieses unabhängigen und einzelgängerischen Regisseurs auf Europas größter Leinwand auf der Piazza Grande in Locarno zu zeigen. Der Film Winners and Losers (2007) ist als Happening konzipiert und erzählt aus verschiedenen Perspektiven vom WM-Endspiel zwischen Frankreich und Italien. Der Film, der von mehreren Personen gedreht wurde, ist eigenwillig und witzig. Zwischen East of Paradise und Winners and Losers, zwischen der Intimität der privaten Erzählungen und der kollektiven Freude und Tragik eines Fußballspiels liegt die wahre Bedeutung dieses Regisseurs, der die Lederjacke seiner Jugendtage nie abgelegt hat und der sich immer auf die Probe stellen wollte, indem er die Wege nahm, die vor ihm niemand gegangen ist.

Die Dreharbeiten zu Gringo in New York

Von 2002 bis heute bin ich mit den Filmen von Lech Kowalski gewachsen und älter geworden – mit den Filmen, die er seitdem gedreht hat, und mit jenen, die vor unserer ersten Begegnung entstanden sind. Und während seine Filme in ihrer ausschweifenden Vielfalt und konsequenten Anarchie der Zeit die Stirn geboten haben, habe ich einen der Wege eingeschlagen, die das Leben mir geebnet hat. Ich habe diesen Weg in aller Ernsthaftigkeit und bewusst beschritten. Wenn ich jetzt, auf halber Strecke, die Filme von Lech Kowalski wiedersehe, fühlt sich das ein bisschen an wie eine Zwischenbilanz des eigenen Lebens. Gringo zum Beispiel bietet sich als unmögliches Alter Ego an. Ich bin vollkommen anders als John Spacely, den Lech im Krankenhausbett filmte, und dennoch bringt uns der Film ganz nahe zusammen. Wenn ich das letzte Standbild des Films sehe, das seinen erschrockenen Blick für immer eingefangen hat, spüre ich die Vergänglichkeit allen Lebens. Die Szene spielt in New York, aber sie könnte sich auch ebenso gut vor einigen Jahren in einem Vorort von Rom oder in einem Provinznest kurz vor dem Ende des Jahrtausends zugetragen haben. Gringo bezieht seine Kraft daraus, dass er dermaßen konstruiert ist, dass er schon wieder ins Naturhafte umschlägt. Er ist seiner Hauptfigur so perfekt auf den Leib geschneidert, dass er deren Biografie transzendiert. Wie alle großen Regisseur*innen versteht Lech Kowalski sich aufs Brückenbauen. Er baut persönliche Autobahnen, die zu Orten führen, für die niemand Werbung macht und wo niemand hinwill (das kriegsgeschüttelte Afghanistan, die tiefste US-Provinz, eine Schuhwerkstatt in Polen, die Lager des Zweiten Weltkriegs …). Er geht so unverfroren und gekonnt ans Werk, dass wir uns einen Augenblick lang zu diesen Orten hinträumen und die Freude teilen wollen, die für einen Moment in Gringos Augen aufleuchtet, wenn er wie der König von New York mit seinem Skateboard durch die Stadt rast.

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