2024 | Wettbewerb | Berlinale Special
Das Ungewöhnliche fokussieren
In beeindruckender formaler Vielfalt bieten Wettbewerb und Berlinale Special 2024 auch thematisch breit gefächerte Programme. Im Interview sprechen der Künstlerische Leiter Carlo Chatrian und der Leiter des Programms Mark Peranson über die Bedeutung von Emotionen in der Auswahl, die starke Präsenz von Mutter- und Kinderfiguren und das Spiel mit Genreelementen in beiden Sektionen.
Das diesjährige Wettbewerbsprogramm scheint eine emotionale Achterbahnfahrt zu sein: Die Filme sind lustig, schockierend, zart, gruselig… Inwiefern haben Emotionen bei der Auswahl eine Rolle gespielt?
CC: Gefühle spielen im Auswahlprozess eine zentrale Rolle. Wenn wir die Filme sehen, versuchen wir zu verstehen, was sie dem Publikum vermitteln wollen, auch im Hinblick auf eine bestimmte Weltsicht. Daher ist diese Bandbreite an Emotionen im Programm nicht überraschend. Keyke mahboobe man (My Favourite Cake) von Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha fällt mir dazu als erstes Beispiel ein. Es ist sehr bewegend, einer alten Frau in Iran dabei zuzusehen, wie sie die Dinge tut, die die Menschen höchstwahrscheinlich in der Vergangenheit getan haben und die heute in der Öffentlichkeit verboten sind.
MP: Es gibt auch Filme wie Sterben von Matthias Glasner, ein sehr emotionaler Film, der das ganze familiäre Spektrum, von persönlichen Beziehungen zwischen Männern und Frauen oder Müttern und Kindern, durchläuft. Ich denke auch, dass wir viele emotionale Filme ausgewählt haben. Und natürlich kommt es immer zu emotionalen Reaktionen, wenn wir im Gremium über die Filme sprechen. Alle hegen den Filmen gegenüber eine große Leidenschaft und vielleicht zeigt sich genau diese Leidenschaft im diesjährigen Wettbewerb.
Die Filme stürzen sich nicht vordergründig auf die drängenden Konflikte unserer Zeit, dennoch handeln viele von Verlust und Trauer. Bilden sie eine Art emotionale Echokammer für die Eskalationen der Gegenwart?
CC: Es gibt in der Tat etliche Filme, die sich mit Leid, Trauer oder dem Verlust eines geliebten Menschen beschäftigen – und auf einen andere Weise auch mit dem Verschwinden. Dahomey handelt dem Anschein nach nicht vom Tod. Für mich tut er das schon. Er ist vom Tod durchzogen. Im Film geht es um Statuen, die von französischen Kolonialtruppen im 19. Jahrhundert geraubt wurden und nun an Benin zurückgegeben werden. Man könnte vielleicht meinen, eine Statue würde niemals sterben. Aber die Art und Weise, wie Mati Diop das Voice-over der Statue einsetzt, erweckt den Eindruck, dass diese Stimme aus dem Jenseits kommt. Sie existiert nicht in der gleichen Zeit und im gleichen Raum wie wir. Für mich ist das eindrucksvoller als die eigentliche Darstellung des Todes. Wie etwa auch in der Komödie Hors du temps (Suspended Time) von Olivier Assayas. Da gibt es diese Vorstellung: Wenn ich einmal nicht mehr bin, wird das Haus dir gehören. Hier fängt das Kino etwas ein, das nicht unmittelbar reflektiert wird, aber in der Luft liegt. Und ich denke, es ist nicht das Sterben an sich, sondern die Tatsache, am Ende zu sein oder sich dem Ende einer bestimmten Ära zu nähern, die Filmemacher*innen sehr stark wahrnehmen.
