2002

52. Internationale Filmfestspiele Berlin

06. – 17. Februar 2002

„Die Funktionen von Filmfestivals haben sich in den vergangenen Jahren erheblich verändert. Die Motive und die Absichten, die zur Gründung der Berlinale vor 52 Jahren führten, sind jedoch auch für die diesjährige Berlinale seltsam aktuell … Verständigung, Toleranz und Akzeptanz sind auch heute die wichtigsten Voraussetzungen für Frieden. Mit dem diesjährigen Filmprogramm will die Berlinale dazu beitragen.“ – Dieter Kosslick im Katalog-Vorwort zu seiner ersten Berlinale, die er „unter den politischen Eindrücken und weltpolitischen Veränderungen“ nach dem 11. September 2001 eröffnete.

Ehrengast Claudia Cardinale (8e 1/2) beim Photocall

Alles bleibt neu

Man konnte es der Presse nicht verdenken, dass sie den Wechsel in der Festival-Leitung zum Anlass nahm, ausgiebig über die „neue Berlinale“ zu spekulieren. Dabei hatte Dieter Kosslick im Vorfeld betont, dass er in seinem ersten Jahr auf Kontinuität setzen wolle und nicht gleich alles anders machen würde, als sein Vorgänger Moritz de Hadeln.

In seinem Grußwort im Festivalkatalog berief sich Kosslick dann auch ausdrücklich auf die Geschichte des Festivals und die Arbeit seiner Vorgänger. Dass sich das Festival stets verändert hatte und auch unter der neuen Leitung weiter verändern würde, musste nicht eigens betont werden. Zudem ist ein jeder Festivaljahrgang auch ein Spiegel seiner Zeit. Auch ohne den 11. September 2001, dessen politische und kulturelle Folgen die Diskussionen beherrschten, wäre die Berlinale 2002 ein politisches Festival geworden, ein Festival für Toleranz und Diversität, wie es das Motto wollte: „Accept Diversity“. Das sollte für den Film ebenso gelten, wie für das globale Miteinander der Kulturen. Und mit seiner offenen und gewinnenden Art schien der neue Berlinale-Chef mit gutem Beispiel voran zu gehen.

Renate Zylla und Dieter Kosslick auf dem Empfang des Kinderfilmfestes

Engere Zusammenarbeit der Sektionen

Themen dieses Berlinale-Jahrgangs waren – neben Dieter Kosslicks guter Laune – die auffallende Vielfalt im Programm und die gute Zusammenarbeit zwischen den Sektionen in der Vorbereitung. Christoph Terhechte hatte im Vorjahr Ulrich Gregor als Forum-Leiter beerbt, Alfred Holighaus war von Dieter Kosslick zum Leiter der neuen Sektion Perspektive Deutsches Kino berufen worden. Die engere Zusammenarbeit aller Sektionen bei der Filmauswahl zielte darauf ab, die interne Vielfalt konstruktiver zu nutzen und dabei dem Festival als Ganzem ein noch überzeugenderes Profil zu geben.

Nicht nur in Panorama und Forum, wo vor allem Dokumentarfilme auf starkes Interesse stießen, sondern auch im Wettbewerb war zwischen Marc Forsters Drama Monster’s Ball, Hayao Miyazakis animiertem Märchen Spirited Away und Andreas Dresens Schauspielerfilm Halbe Treppe das Spektrum auffallend breit. Vereinzelte Stimmen mahnten angesichts von soviel Vielfalt, auch ein großes Festival müsse es nicht allen Recht machen. Aber am Ende lobte das Gros der Kommentatoren doch gerade das Geschick, mit dem es Dieter Kosslick verstand, bei seiner ersten Berlinale deutliche Akzente zu setzen und dabei fast alle glücklich zu machen.

Andreas Dresen

Chefsache „Deutscher Film“

Zu den Gewinnern zählte zweifellos auch die deutsche Filmbranche: Sie war so stark vertreten wie nie zuvor, mit der Perspektive Deutsches Kino war dem jungen deutschen Film (wieder) eine eigene Sektion gewidmet und auch im Wettbewerb waren gleich vier deutsche Regisseure der jüngeren Generation vertreten. Die scheinbare Harmonie konnte allerdings nicht die Interessenkonflikte in der Branche verdecken, die in der Diskussion um ein neues Filmförderungsgesetz aktuell auf dem Tisch lagen. Es drückte in diesem Jahr der Schuh des Manitu: während Bully Herbigs Westernklamauk kräftig aus den Fördertöpfen gespeist wurde, waren drei der vier deutschen Beiträge im Wettbewerb gänzlich ohne Förderung realisiert worden.

Anke Westphal schloss daraus in der „Berliner Zeitung“, dass sich „das kreative Potenzial des deutschen Films nicht nur seine eigenen Bild- sondern auch seine eigenen Arbeitswelten verschafft.“ Der gute Berlinale-Auftritt des deutschen Films geriet so in vielen Kommentaren eher zum Appell als zu einem Beleg für eine effektive Filmförderung. Mit einem Festivaldirektor Dieter Kosslick, der aus der Filmförderung kam, verbanden sich in dieser Hinsicht einige Hoffnungen.

Wieder mal: Kunst vs. Kommerz?

In der Debatte ging es um den vermeintlichen Gegensatz von Kunst und Kommerz und damit um eine Konfliktlinie, die auch in der Geschichte der Berlinale immer wieder aufgebrochen war. Neben vielen anderen stand die Frage im Raum, ob die deutsche (und europäische) Filmbranche noch stärker der „Freiheit“ des Marktes überlassen werden sollte, oder ob staatliche Subventionierung und Wertentscheidungen nicht nur notwendig, sondern auch wünschenswert seien. Die Berlinale selbst war im Vorjahr zu einer „Kulturveranstaltung des Bundes“ geworden: Aufgrund der prekären Finanzlage des Landes Berlin hatte die Bundesregierung die Verantwortung für die Berliner Festspiele GmbH und damit auch für die Berlinale übernommen. Das bedeutete größere Planungssicherheit für das Festival und galt als weiterer Beleg für die gesteigerte Bedeutung, die dem Film in der Kulturpolitik zukommen sollte.

Aber es gelang der Berlinale 2002 nicht nur, den deutschen Film wieder interessant zu machen. Auf einem „Vision Day“ präsentierte Dieter Kosslick sein Vorhaben, mit einem Talent Campus dem internationalen Filmnachwuchs eine Plattform auf der Berlinale zu schaffen. Auf den Panels des Symposiums „Framing Reality“ diskutierten internationale Gäste über stilistische Entwicklungen im zeitgenössischen Film und die Retrospektive „European 60’s“ war eine der meist beachteten in der Berlinale-Geschichte und gab Anlass zu moderierten Diskussionsrunden und Debatten, die sich dann in den zeitgenössischen Feuilletons und in Buchpublikationen fortsetzten.