Geschichte in Echtzeit
Am 9. November 1989 schrieb Moritz de Hadeln an den Vorsitzenden der Hauptverwaltung Film der DDR, Horst Pehnert, einen Brief, der so begann: „Bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin 1989 hatte ich Ihnen in einem persönlichen Gespräch (…) den Vorschlag gemacht, das offizielle Programm der Filmfestspiele in Berlin (Ost) ganz aktuell, ja fast zeitgleich, zu wiederholen. Ihre Reaktion darauf hinterließ bei mir den Eindruck, daß sie von der Idee sehr angetan waren, mir aber antworteten, daß wir beide diesen Moment mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr erleben werden.“
Noch einen Tag vorher hätte es für de Hadeln wenig Grund gegeben, das Anliegen noch einmal aufzugreifen. Nun aber war alles anders: Berlin, Deutschland, die ganze Welt und mittendrin die Berlinale standen vor einer völlig neuen Situation. In der Nacht zum 9. November war die Mauer zwischen West- und Ost-Berlin brüchig geworden. Was von Günther Schabowski „ab sofort“ als visafreier Reiseverkehr deklariert worden war, bedeutete nichts anderes als den Fall der Mauer und mit ihm das Ende der DDR.
Soweit voraus sehen konnte Moritz de Hadeln die Ereignisse am 9. November 1989 freilich nicht. Sein erneuerter und konkretisierter Vorschlag an Pehnert umfasste je eine Vorführung des „vollständigen offiziellen Programms“ der Berlinale, die Übernahme der Kosten dieses Projekts sowie die organisatorischen Absprachen mit den Produzenten und Rechteinhabern der betreffenden Filme durch die Filmfestspiele. Von Seiten der DDR erbat der Berlinale-Chef dafür Sorge zu tragen, dass ein geeignetes Großkino zur Verfügung stünde. Darüber hinaus müsse sichergestellt werden, dass den Mitarbeitern der Berlinale und den „mit den Filmen verbundenen Personen“ auf unkomplizierte Weise die Teilnahme an den Veranstaltungen ermöglicht werde. Das zielte auf die Grenzübertrittsbestimmungen.
Die Gunst der Stunde: Die erste Berlinale für ganz Berlin
Entscheidende Gespräche zwischen de Hadeln und Pehnert fanden dann bereits Ende November im Rahmen der Leipziger Dokumentarfilmwoche statt. Von Seiten der Berlinale ging man danach von einer positiven Entscheidung der verantwortlichen Stellen der DDR aus und bereitet sich nun darauf vor, das Ereignis auch finanzieren zu können. Moritz de Hadelns Vorstoß stieß überall auf Gegenliebe. Man war sich der enormen politischen Signalwirkung bewusst, die eine Berlinale entfalten würde, die in beiden Teilen der geteilten Stadt stattfände. Dennoch waren zahlreiche Briefe und Telefonate nötig, um ein entsprechend erhöhtes Budget zu bewilligt zu erhalten.
Noch mehr Kleinarbeit bedeutete jedoch die Ausarbeitung von Sonderkonditionen, die es ermöglichen würden, Menschen und Material möglichst unkompliziert über die Grenze und an den ja noch immer geltenden Auflagen und Restriktionen vorbei zu manövrieren. Es wurde vereinbart, dass die Filme, das Werbematerial und die Druckerzeugnisse zollfrei über die Grenze transportiert werden könnten, und dass für die Berlinale-Gäste am Grenzübergang Invalidenstraße die „Diplomatenspur“ freigehalten würde.
Auch die Leiter der anderen Sektionen der Berlinale wurden frühzeitig involviert und so konnte schließlich neben dem kompletten Wettbewerb und einer Auswahl des Panorama-Programms auch das vollständige Programm des Kinderfilmfestes und ein großer Teil des Forum-Programms in Ost-Berlin nachgespielt werden. Als Kinos wurden der Berlinale das Kosmos, das Colosseum und das Kino International zur Verfügung gestellt, und zwar kostenlos. Als Gegenleistung verblieben die Einnahmen aus den Kartenverkäufen bei der Ost-Berliner Bezirksfilmdirektion, die dafür dann auch noch die Festival-Werbung im Ostteil der Stadt übernahm.
Historisch bedeutsam, filmisch eher durchschnittlich
Im Vorwort zum Festivalkatalog zeigt sich Moritz de Hadeln „gespannt auf die Reaktionen des Publikums der DDR, die (das Publikum oder die Reaktionen, die .... korrigieren können) unser Kinoverständnis komplettieren und korrigieren kann.“ Niemand könne sich mehr „als Insulaner“ verstehen, schreibt er, alles sei in Bewegung, alles erscheine revisionsbedürftig. „Das Festival leistet Pionierarbeit, schlägt eine mögliche Richtung vor.“
Die Pionierarbeit sahen viele dann auf das symbolische Faktum begrenzt, das Festival in beiden Teilen der wieder vereinten Stadt auszurichten. Was die Filme anging, so schien es, als hätten die geschichtlichen Ereignisse das Festival überrumpelt. Was für sich genommen Brisanz hatte, erschien nun harmlos, was immerhin gutes Unterhaltungshandwerk war, galt nun als abgeschmackt. Eine der historisch bedeutsamsten Berlinale-Jahrgänge wurde somit filmisch als eher durchschnittlich erlebt.