MP: Zudem gibt viele Filme, die sich mit Gefangenschaft auseinandersetzen. Eine offensichtliche Form des Eingesperrtseins ist das Gefängnis in Vogter (Sons) von Gustav Möller. In Hors du temps sind Menschen während der Corona-Pandemie in einem Raum eingesperrt. In Dahomey waren die Statuen, die, da sie im Film ja eine Stimme haben, auch Menschen sind, jahrzehntelang an einem bestimmten Ort eingesperrt. Keyke mahboobe man handelt im Grunde von Menschen, die täglich in beengten Verhältnissen leben. Sie können sich nur in ihren privaten Räumen ausdrücken. La Cocina von Alonso Ruizpalacios spielt größtenteils in einer Küche. Alle stecken irgendwie fest und kommen nicht mehr raus; viele der Figuren sind Einwander*innen ohne legalen Aufenthaltsstatus. Sie befinden sich also auch in einer Art Bedrängnis und können nicht in Freiheit existieren. Das Nilpferd Pepe in Nelson Carlos De Los Santos Arias' gleichnamigem Film wurde entführt und dazu gezwungen, in Pablo Escobars Zoo zu leben. Vielleicht lassen sich dabei einige Parallelen zu aktuellen Geschehnissen ziehen. Aber treffen die Filmemacher*innen eindeutige politische Aussagen? Einige schon, andere eher nicht. Der iranische Film tut das offensichtlich, während andere einfach den Zeitgeist einfangen. Aber ich bin mir sicher, dass die meisten von ihnen sich dessen bewusst sind, was sie da tun.
Mütter und Kinder
Mit Blick auf die zahlreichen Mutterfiguren im Programm ist es interessant, dass Ihr dieses Gefühl in den Filmen ansprecht, sich auf das Ende einer bestimmten Ära zuzubewegen. Einige der Charaktere sind werdende Mütter, andere sind es bereits, andere entschließen sich zu einer Abtreibung. Man könnte diese Fragen rund um Mutterschaft oder Kinder als Metapher für mögliche Formen der Zukunft sehen…
CC: Es gibt in der Tat viele starke Mutterfiguren in den Filmen. Die Protagonistin von Min Bahadur Bhams Shambhala ist ein gutes Beispiel für eine Mutter, die bereit ist zu kämpfen. Und die Tatsache, dass sie ein Kind erwartet, ist wohl das zentrale Thema des Films. Auch in Keyke mahboobe man ist die Hauptfigur eine Mutter. Ihre Tochter ist weit von ihr entfernt, aber sie ist durch den Raum, den sie im Leben der Mutter einnimmt, immer noch eng mit ihr verbunden. In Gloria! von Margherita Vicario hatte die Protagonistin ein Kind, das ihr weggenommen wurde, und der tunesische Film Mé el Aïn (Who Do I Belong To) von Meryam Joobeur handelt ebenfalls von einer Mutter mit drei Söhnen, von denen nur einer aus dem Krieg zurückkehrt. Ich verstehe, was mit der Frage gemeint ist, und sie hat durchaus ihre Berechtigung, aber ganz so weit würde ich nicht gehen. Können Kinder eine Metapher für die Zukunft sein? Es stimmt, dass die Kinderfiguren in den meisten Filmen in Gefahr sind. Aber auf diesen Aspekt würde ich mich nicht konzentrieren, da das die Auswahl in eine sehr spezifische Richtung drängen würde. Und wir haben das Thema nicht bewusst gesetzt, weil wir jeden Film für sich allein beurteilen. Im Auswahlprozess ist es nicht möglich, diese Art von Verbindungen herzustellen. Es ist sicherlich eine der möglichen Sichtweisen, die die Auswahl erlaubt. Frauenfiguren, und insbesondere die der Mütter, ziehen sich durch das Programm.
Die Verbindung zwischen Agnes in Des Teufels Bad von Veronika Franz und Severin Fiala und der Protagonistin in Andreas Dresens In Liebe, Eure Hilde ist faszinierend. Agnes geht an ihrem unerfüllten Kinderwunsch zugrunde, während Hilde aus der Mutterschaft die Kraft schöpft, um ihr Schicksal zu ertragen.
