Welche ästhetischen Neuerungen gingen von den Filmen aus, vor allem in Bezug auf den aufkommenden Tonfilm?
Die Erfindung des Tonfilms war in den USA und in Europa von Patentstreitigkeiten um konkurrierende Systeme geprägt. In der Sowjetunion hat man (auch notgedrungen) daraus die Konsequenz gezogen, einen eigenen Weg zu gehen und ein eigenes Tonsystem zu entwickeln, um von den internationalen Patenten unabhängig zu sein. Der erste Tonfilm Putjowka w schisn (Der Weg ins Leben) von Nikolai Ekk ist von der Lust am Experiment und an den neuen Möglichkeiten des Tons gekennzeichnet. Das trifft auf viele frühe Tonfilme zu, ob es nun in den USA King Vidors Our Daily Bread, die Tonfilmoperetten in Deutschland, Musicals oder die Filme von René Clair und Jean Renoir sind, die mit dem erweiterten Spielraum innovativ, manchmal ironisch umgehen. Der Ton beginnt, eine eigenständige Rolle zu spielen.
In den Spielfilmen wie Ekks Putjowka w schisn führt das zu einer Verselbständigung dieser Ausdrucksform: in bestimmten Szenen ist der Ton derart dominant für die Bedeutung dessen, was wir empfinden, dass man ihn als künstlerisches Mittel wahrnimmt, als Träger einer ästhetischen Bedeutung.
Wie war die Reaktion des zeitgenössischen Publikums? Kuhle Wampe wurde 1932 von der Filmprüfstelle verboten.
Kuhle Wampe, bekannt durch die Mitarbeit von Brecht und Eisler, und auch Mutter Krausens Fahrt ins Glück greifen die Themen auf, die in dieser Zeit offenkundig das Problem in Deutschland ausmachen: die Weltwirtschaftskrise, die Verarmung und die Perspektivlosigkeit angesichts der Massenarbeitslosigkeit. Sie versuchen, auf diese gesellschaftlich hochbrisante Situation mit den Mitteln des Films zu reagieren. Sie sind dadurch auch Agitationsfilme und verstehen sich als solche.
Anknüpfungspunkte der Retrospektive 2012
Der Begriff des Propagandafilms ist sehr negativ konnotiert. Besteht inzwischen heutzutage die Möglichkeit, sich durch die historische Distanz unbefangener den Filmen zu nähern? Ja, wäre es sogar vorstellbar, dass sie eine Aktualität und Relevanz haben? Welche Diskussion will die kommende Retrospektive anstoßen?
Den wesentlichen Impuls, den wir uns erhoffen, ist, dass wir es ermöglichen, Filme zu sehen, die jahrzehntelang kaum zu sehen waren und die auch in Russland in Vergessenheit geraten sind, nachdem Meschrabpom 1936 von der stalinistischen Diktatur liquidiert wurde. In der umfangreichen Begleitpublikation zur Retrospektive wird die Geschichte und Ästhetik der Filme intensiv (von russischen und deutschen Autoren) aufgearbeitet. Historische Dokumente, zahlreiche unveröffentlichte Fotos, zeitgenössische Filmplakate und eine vollständige Filmografie ergänzen diese Studien. Wir möchten so die Vielfalt der Produktion präsentieren, die sowohl aus der Perspektive eines Filmzuschauers, der einen Unterhaltungsfilm entdeckt, sichtbar ist als auch aus der Perspektive eines Cineasten, der plötzlich die Vielfalt von Genres bemerken kann. Beeindruckend ist die Art und Weise, wie mit den bescheidenen Mitteln eines Landes, das sich im Umbruch befindet und noch immer unter den Folgen des Bürgerkrieges leidet, in diesem Studio Meschrabpom versucht wurde, alle Möglichkeiten des Films auszuschöpfen und in ihrer ästhetischen Entwicklung voranzutreiben.