1994

44. Internationale Filmfestspiele Berlin

10. – 21. Februar 1994

„Unter uns Europäern: Ist es nicht höchste Zeit, daß wir uns fragen, warum das Publikum unseren Filmen die kalte Schulter zeigt? … Sind unsere Filme womöglich zu geschwätzig, zu hochtrabend? Haben wir uns möglicherweise auf unserer Werteskala verlaufen? … Ja ich weiß - schon solche Fragen zu stellen, heißt ein Verbrechen zu begehen. ... [Aber] es gibt nichts Schlimmeres, als aus Bequemlichkeit zu schweigen.“– Moritz de Hadeln geht in die Offensive gegen die Dauerkritik, die Berlinale stünde unter der Knute Hollywoods.

Hommage 1994: Sophia Loren

Gestärktes Selbstbewusstsein des europäischen Films

Bestimmendes Thema der Branche waren im Vorjahr die GATT-Verhandlungen, die den internationalen Handel mit Kulturgütern auf eine neue Basis stellen sollten. Was den Film betraf, ging es dabei für viele Beobachter um eine schicksalhafte Entscheidung über die Integrität des europäischen Kinos gegenüber der ökonomischen Übermacht Hollywoods. Der amerikanische Unterhändler Jack Valenti hatte sich nicht in allen Punkten durchsetzen können, und so war die Stimmung auf dieser Berlinale von einem gestärkten Selbstbewusstsein des europäischen Films geprägt, das freilich auch seine protektionistischen Stilblüten trieb. Am Rande des Festivals fand eine Tagung statt, bei der sich europäische Filmschaffende und Medienpolitiker auf einen 15-Punkte-Katalog zur „Rettung“ des europäischen Films einigten.

Besonderes Interesse galt daher den europäischen Filmen im Festivalprogramm und die konnten sich in diesem Jahr wirklich sehen lassen. Ken Loachs Ladybird, Ladybird, Krzystof Kieslowskis Trzy kolory: Biały | Drei Farben: Weiß, Alain Resnais’ Doppelpack Smoking - No Smoking und Jim Sheridans Goldbären-Gewinner In the Name of the Father waren echte Festivalfilme, großes, leidenschaftliches Erzählkino. Auch in den anderen Sektionen bot das europäische Kino reichlich Gesprächsstoff. Eric Rohmers L’Arbre, le Mairie et la Médiatheque | Der Baum, der Bürgermeister und die Mediathek, Jacquette Rivettes Jeanne La Pucelle und der raue irische Beitrag High Boot Benny von Joe Comerford waren herausragende Arbeiten im Forum.

„Dass zwei so unterschiedliche Regisseure wie Sheridan und Comerford letztlich die gleiche radikale Schlussfolgerung anbieten und ihre Helden in den Kampf schicken, ist bezeichnend für die Stimmung unter den Intellektuellen des Landes“, schrieb der ehemalige Berlinale-Chef Wolf Donner in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ über In the Name of the Father und High Boot Benny. Vielfach ergaben sich solche thematischen Querverbindungen zwischen den Sektionen. Selten zuvor hatte die Berlinale einen bei aller Vielfalt derart konsequenten Eindruck hinterlassen.

Erika Bók in Béla Tarrs Sátántangó

100% Berlinale: Vielfalt, Qualität, Entdeckungen und ein Fenster nach Osten

Forum und Panorama schafften es sogar, mit einer „Länderschau Mongolei“ (Forum) und einer Reihe „Blick nach Osten“ (Panorama) das Fenster nach Osteuropa offen zu halten, ohne sich dabei gegenseitig auf die Füße zu treten. Kira Muratovas surreal leichte Komödie Uvletschenja | Kleine Landschaften und Nikita Michalkovs Langzeitbeobachtung Anna: 6 – 18 im Panorama, Vitalij Kanjewskis Nous, Les enfants du vingtième siècle | Wir Kinder des 20. Jahrhunderts und Béla Tarrs mächtiges monolithisches Opus Sátántangó im Forum, dazu Aleksandr Sokurovs Tichie Stranicy | Verborgene Seiten und Semjon Aranowitschs God Sobaki | Das Jahr des Hundes im Wettbewerb: Was hier begonnen wurde, wurde dort aufgegriffen, so schien es. Themen kehrten wieder, Bilder wiederholten sich, der Traum des einen Films konnte das Erwachen eines anderen sein. Verteilt über das Festival beeindruckte und erschütterte das osteuropäische Kino mit Klasse und Radikalität.

