Eine besondere Verantwortung haben wir vor allem bei Laiendarstellern. Bei den Protagonisten von In This World, bei denen von Feo Aladags Afghanistan-Film Zwischen Welten 2014 oder auch bei den jugendlichen Darstellern des Kindersoldaten-Films Rebelle 2012 – Rachel Mwanza gewann damals den Silbernen Bären für die Beste Darstellerin. Wir laden sie ein, wir passen als Gastgeber auf sie auf, aber wir können nicht alle Probleme lösen, wenn sie wieder nach Hause zurückfliegen, in den Krieg, ins Krisengebiet, in die Armut. Wir können lediglich nach Kräften behilflich sein, und auf ihre unwürdige Situation aufmerksam machen.
Auf Dauer kann die Flüchtlingsfrage nur über Diplomatie gelöst werden. Nur sie kann den Irrsinn stoppen, der Menschen dazu zwingt, ihre Heimat zu verlassen. Und wir müssen den Hunger bekämpfen, die Schere zwischen Arm und Reich, die auch in unserem Land immer größer wird. Auch sie setzt irreguläre Prozesse in Gang, ob in Ostdeutschland oder in Bangladesch. Filme können die Sensibilität für solche Prozesse nur befördern. Übrigens: Ich verstehe die reichen Leute nicht. Ihr sinnloses Profitstreben führt mit zu diesen Problemen: Hunger und Terror in Nigeria oder Umweltzerstörung unvorstellbaren Ausmaßes durch Ölsandausbeutung in der Arktis. Der Steuerzahler wird dann zur Kasse gebeten, Militär und Polizei sollen es richten, Milliarden Lebensmittelhilfen werden erforderlich und die Konzerne machen so noch mehr Gewinne.
Selbstverständlich wird sich die Berlinale 2016 auch dem Flüchtlingsthema widmen. Es ist quasi Bestandteil der Berlinale-DNA, Filmemachern und Künstlern für ihre Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragen eine Plattform zu bieten. Im Moment erkunden wir, welche Möglichkeiten es gibt, und wir nehmen Kontakte zu Flüchtlingsorganisationen auf. Außerdem denken wir über sinnvolle, integrative Formen nach. Einfach nur Eintrittskarten für Flüchtlinge, das kann es nicht sein. Welche Gesprächsforen sind möglich, wie können wir einen Zusammenhang schaffen, in dem sich die Flüchtlinge wiederfinden? Ein Beispiel, das mir gerade zu Ohren gekommen ist: Im brandenburgischen Dorf Golzow ist wegen der Flüchtlingskinder nicht nur die von Schließung bedrohte Schule gerettet, die das Berlinale-Publikum aus der Langzeitdokumentation Die Kinder von Golzow von Barbara und Winfried Junge kennt. Sie haben den Ankommenden dort auch alte, von DDR-Dokumentaristen gedrehte Super-8-Filme aus Syrien und dem Irak gezeigt. Die Flüchtlinge sahen ihre noch unzerstörte Heimat – ein für alle wohl hoch emotionales Erlebnis.
Anfang September traf ich am Rande des Filmfests in Venedig die Schriftstellerin Donna Leon, kurz nachdem die Kanzlerin ihren berühmten Satz „Wir schaffen das“ gesagt hatte. Donna Leon meinte: „Sie erleben gerade einen der besten Momente in Ihrer Geschichte.“ Deutschland nehme so viele Flüchtlinge auf und sehe das auch noch positiv, mit den Worten der wichtigsten Repräsentantin des Landes. Allen Kläffern und Zündlern, allen durchaus ernstzunehmenden Befürchtungen und Problemen zum Trotz erleben wir vielleicht tatsächlich einen historischen Moment. Ich bin Jahrgang 1948, seit ich denken kann, findet hier in unserem Land die Aufarbeitung des Dritten Reichs statt, glücklicherweise. Aber trotz allem politischen, wissenschaftlichen und medialen Einsatz mussten wir – Gott sei Dank – nie wirklich verstehen, was Verfolgung, Flucht und Krieg eigentlich bedeuten. Jetzt erleben wir eine ähnliche Völkerwanderung. Und zum ersten Mal können wir uns ganz konkret klarmachen, was es bedeutet, wenn Millionen von Menschen fliehen müssen, alles verlieren und nicht wissen, ob und wann sie wieder zurückkönnen. Die Gegenwart bietet uns die historische Chance, unsere eigene Geschichte zu begreifen – und von ihr zu lernen, dass alles getan werden muss, die Menschen würdig zu behandeln und ihnen eine neue Heimat zu geben.