MP: Beide Figuren befinden sich in tragischen Situationen, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie vergleichbar sind. Denn in Des Teufels Bad leidet eine Frau an einer psychischen Krankheit. Und in In Liebe, Eure Hilde gibt es einen anderen Auslöser für die Probleme der Hauptfigur. Die Ursache liegt nicht in ihrem eigenen inneren Ungleichgewicht, sondern geht äußerlich von der Gesellschaft aus, die für diese Situation mitverantwortlich ist.
Gibt es ähnlich starke männliche Rollen in der diesjährigen Auswahl?
CC: Letztes Jahr sind einige Kritiker*innen und Rezensionen zu dem Schluss gekommen, dass wir viele Filme gezeigt haben, die sich mit toxischer Männlichkeit auseinandersetzen. In diesem Jahr haben wir nur sehr wenige männliche Figuren. Das einzige Beispiel für eine starke männliche Figur ist der junge Gefangene in Vogter. Doch am Ende wird selbst er zu einem fragilen Menschen. Cillian Murphy als Bill Furlong in Small Things Like These von Tim Mielants wird erst im Laufe des Films zu einer starken Persönlichkeit, denn er weiß, welche Probleme seine Entscheidung nach sich ziehen wird. Erst ganz am Ende erkennt er, dass er etwas unternehmen muss. Wenn wir über männliche Stärke sprechen, fällt mir L’Empire (The Empire) von Bruno Dumont ein. In einer Art Parodie werden hier die dunklen männlichen Mächte von Kirche und Staat bloßgestellt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass einige Leute damit Probleme haben werden. Aber für mich ist Satire als Stilmittel vielleicht die beste Methode, um Dinge offenzulegen. Wobei dieses Stilmittel heute immer seltener verwendet wird.
Und da wäre noch dieses Baby in L’ Empire...
CC: Nun, dieses Baby ist das große Geheimnis des Films. Aber was L’Empire betrifft: Letztes Jahr hatten wir die Möglichkeit, viele Genrefilme zu berücksichtigen, also Filme, die normalerweise nicht im Wettbewerb laufen. In diesem Jahr haben wir versucht, den gleichen Fokus auf das Ungewöhnliche zu legen. Die Auswahl muss kompakt sein, und gleichzeitig lockern wir sie mit Filmen auf, die mit anderen Tonalitäten spielen, wie beispielsweise L’Empire; mit Filmen, die leichter sind und manchmal ein wenig provokant. Wenn wir eine Auswahl treffen und dabei einem allgemeinen Trend im Independent-Kino folgen, laufen wir oft Gefahr, nur Filme mit ähnlichem Duktus zu zeigen, auch wenn sich die Geschichten unterscheiden. Es ist wichtig, auch Filme wie Des Teufels Bad im Programm zu haben, eine sehr düstere, politische Geschichte, deren Stil in Richtung Genre tendiert. Wir haben auch einige Filme, die mit Humor spielen und einen eher komödiantischen Charakter haben: In Gloria! wird die Figur des Priesters beispielsweise von einem italienischen Stand-up-Comedian gespielt.
MP: Die schwarze Komödie A Different Man von Aaron Schimberg ist auch voller Humor, vor allem im Schlussakt. Es ist schwierig, Humor mit ernsteren Themen zu verbinden. Aber ich denke, viele der ausgewählten Filme machen das ziemlich gut. Selbst Sterben gelingt es, in den Szenen zwischen Ronald Zehrfeld und Lilith Stangenberg eine Balance zu finden. Ein bisschen Humor muss da schon sein, sonst wird es ein echt deprimierender dreistündiger Film. Ich persönlich finde Yeohaengjaui pilyo (A Traveler’s Needs) von Hong Sangsoo urkomisch. Also dieser Kulturclash zwischen Isabelle Huppert, die nach Korea kommt und so tut, als sei sie Französischlehrerin… Und Pepe ist auch ziemlich lustig. Dieser Film hat einfach alles – in Pepe ist für jede*n etwas dabei.
