Der Morgen danach
Auch für die Berlinale war das Jahr 1969 gezeichnet von der revolutionären Euphorie des Vorjahres und dem Einsetzen einer gewissen Katerstimmung, die wohl niemanden wirklich überraschte. Was heute als Teil des Selbstfindungsprozesses einer sich verändernden Gesellschaft gilt, wurde im Sommer 1969 als innere Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit innerhalb der linken Gesellschaftskritik erlebt. Das Bemühen zur Abgrenzung und Differenzierung schien stärker zu sein, als die beschworene Einheit.
Der Episodenfilm Amore e Rabbia | Liebe und Zorn montiert fünf Beiträge von Carlo Lizzani, Bernardo Bertolucci, Pier Paolo Passolini, Jean-Luc Godard und Marco Bellochio zu einem fiktiven Diskurs zwischen protestierenden Studenten, Dozenten und Polizei und löst damit zumindest formal ein Versprechen auf Vielstimmigkeit ein. Andere Filme wurden dagegen als idiosynkratische Äußerungen gesehen. Die thematische Klammer „gesellschaftlicher Wandel“ oder „Generationenkonflikt“ war weit gespannt und ließ viele Assoziationen zu. Filme wie Rani Radovi von Zelimir Zilnik, Godards Le Gai Savoir | Die fröhliche Wissenschaft, Peter Zadeks Ich bin ein Elefant, Madame, Fassbinders Liebe ist kälter als der Tod, Luis Buñuels La voie lactée | Die Milchstraße oder Greetings von Brian de Palma waren starke eigenständige Beiträge, die man jedoch nur gewaltsam der gleichen "Sache" zuordnen konnte. Vielmehr, und das wurde auch von der zeitgenössischen Kritik gesehen, standen sie für eine Regionalisierung der angestoßenen Debatten.