Nach dem bereits überzeugenden Vorjahr, war die Berlinale 1994 ein echter Erfolgsjahrgang. In den Augen der meisten Beobachter hatte er alles, was ein gutes Festival braucht: Eine Vielzahl herausragender Filme, thematische Schwerpunkte, regionale Profile. Die Stars kamen – neben den Regisseuren und Stars des Wettbewerbs unter anderen Samuel Fuller, Bernardo Bertrolucci, Liv Ullmann, Isabella Rossellini und allen voran und allgegenwärtig: Sophia Loren, die für ihr Lebenswerk mit einem Goldenen Ehrenbären ausgezeichnet wurde – und es gab einige handfeste Überraschungen: Im Wettbewerb etwa Pas trés Catholique | Leicht verdächtig des Franzosen Tonie Marshall, vor allem aber die kubanische Komödie Fresa y Chocolate | Erdbeer und Schokolade, die beiläufig und beschwingt von Ängsten und Tabus im Kuba der Gegenwart erzählt und den Spezialpreis der Jury erthielt. Die Entdeckung des Panoramas war hingegen Linda Fiorentino, die Hauptdarstellerin in John Dahls Neo-Noir-Thriller The Last Seduction.

Erste Bärenlese im Kinderfilmfest

Im Kinderfilmfest sorgte ein australischer Film für die gefeierte Überraschung: In Matilda Bell erzählt David Elfick die Geschichte eines Mädchens, dessen Familie gezwungen ist, das raue Paradies des australischen Heartlands gegen die Öde der Großstadt zu tauschen. Der Film begeisterte Publikum, Presse und Branche gleichermaßen. Elficks Film wurde der erste Preisträger des „Gläsernen Bären“, des neu geschaffenen offiziellen Preises, den die Kinderjury fortan vergeben würde. Damit wurde nicht nur die Arbeit der jungen Juroren, sondern auch das Kinderfilmfest selbst aufgewertet.

Das Forum bot auch auf dieser Berlinale wieder das Privileg, Filme sehen zu dürfen, die auf kommerzielle Kompromisse verzichten: drei, vier, zehnstündige Arbeiten, die ihren Geschichten den Raum geben, den sie einfordern, und dem Zuschauer das Vergnügen, den Bildern bei der Arbeit zuzusehen. Neben Béla Tarrs Sátántángo waren das in diesem Jahr auch zwei deutsche Dokumentationen: Barbara und Winfried Junges Das Lebens des Jürgen von Golzow und Volker Koepps Die Wismut. Gerade hier, im Umgang mit der ostdeutschen Realität, war durch Übereile und Ignoranz schon viel zu viel kaputt gemacht worden.

Die Finanzdecke wird fadenscheinig

Der Erfolg dieser Berlinale war umso erstaunlicher, als im Vorfeld empfindliche Etatkürzungen zu verkraften gewesen waren. Nachdem die Berlinale bereits in den Vorjahren unter den allgegenwärtigen Budgetkürzungen im Kulturbereich zu leiden hatte, brachte eine neuerliche Streichung von 500.000 D-Mark das Festival nun in ernsthafte Bedrängnis. Mit einem festen Mitarbeiterstamm von nur acht Personen war die Berlinale infrastrukturell ohnehin ein „Zwerg“ unter den Festivals. Auch machte die Tatsache zu schaffen, dass es für die Berlinale noch immer kein eigenes Festivalzentrum gab, man also weiterhin „zur Untermiete“ lebte, was bei der Größe des Festivals zunehmend riskant und kostspielig wurde.

Die verglichen mit anderen Filmfestivals dürftige Ausstattung der Berlinale war ein Dauerproblem und stand konträr zu ihrer wachsenden internationalen Bedeutung. Die Filmmesse hatte sich unter der Leitung von Beki Probst zu einem der wichtigsten Handelsplätze der europäischen Filmbranche entwickelt und die Berlinale galt einer Umfrage unter Produzenten zufolge als das wichtigste Festival nach Cannes und vor Venedig.

Es ging um die öffentliche Wertschätzung von Kultur und darum, dass den wohlklingenden Reden zu selten Taten, das heißt Geld, folgten. Der Bund und Berlin schoben sich gegenseitig die Verantwortung zu. Es zeigten sich aber auch infrastrukturelle Zwänge, die mit dem Ende politischer Selbstverständlichkeiten zu tun hatten. Noch unterentwickelt war der Einnahmenbereich „Sponsoring“, der in den Folgejahren von wachsender Bedeutung sein würde. Und auch den Traum von einem Umzug an den Potsdamer Platz wird Moritz de Hadeln in dieser „Zeit zwischen den Stühlen“ vielleicht zum ersten Mal geträumt haben, zum Beispiel als er Sophia Loren die rote Infobox zeigte, in der damals der Baufortschritt im „neuen Berlin“ dokumentiert wurde.