Das Eis ist gebrochen
Das Jahr 1974 markiert einen Meilenstein in der Berlinale-Geschichte: zum ersten Mal läuft ein sowjetischer Film im offiziellen Programm des Festivals. S toboj i bes tebja – Mit dir und ohne dich: Der Titel von Rodion Nachapetows Debütfilm las sich wie ein rückblickender Kommentar auf das jahrzehntelange Tauziehen, das diesem Ereignis voran gegangen war. „Die Geschichte der Abstinenz der sozialistischen Staaten von der Berlinale“, so schreibt Wolfgang Jacobsen in „50 Jahre Berlinale“, „ist ein Lehrstück über Politik und Kultur, ein umfangreiches Kapitel Ost-West-Verkrampfung, eine Tragikomödie aus dem Kalten Krieg, ein Spiel mit verteilten Rollen und wechselnden Protagonisten.“
Szenen einer Scheidung
Der Beirat für die Internationalen Filmfestspiele Berlin hatte bereits bei der Gründung des Festivals beschlossen, keine Filme aus „Ostblockstaaten“ einzuladen. An dieser Haltung änderte sich bis Ende der sechziger Jahre offiziell wenig. Inoffiziell gab es dagegen sehr wohl Bemühungen der Annäherung. Mal richteten sich diese an die DEFA, die staatliche Filmgesellschaft der DDR, mal wurde der Kontakt zu „Sovexport“ gesucht, die für die Repräsentanz sowjetischer Filme im Ausland zuständig war.
Aber auch auf der anderen Seite tat man sich schwer, offizielles Interesse an einer Veranstaltung zu bekunden, die vor allem den „imperialistischen Ambitionen der USA“ diente. Die wechselnden Rollen, von denen Jacobsen spricht, besetzten mal der Berliner Senat, mal die Außenministerien, mal das Festival selbst oder einzelne Akteure mit guten Verbindungen – auf der anderen Seite das Politbüro, der Botschafter oder die sowjetischen Filmfunktionäre. In manchen Jahren kam man einer Teilnahme von osteuropäischen Filmen an der Berlinale so nah, dass sie nur noch eine Formsache schien, im Folgejahr aber konnte sich dann alles schon wieder anders darstellen. Die diplomatischen Befindlichkeiten wechselten beständig und waren für das Festival wenig berechenbar.
Nur vereinzelt tauchte einmal ein osteuropäischer Film in der Filmmesse auf oder meldete sich eine tschechische oder russische Beobachterdelegation für die Berlinale an. Im Kalten Krieg waren die Frühlingsgefühle zu kurz, die Ansätze zu Verständigung und Toleranz blieben zierliche Pflänzchen. Das bedeutendste - und von beiden Seiten immer wieder bemühte - Hindernis für eine Teilnahme der sozialistischen Staaten an der Berlinale war der „besondere diplomatische Status Berlins“ - aufgeladen mit einer Symbolik, der mit Vernunft und politischem Pragmatismus lange Zeit nicht beizukommen war. Denn zum „diplomatischen Status“ gehörten ja neben den realpolitischen Härten auch allerlei Kuriositäten: auf DDR-Landkarten existierte West-Berlin nicht und auch in der offiziellen Sprachregelung der BRD gab es die DDR lange Zeit gar nicht.
Freiheit und Notwendigkeit?
Die Entscheidung über die Teilnahme der sozialistischen Staaten an der Berlinale wurde nicht nach künstlerischen, sondern nach (welt)politischen Kriterien gefällt. Alfred Bauers Arbeit glich in dieser Sache eher der eines Diplomaten, als der eines künstlerischen Leiters, und die Interessen des Festivals waren ja selten identisch mit denen der Politik. Spätestens mit der Teilnahme osteuropäischer Filme am Festival in Cannes und der Zuerkennung des A-Status an das Festival in Karlovy Vary wurde die Sonderstellung der Berlinale zum Manko. In den sozialistischen Staaten wurde große Filmkunst geschaffen, aber in der Stadt, die für eine Brückenfunktion prädestiniert gewesen wäre, durften diese nicht gezeigt werden.