2010

60. Internationale Filmfestspiele Berlin

11. – 21. Februar 2010

Berlinale 2010: Geburtstags-Erinnerungen

Zahlen und Fakten 2010

„Überfluss ist diesem Festival angemessen, welches die Massen sowohl in kommerzielle Filme als auch in anspruchsvolle, experimentelle Arbeiten lockt, selbst im tiefsten, verschneiten und bitterkalten Winter. Während Sundance und Cannes hermetisch und gleichzeitig ekstatisch wirken - wie surreale Medien-Happenings in überfüllten Ferienorten - präsentiert sich die Berlinale in einer durch und durch von Kunst erfüllten Stadt, die Eklektizismus und Exzess mühelos miteinander vereint.“ – New York Times

2010 stand die 60. Ausgabe der Internationalen Filmfestspiele Berlin auf dem Programm - und die Berlinale zelebrierte ihr Jubiläum nicht zuletzt als „Verneigung vor einer Stadt und einem Publikum, die diesem Festival erst die Basis geben. Das ist das Besondere an der Berlinale: Sie lädt alle ein“ (Berliner Zeitung). Spektakulärer Höhepunkt der Feierlichkeiten war die Weltpremiere der fast vollständig rekonstruierten Originalversion des Filmklassikers Metropolis von Fritz Lang. Zeitgleich zur Wiederaufführung in der Frankfurter Alten Oper wurde die Galapremiere im Berliner Friedrichstadt-Palast, begleitet vom Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, mit zahlreichen prominenten Gästen aus Kunst und Politik begangen und zudem auf eine Leinwand am Brandenburger Tor übertragen. Die Künstlerin Christina Kim hatte im Vorfeld des Events einen einzigartigen Vorhang aus recycelten Film- und Berlinale-Billboards erschaffen, der feierlich den Blick auf die lange Jahre verschollen geglaubten Bilder freigab. Hunderte von Zuschauern ließen sich das Ereignis am Pariser Platz nicht entgehen – trotz der Kälte und des Eises, die das Bild der Berlinale 2010 ebenfalls prägen sollten.

Die Berlinale Keynotes in der Neuen Nationalgalerie

Happy Birthday, Berlinale!

Die Metropolis-Premiere blieb nicht die einzige Geburtstagsüberraschung. In der Neuen Nationalgalerie trafen sich Experten wie der Stararchitekt Norman Foster und der Berliner Experimentalfilmemacher Prof. Heinz Emigholz, um in den Berlinale Keynotes „Das Kino der Zukunft“ gemeinsam über die Entwicklung des Kinos, seiner Architektur und seiner (stadt-)soziologischen Funktion zu diskutieren.

Zu ihrer 60. Ausgabe vermehrte die Berlinale außerdem ihre Spielstätten: Unter dem Titel „Berlinale Goes Kiez“ bespielte das Festival an elf Tagen ausgewählte Berliner Programmkinos in den Nachbarschaften von Dahlem bis Weißensee. Dabei war nicht nur das Zuschauerinteresse enorm, sondern auch die Lust der Filmemacher, ihr Publikum vor Ort kennen zu lernen – so wurden die auf der Berlinale fest verwurzelten Publikumsgespräche nach der Vorführung auch in den Kiezkinos zu lebhaften Dialogen zwischen den Filmteams und ihren Zuschauern. Prominente deutsche Filmpersönlichkeiten wie der Produzent Claus Boje oder der Regisseur Christian Petzold hatten Kinopatenschaften übernommen und führten moderierend durch die Abende.

Neben umfassenden Informationen zu den Sonderveranstaltungen hielt ein eigens eingerichteter Jubiläumsbereich auf der Berlinale Webseite eine imposante Sammlung an Videos, Fotos und Texten bereit: Zahlreiche Starportraits, historische Bildergalerien und die „Berlinale Moments“ - bewegende und kuriose, informative und vergnügliche Fernsehausschnitte vergangener Zeiten - gewährten lebendige Einblicke in die jüngere und ältere Festivalgeschichte. In den „Berlinale Flashbacks“ erinnerte sich eine kaum zu überschauende Zahl nationaler und internationaler Stars – unter ihnen Tom Tykwer, Janusz Kaminski, Diane Kruger, Michael Ballhaus, Jeff Goldblum, Nick Hornby, Roland Emmerich, Carey Mulligan, Baz Luhrmann und Quentin Tarantino – an sehr persönliche Berlinale-Augenblicke oder überbrachte von überall auf der Welt ihre Glückwünsche in kurzen Videobotschaften.

