Erst vor diesem Hintergrund eröffnet sich die ganze Kraft, die die Entscheidung der Internationalen Jury über den Gewinner des Goldenen Bären 2016 entfaltete: Ausgezeichnet wurde Fuocoammare, ein zum Dokumentarischen neigendes Werk des italienischen Regisseurs Gianfranco Rosi. Er erzählt von Lampedusa, jener kleinen Insel im Mittelmeer, auf der sich das ganze Elend der Flucht schon seit Jahren verdichtete, ein Ort, der gleichzeitig Geschichte, Gegenwart und Zukunft der neuen Weltordnung symbolisierte. Das personifizierte Gedächtnis dieser Verzweiflung, Pietro Bartolo, ein Arzt, der seit 1991 die Flüchtlingsströme verfolgt, tagtäglich die Toten, die vergewaltigten Frauen zählen muss, sorgte für eine der emotionalsten Pressekonferenzen des Festivals. Sehen, um davon zu erzählen: Was auf dem Spiel stand, war zuallererst die Sichtbarkeit dieser neuen Welt. In den Worten von Festivaldirektor Dieter Kosslick: „We are seeing the migration of 60 million to 70 million people around the world in front of our eyes. A worldwide catastrophe is happening and we can`t say, as the Germans said in 1945, we didn’t see it, we had no idea“ (Im Interview mit Leo Barraclough in Variety, 19.02.2016).
Die 66. Berlinale war in dieser Hinsicht ein Glücksgriff, hatten die Filmemacher doch schon monate- oder jahrelang vorher mit den Arbeiten an ihren Werken begonnen. Gerhard Middings Vorwurf, dass „die News-Themen des Weltverbesserungskinos den Ton“ (Der Freitag, 25.02.) im Wettbewerb angeben würden, lief so ins Leere. „Rosis brillante Bilder, die weder bei Nacht noch unter Wasser an Klarheit einbüßen, machen [...] deutlich, dass dieser Film nicht nur inhaltlich, sondern auch ästhetisch zwingend ist. Unvergesslich die Aufnahmen, in denen eine Gruppe von Geflüchteten im Gegenlicht zu Schemen wird, während ihre Körper in knisternde, goldglitzernde Rettungsfolie gehüllt sind“ (Hannah Pilarczyk, Spiegel Online, 13.02.2016).
Realitäten
Die Filmemacher befragten 2016 intensiv die eigenen Möglichkeiten und die Implikationen ihres Mediums. Während die Kritik auffallend oft das Wort „Realität“ bemühte, um den 66. Jahrgang zu charakterisieren („Die Realität gewinnt“, „Triumph der Realität“), wurde immer deutlicher, dass das Konzept einer monolithischen REALITÄT als solche nicht mehr zu gebrauchen war: Zu besichtigen unter anderem auch in Fuocoammare, in dem die Leben parallel, beinahe ohne Überschneidungspunkte verlaufen. Es gibt die Inselbewohner, es gibt die Geflüchteten – und wenig Gemeinsames.