Die Wahrnehmung verändern
Pepe und L’Empire spielen beide stark mit der Macht des Kinos, die Wahrnehmung der Welt zu hinterfragen und zu verändern. Auch Victor Kossakovskys Architecton besitzt diese Kraft. In der Anfangssequenz sieht man zerstörte Gebäude in der Ukraine und obwohl diese Zerstörung jeden Abend in den Nachrichten zu sehen ist, vermittelt einem die Inszenierung das Gefühl, diese Verwüstung wirklich zum ersten Mal zu sehen.
CC: Das freut mich zu hören. Kossakovsky hat tatsächlich genau das bereits bei der visuellen Konzeption des Films als eine seiner Prioritäten festgelegt. Auch bezüglich des Sounds. Das Gleiche gilt für Pepe, aber auch für Mé el Aïn. Der Film ist sehr visuell. Die ersten 20 Minuten sind unglaublich schön, aber man hat bereits das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Architecton ist ein sehr anspruchsvolles Projekt, denn die Herausforderung der letzten Filme von Victor Kosakovsky besteht darin, universelle Themen zu behandeln. Andererseits ist das Kino aber auch sehr praxisorientiert. Es muss an bestimmten Orten gedreht werden, und in Architecton, vielleicht noch mehr als in Aquarela von 2018, treibt er die Herausforderung wirklich auf die Spitze. Wenn er einstürzende Felsen filmt, so ist dies eine schier endlose Sequenz. So als würde die Welt in ihrer Gesamtheit zusammenbrechen. Man weiß nicht mehr, wo oben und unten ist; der Film erschafft einen immersiven Blickwinkel.
MP: Bei Pepe erwartet man diese Art von Geschichte zunächst gar nicht. Das ist die Ausgangssituation. Im Film bewegen wir uns vom afrikanischen Kontinent nach Südamerika, Perspektiven und Sprachen verändern sich. Und auch der Stil. Die Szenen werden von oben etabliert und dann wird es ganz konkret. Ich bin mir sicher, dass die Idee hinter dem Film war, keinen Film zu machen, der normalerweise im Kino gezeigt würde. Auch Dahomey stellt unsere Vorstellungen in Frage. Es ist ein Dokumentarfilm, aber es gibt auch fiktionale Elemente. Da sind zum einen diese streng dokumentarischen Szenen, in denen Menschen beobachtet werden, die über ihre Vergangenheit und Gegenwart sprechen. Und dann gibt es diese Erzählung durch die Statuen. Auch visuell ist die Vielfalt der Farben eine bewusste Art, die Inszenierung zu nutzen, um die Lebendigkeit des Lebens zu zeigen; eine Tatsache, der viele Filmemacher*innen nicht besonders viel Aufmerksamkeit schenken. Dass Mati Diop dies mit dokumentarischen Mitteln schafft, ist ziemlich außergewöhnlich.
Koloniale Geschichte(n) im Berlinale Special
Dahomey beschäftigt sich mit der Frage des Kolonialismus. Wie nähert sich der Film Das leere Grab von Agnes Lisa Wegner und Cece Mlay, der im Rahmen von Berlinale Special gezeigt wird, diesem Thema?
CC: Wir haben mehrere Filme im Berlinale Special, die sich mit Kolonialismus auseinandersetzen, aber Das leere Grab tut dies am unmittelbarsten. Er richtet sich an die Allgemeinheit, aber auf einer tieferen Ebene spricht er in Deutschland und in Berlin lebende Zuschauer*innen ganz besonders an. Die Geschichte beginnt mit einer großartigen Sequenz in Tansania, sodass man die Bedeutung der menschlichen Überreste für die tansanische Kultur begreifen. Eine sehr menschliche und nicht politisch-abstrakte Einführung in das Thema. Der Rest der Geschichte zeigt die Suche nach diesen Überresten, deren Bergung wichtig ist, um trauern zu können. Das ist recht universell. In Pepe trägt die Sprache eine Spur von Kolonialismus in sich. In diesem Kontext fällt mir auch Sasquatch Sunset ein. In der Filmwelt ist Englisch die Hauptsprache. Die Idee amerikanischer Filmemacher, komplett auf das gesprochene Wort zu verzichten und die Figuren nur in vorsprachlicher Form kommunizieren zu lassen, stellt also die Kultur, in der sie leben, in Frage. David & Nathan Zellner tun dies auf sehr lustige Weise.