Jurypräsident Werner Herzog, im Hintergrund Yu Nan

PLAY IT AGAIN ...!

„60 Jahre Berlinale mit 40 Filmen zu feiern scheint unmöglich. Die Retrospektive schafft es dennoch“ (die tageszeitung). Die Retrospektive wagte einen weiteren, externen Blick zurück auf die Festivalgeschichte und überließ die programmatische Zusammenstellung dem britische Filmkritiker David Thomson. Mit seiner Auswahl belegte er eindrücklich das Gespür der Berlinale für junge Talente und unkonventionelle neue Wege in der Filmgestaltung. So prägte und veränderte etwa Jean-Luc Godards Debütfilm À bout de souffle die Filmkunst nach 1960 wie kein anderer. Mit Filmen wie Lebenszeichen, dem ersten Film des diesjährigen Jurypräsidenten Werner Herzog, ergaben sich darüber hinaus auch immer wieder festivalgeschichtliche Bezüge und Zusammenhänge. Die filmische Reise durch die Jahrzehnte setzte sich so zu einem imposanten Selbstbild des Festivals voller Diskontinuitäten und Brüche, aber auch Verbundenheiten und langjähriger Beziehungen zusammen.

Mit der Schauspielerin Hanna Schygulla und dem Drehbuchautor und Regisseur Michael Kohlhaase war die Hommage in diesem Jahr zwei Persönlichkeiten gewidmet, denen eine herausragende Bedeutung in der deutschen Filmgeschichte, aber auch in der Festivalgeschichte der Berlinale zukommt.

Bären lieben Honig

Der Wettbewerb war auch 2010 reichhaltig und glamourös mit den neuesten Produktionen aus aller Welt geschmückt. Zahlreiche Regisseure, Schauspieler und Teammitglieder kamen nach Berlin, um ihre Werke zu präsentieren, und die Stars tummelten sich auf dem Roten Teppich. Altmeister Martin Scorsese besuchte die Berlinale, im Gepäck hatte er seinen neuen Film Shutter Island sowie dessen Hauptdarsteller Leonardo DiCaprio, Ben Kingsley, Mark Ruffalo und Emily Mortimer. Der Andrang der Schaulustigen zu den Wettbewerbspremieren riss nicht ab. Ewan McGregor und Pierce Brosnan stellten The Ghost Writer von Roman Polanski vor, der indische Bollywoodstar Shah Rukh Khan ließ die Herzen vieler Fans höher schlagen.

Julianne Moore kam zur Premiere von The Kids Are All Right nach Berlin

Trotz des Schneetreibens an manchem Abend schrieben die Stars unzählige Autogramme auf ihrem Weg in den Berlinale Palast. Keiner zeigte Scheu vor der unmittelbaren Begegnung mit dem enthusiastischen Berliner Publikum, das dieses Jahr mit fast 300.000 verkauften Tickets den Publikumsrekord aus dem Vorjahr noch übertreffen konnte.

Zum wiederholten Mal waren es die ruhigen, unaufdringlichen Filme, die das Publikum und die Jury überzeugten. Letztendlich eroberte ein kleiner Junge die Herzen der Jurymitglieder um Werner Herzog. Der junge Bora Altas, der in Semih Kaplanoglus Bal (Honey) die Hauptrolle spielte, machte den Unterschied und die türkisch-deutsche Koproduktion wurde mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet. Florin Serban erhielt für seinen Film Eu cand vreau sa fluier, fluier (If I Want To Whistle, I Whistle) sowohl den Großen Preis der Jury als auch den Alfred-Bauer-Preis. Roman Polanski, der zum Zeitpunkt der Preisvergabe im Schweizer Hausarrest saß, wurde mit einem Silbernen Bären für die Beste Regie ausgezeichnet. Der große Gewinner des Abends hieß Kak ya provel etim letom (How I Ended This Summer). Die russische Produktion unter der Regie von Alexei Popogrebsky wurde mit gleich drei Preisen bedacht: die Schauspieler Grigori Dobrygin und Sergei Puskepalis teilten sich den Preis für den Besten Darsteller ex aequo, der Kameramann Pavel Kostomarov erhielt einen Silbernen Bären für seine Herausragende Künstlerische Leistung in der Kategorie Kamera. Nach der großen Preisverleihung schloss das Festival mit dem Film Otouto (About Her Brother) des japanischen Regisseurs Yoji Yamada, dem von Festivaldirektor Dieter Kosslick an diesem Abend zudem eine Berlinale Kamera in Anerkennung seiner bemerkenswerten, langjährigen Karriere verliehen wurde.

