Die Kleinfamilie als „Keimzelle“ der Gesellschaft spielt auch im Hinblick auf ihre krisenhafte Reproduktionsfähigkeit eine Rolle im Programm. Shelley von Ali Abbasi scheint als Genrestück den Horror der Kleinfamilie exemplarisch zu inszenieren und erinnert an die Gruselkinder der späten 1970er Jahre…
Rosemary's Baby und so weiter… Ja, aber das ist ein ganz modernes Paar, intellektuelle Mittelklasse, nette Leute, alles Bio. Es ist zwar ein Gruselfilm, spricht aber ganz viele Wirklichkeiten über Europa aus. Das Paar hat sich zurückgezogen aus der aktiven urbanen Welt, die Frau musste sich die Fortpflanzungsorgane entfernen lassen, das müssen sie verdauen, sie wollen sich besinnen. Die Leihmutterschaft mit der rumänischen Haushaltshilfe ergibt sich zufällig. Trotzdem zeigt der Film, dass das Bedürfnis nach Zukunft - symbolisiert im Motiv des Kindes - nicht unproblematisch ist.
Wir haben auch ganz andere Perspektiven auf das Thema: Inside the Chinese Closet von Sophia Luvarà zeigt Mann und Frau, sie lesbisch, er schwul, beide werden von der Familie dazu verdonnert, zu heiraten. Zum einen damit das Bild stimmt, denn ohne Hochzeitsbild können Eltern nicht überleben. Zum anderen weil die Kinder auch Kranken- und Rentenversicherung sind. Es ist vollkommen unmöglich, dieses Modell nicht zu erfüllen. Die Chinesen orientieren sich mittlerweile an Amerika, bauen christliche Kirchen nach, tragen weiße Hochzeitskleider – alles nur für dieses Hochzeitsbild. Eine Obsession mit dem westlichen Abbild, das es ja so noch nicht lange gibt. Im Grunde ist die Kleinfamilie eine Erfindung der frühen Industrialisierung. Die Figuren in Inside the Chinese Closet leiden unter dieser Vorstellung, versuchen mit tausend Tricks sie selbst zu bleiben und gleichzeitig die Eltern nicht zu enttäuschen.
Der Dokumentarfilm Europe, She Loves von Jan Gassmann führt das Thema fort, oder?
Ja, Gassmann hat seine Protagonisten aufgrund eines gemeinsamen Nenners zusammengestellt: Mama, Papa, kleine Wohnung. Diese Industrialisierungs-Versuchsanlage und die gesellschaftliche Fantasie, dass Mann und Frau ein kleines Nest brauchen. Und von Drogen bis Sex, von IKEA bis alternativen Ideen steht alles zur Verfügung. Die Figuren versuchen nur zu leben. Das sind alles vollkommen freundliche, affirmative Leute. Das ist sehr schön lakonisch gezeigt, ohne manipulativ zu sein, reduziert auf diese vier kleinen Nester, an vier weit auseinander liegenden Stellen des zusammengeflickten Kontinents zur gleichen Zeit.