MP: Wie absurd es doch ist, dass in Sasquatch Sunset berühmte Schauspieler*innen mitspielen, die wir im Grunde gar nicht erkennen. Ganz spezifisch berührt auch exergue – on documenta 14 von Dimitris Athiridis diese Themen. Es geht um die Hintergründe der documenta 14, die während der Wirtschaftskrise in Griechenland sowohl in Kassel als auch in Athen stattfand. Die Krise wurde im Wesentlichen von Deutschland und der Europäischen Union verursacht. Der Grund für die Entscheidung, die Ausstellung auch in Athen zu zeigen, war die Auseinandersetzung mit dieser kolonialen wirtschaftlichen Beziehung.
Die Kunst der Komik und des Genres
Hako Otoko (The Box Man) von Gakuryu Ishii scheint auf den ersten Blick „nur“ eine absurde Komödie zu sein. Oder werden hier soziale Fragen mit anderen Mitteln angegangen?
MP: Der Karton ist nicht nur etwas Voyeuristisches. Er ist ein Versuch, sich der Gesellschaft zu entziehen. Das ist sehr typisch für die japanische Kultur. Auch wenn der Protagonist sich am Ende nicht mehr in diesem Karton befindet, versucht er sich im Haus einzuschließen und sich physisch vom Rest der Welt abzuschotten. Das ist der gesellschaftspolitische Standpunkt des Films.
CC: Im Berlinale Special gibt es einige Filme, die mit gängigen Filmklischees und Trends spielen. In Hako Otoko geht es um das fetischistische Verlangen, andere heimlich zu beobachten. In Love Lies Bleeding von Rose Glass geht es um Muskeln und Macht. Sasquatch Sunset ist ein weiteres gutes Beispiel. Im zweiten Teil von Hako Otoko, wenn der Film eindeutig zur Parodie wird, erzählt er sehr eindrücklich von der Welt des 21. Jahrhunderts.
Es gibt ein paar Genrefilme und eine Menge Action und Horror im Berlinale Special. Setzt Ihr mit dem Programm einen Kontrapunkt zu den manchmal weniger zugänglichen Filmen des Wettbewerbs, die in manchen Fällen auch mit Genreelementen spielen?
CC: Ja, es gibt Wettbewerbsfilme, die mit Horrorelementen spielen, wie Des Teufels Bad oder Mé el Aïn. Andere spielen mit Elementen der Komödie oder der Parodie. Die Filme im Berlinale Special sind genauso stark wie alle anderen auch, aber sie sind auch großzügiger und publikumsnäher. Und tatsächlich spielen in diesem Jahr alle diese Filme mit Genres und Publikumserwartungen. Am Anfang des Films Cuckoo von Tilman Singer glaubt man in einem Horrorfilm zu sein; aber dann wird die Sache doch etwas komplizierter. Und das Gleiche trifft auf viele andere Filme zu. Der klassischste oder offensichtlichste Genrefilm ist wahrscheinlich Beom-Joe-do-si 4 (The Roundup: Punishment).