Bora Altas bei der Pressekonferenz von Bal (Honey)

Mit ihren gekrönten und ungekrönten Perlen „zeigte sich die Berlinale mit diesem Wettbewerb einmal mehr als Schaufenster für das von Nachdenklichkeit und Innerlichkeit geprägte Weltkino“ (Spiegel Online), das vom Getöse der Blockbuster im normalen Kinobetrieb oft an den Rand gedrängt wird. Auch wenn manchen Kritikern dabei zu wenig radikal herausragende und provokante Werke im Wettbewerb vertreten waren und sie mitunter den “Abschied von wilden Bären“ (Frankfurter Rundschau) konstatierten.

Ein weiteres Jubiläum und ein Abschied

Die Sektionen Berlinale Special, Panorama, Forum, Generation, Berlinale Shorts, Perspektive Deutsches Kino und das Kulinarische Kino präsentierten die Themen- und Formenvielfalt der Berlinale in gewohnt eindrucksvoller Weise. Der Sektionsleiter des Panoramas Wieland Speck sah bereits im Vorfeld des Festivals „einen neuen, global zu betrachtenden Wagemut“ und das in den Festivaltagen zu sehende Programm bestätigte dies. Die Dokumentarfilme stahlen den Spielfilmen mitunter die Schau – so zumindest der Eindruck nach der Vergabe des PanoramaPublikumsPreises: die Berlinale-Besucher hatten gleich fünf dokumentarische Formate auf die vorderen Plätze gewählt. Lucy Walker setzte sich am Ende mit Waste Land durch und schaffte damit eine bisher einzigartige Leistung – hatte die Londonerin die begehrte Auszeichnung doch bereits 2007 mit ihrem Film Blindsight gewonnen.

Das Forum feierte mit seinem 40-jährigen Bestehen ebenfalls ein rundes Jubiläum. Dies wurde mit einem zwölf Filmblöcke umfassenden programmatischen Rückblick zelebriert, der die vergangenen Forumsjahre Revue passieren ließ – von Hou Hsiao Hsien bis Chantal Ackermann beeindruckte der Rückblick auf die von unterschiedlichen Filmemachern ausgewählten Meilensteine der Sektion. Zudem wurden mit Ulrich und Erika Gregor dieses Jahr zwei Mitbegründer und langjährige Kuratoren des Internationalen Forums des Jungen Films mit einer Berlinale Kamera ausgezeichnet. In den späten 1960er Jahren zunächst als Gegenveranstaltung zur Berlinale und Plattform für politische, private und formale Extreme und Experimente initiiert, setzte das Forum im 60. Berlinalejahr sein Anliegen konsequent fort. Das Forum Expanded bot einen zusätzlichen künstlerischen Reflexions- und Innovationsraum, in dem auf und jenseits der Leinwand neue Impulse gesetzt und diskutiert werden konnten.

Christoph Schlingensief zeigte und kommentierte den Film L'Inferno im Forum Expanded

Die Filme der Sektion Generation spielten in diesem Jahr verstärkt mit den Grenzen zwischen Film und Wirklichkeit und zogen ein begeistertes junges Publikum sowie zahlreiche Fachbesucher in die ausverkauften Vorstellungen. Mit Neukölln Unlimited gewann in Generation 14plus ein deutscher Film, der laut Jurybegründung „jeden einzelnen seiner Zuschauer auf eine magische Weise in seinen Bann zieht“. Die Dokumentation von Agostino Imondi und Dietmar Ratsch zeigt das präzise Porträt dreier libanesischer Geschwister im urbanen Berlin.

Die Berlinale Shorts fielen auf erfrischende Weise aus dem Rahmen konventioneller Filmsprache und positionierten sich in vielen Fällen „zwischen den Künsten“. So ging der Goldene Bär für den Besten Kurzfilm auch an Händelse Vid Bank (Zwischenfall vor einer Bank) von Ruben Östlund - Der schwedische Film zeigt seine Geschichte in einer einzigen Einstellung.