MP: Ja, das wollte ich auch gerade sagen. Es ist der vierte Film einer Reihe, die sehr erfolgreich war. Wenn man eine Serie fortsetzt, wird man nicht allzu viel verändern. Aber trotzdem denke ich, dass er dem Publikum einiges bietet, was sich von einem traditionellen Hollywood-Actionfilm unterscheidet. Es gibt größtenteils keine Waffen oder CGI, sondern nur eine Menge Fäuste und Kämpfe. Es ist der Debütfilm von Heo Myeong-haeng, einem Action-Choreographen. Die Actionszenen gehen unter die Haut, sind aber auch humoristisch. Wir dachten, es wäre gut, einige „Midnight Movies“ mit größerer Anziehungskraft statt „nur“ Autor*innenfilme im Programm zu haben. Und so liegt bei einigen Filmen der Schwerpunkt nicht zwangsläufig auf den Filmschaffenden selbst. Das ist etwas, das es im offiziellen Programm bis zur letzten Ausgabe nicht wirklich gab. Und offenbar funktioniert es. Wir können einen Film um 22:30 Uhr in einem vollen Kino zeigen. Die Leute kommen, weil sie diese Art Filme sehen wollen.
Serien und Stars
Im letzten Jahr gab es die letzte Ausgabe der Berlinale Series. 2024 sind nun zwei Serien im Berlinale Special. Welche Qualitäten von Dostoevskij (Dostoevsky) und Supersex haben Euch davon überzeugt, diese Serien zu zeigen?
CC: Es gab keine vorgegebenen Kriterien. Nach dem Ende von Berlinale Series wollten wir das serielle Erzählen im Rahmen des Festivals beibehalten, weil es die Perspektive erweitert. Wir haben uns für Supersex über das Leben des italienischen Pornostars Rocco Siffredi entschieden, weil wir dachten, dass das Spiel mit Erotik eine Nuance ins Programm bringt, die es so nicht gibt, zumindest nicht im Wettbewerb oder im Berlinale Special. Wir haben die Serien bewertet, soweit sie verfügbar waren. Am Ende haben wir weniger ausgewählt, als wir ursprünglich wollten, aber das liegt an der Stärke der anderen Titel.
So beeindruckend wie im letzten Jahr ist auch 2024 das Staraufgebot, das Ihr nach Berlin bringt. Wie schmerzhaft ist es, keinen zweiten roten Teppich zu haben, wie ihn das Festival früher am Friedrichstadt-Palast hatte?
CC: Ich denke, es ist für das Publikum viel besser, nur einen großen roten Teppich zu haben, weil die Fans am Berlinale Palast bleiben können und sie die Stars, deren Filme woanders laufen, über den roten Teppich am Potsdamer Platz laufen sehen. Ich denke, dass die Entscheidung des letzten Jahres, einige Berlinale Special Galas in der Verti Music Hall zu veranstalten, gut und zur allgemeinen Zufriedenheit war. Wir haben einen tollen neuen Kinosaal, in dem 2000 Zuschauer*innen Platz finden. In diesem Jahr ist das Special etwas breiter gestreut. Neben Vorführungen im Kino International finden auch Screenings im Zoo Palast statt. Wir freuen uns, dass so viele Stars kommen: Nicht nur aus den USA, wie Rooney Mara, Amanda Seyfried, Kristen Stewart, Adam Sandler und so weiter. Mit dabei ist auch Don Lee, der in Asien ein großer Star ist. Vielleicht kennen nicht alle seinen Namen, aber wenn man sein Gesicht sieht, sagt man sich: Ach, das ist der Typ! Und ich denke, es ist wichtig für Berlin, keine engen Grenzen zu setzen. Masatoshi Nagase und Tadanobu Asano, die Hauptdarsteller aus dem Film Hako Otoko, sind in Japan Stars.
MP: Zu erwähnen wäre natürlich auch Isabelle Huppert, einer der größten französischen Stars. Sie spielt dieses Jahr in zwei Filmen mit: Yeohaengjaui pilyo im Wettbewerb und Les gens d'à côté (My New Friends) von André Téchiné im Panorama. Letztes Mal war sie auf der Leinwand im Berlinale Palast zu sehen. Eigentlich sollte sie persönlich kommen, um ihren Goldenen Ehrenbären entgegenzunehmen, aber sie konnte nicht, weil sie Corona hatte.