Alfred Holighaus und Linda Söffker

Das Jubiläumsjahr bedeutete für Alfred Holighaus das letzte Jahr als Leiter der Perspektive Deutsches Kino. Ab 2010 wird er sich in der Geschäftsführung der Deutschen Filmakademie neuen Herausforderungen stellen und seiner langjährigen Programmkoordinatorin Linda Söffker die Sektionsleitung überlassen. Holighaus’ Filmauswahl zur 60. Berlinale versammelte noch einmal einen starken, von seinem eigenwilligen Blick geprägten Überblick über das deutsche Filmschaffen in zahlreichen Formaten und Genres.

Optimismus am Markt - getrübte Freude beim World Cinema Fund

Die achte Ausgabe des Berlinale Talent Campus gab 350 jungen Filmschaffenden aus 95 Ländern die einmalige Gelegenheit, die Besten ihres Faches hautnah zu erleben. In über 100 Veranstaltungen trafen die Talente mit mehr als 150 geladenen internationalen Experten und Berlinale-Gästen - unter ihnen Claire Denis, Sir Ken Adam, der Kameramann Christian Berger und der Regisseur Stephen Frears – in Workshops, Podiumsdiskussionen und Trainingssessions zusammen, um sich unter dem Motto „Cinema needs Talent – Looking for the Right People“ über die Möglichkeiten kollaborativen Filmschaffens auszutauschen. Und der Campus gab genau jenen Raum, um Netzwerke zu bilden, neue Kontakte zu knüpfen und Projekte gemeinsam auf den Weg zu bringen.

Teilnehmer des Berlinale Talent Campus beim Außendreh im winterlichen Berlin

Die Freude des World Cinema Fund über seine überaus erfolgreiche Förderpolitik - erwähnt sei hier nur die diesjährige Oscar-Nominierung des Goldenen Bären-Gewinners 2009 La teta asustada - wurde während der Jubiläums-Berlinale leider getrübt: Dem als Ehrengast zu einer WCF-Podiumsdiskussion eingeladenen Regisseur Jafar Panahi wurde im Vorfeld des Festivals die Ausreise aus dem Iran verweigert, um später gar mit anderen iranischen Filmschaffenden inhaftiert zu werden. Nicht nur Festivaldirektor Dieter Kosslick reagierte mit großer Sorge und Bedauern auf die Verhaftungen.

Ungetrübter war die Bilanz des European Film Market 2010, der 6.450 Fachbesucher verzeichnen und endlich einen „frühlingshaften Aufschwung“ in Berlin vermelden konnte. Die Stimmung war optimistisch nach dem Krisenjahr 2009, in dem die Weltwirtschaftskrise auch deutliche Spuren im Bereich der Filmfinanzierung hinterlassen hatte.

Der an den European Film Market angegliederte Berlinale Co-Production Market konnte in seinem siebten Jahr nicht nur die Produzenten und Regisseure von 37 internationalen Filmprojekten mit 450 interessierten Koproduktions- und Finanzierungspartnern zusammenbringen, sondern leitete auf dem „Talent Project Market“ und bei „Breakfast at Books“ zahlreiche neue Geschäftsverbindungen in die Wege. Es bleibt spannend, ob die auf der 60. Berlinale geknüpften Kontakte die nächste Generation an Filmen hervorbringen, die das Berliner Publikum bei Schnee und Eis aus ihren warmen Wohnungen in die Kinos zu locken vermögen.

Die Berlinale 2010 in Zahlen

Besucher  
Kinobesuche 493.336
Verkaufte Eintrittskarten 299.478
   
Fachbesucher  
Akkreditierte Fachbesucher (ohne Presse) 15.586
Anzahl Herkunftsländer 128
   
Presse  
Pressevertreter 3.912
Herkunftsländer 82
   
Screenings  
Anzahl Filme im öffentlichen Programm 386
(davon 124 Kurzfilme)
Anzahl Vorführungen 921
   
European Film Market  
Fachbesucher 6.450
Anzahl Filme 666
Anzahl Screenings 1.014
Stände auf dem EFM
(Martin-Gropius-Bau & Business Offices)
130
Anzahl Aussteller 419
   
Berlinale Co-Production Market  
Teilnehmer 466
Anzahl Herkunftsländer 48
   
Berlinale Talent Campus  
Teilnehmer 347
Anzahl Herkunftsländer 93