2024 | Panorama

Brücken ins Mögliche

Gewohnt nah am Puls der Zeit präsentiert sich das Panorama 2024. Im Interview spricht Sektionsleiter Michael Stütz darüber, wie die Filme es immer wieder schaffen, über die Verwerfungen der Gegenwart Brücken in eine mögliche Zukunft zu bauen, besondere Lebensläufe und die immense Formenvielfalt im Programm.

Mzia Arabuli in Crossing von Levan Akin

In der Pressemitteilung fasst ihr das Programm unter dem Titel „Brücken zwischen erlebter Realität und filmischen Möglichkeitsraum“ zusammen. Was genau meint Ihr damit?

MS: Für mich schaffen es viele Filme im Programm, diese Brücken zu bauen, indem sie die Zwischenräume von erlebter Realität und filmischen Möglichkeitsräumen ausloten. Gerade mit Blick auf die politischen Sackgassen, in die wir uns momentan permanent verrennen, sowohl als Gesellschaft als auch als Individuen. Dazu entwickeln die Filme einen Gegenentwurf als Angebot an die Zuschauer*innen, egal ob sie fiktional, dokumentarisch, ästhetisiert oder ungeschönt von ihren Sujets erzählen. Basierend auf einer Realität, die durchaus einen traumatischen Kontext haben kann, vor dem wir uns vielleicht abwenden wollen, dem wir uns aber am Ende stellen müssen, entwerfen sie Alternativen. Möglichkeiten, wie wir als Gesellschaft und als Individuen Geschichten weitererzählen können, um einen Heilungsprozess einzuleiten oder einfach nur den nächsten Schritt machen zu können. Um nicht in Resignation zu enden und die Zukunft überhaupt positiv denken zu können.

Kannst du ein konkretes Beispiel nennen?

Unser Eröffnungsfilm Crossing von Levan Akin exerziert das in allen Facetten durch. Hinter dem Film steckt ein sehr starkes Konzept, er will nicht realistisch wirken. Gleichzeitig zeigt er dem Publikum bewusst auf, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, queere Geschichten zu erzählen. Das ist der eine Weg - und das könnte vielleicht die Realität sein. Aber es gibt auch noch andere Möglichkeiten, die Crossing nicht nur suggeriert, sondern tatsächlich zeigt. Und dann kann der Zuschauende entscheiden, welchen Weg er wählt, in welche Richtung er denken will. Indem Levan Akin diese alternate realities aufmacht, schafft er ein Moment der Selbstbestimmung, das gesellschaftlicher Repression entgegenwirkt. Er stellt eine Behauptung auf, die nicht unbedingt der Realität entsprechen muss, aber die wir uns aneignen können.

Gëzim Kelmendi in Afterwar von Birgitte Stærmose

Bilder des Krieges

Einer der wichtigsten Filme in Bezug auf die aktuelle weltpolitische Lage, die geprägt ist von Kriegen, scheint Afterwar zu sein, der sich mit den Traumata beschäftigt, die ein fast schon vergessener Krieg, der im Kosovo, hinterlassen hat. Wie erzählt der Film von den Verheerungen der Gewalt?

Die Inszenierung ist stark ästhetisiert, nicht nur auf der visuellen, sondern vor allem auch auf Soundebene. Afterwar ist ein Hybridfilm, den ich zuerst auf einer Auswahlreise in Kopenhagen gesehen habe. Danach sind wir mit der Produktion in einen Dialog gegangen, um herauszufinden, wie das Material, das über 15 Jahre hinweg gedreht wurde und diese sehr besondere Form der Inszenierung entstanden sind. Die Mitwirkenden, die sich gewünscht haben Schauspieler*innen und nicht Protagonist*innen genannt zu werden, waren sehr stark eingebunden in die Arbeitsprozesse. In das Schreiben des Drehbuchs, den Entwurf der szenischen Ideen. Sie wollten keine klassische Interviewform. In den Credits werden sie zurecht als Ko-Creators geführt. Es war uns wichtig, diesen kollektiven Entstehungsprozess auf Augenhöhe zu kennen.

War die Arbeit am Film für die Schauspieler*innen auch eine Art Heilungsprozess?

Es gab wohl immer wieder diesen intensiven Austausch und das Bedürfnis, diese inszenierten Szenen auf die Leinwand zu bringen, um dadurch eine gewisse Selbstbestimmtheit und Distanz zur eigenen Vergangenheit zu gewinnen ohne den Wahrheitsgehalt aufzugeben. Afterwar macht sehr deutlich, dass es im Krieg keine Gewinner*innen gibt. Der Kosovo-Krieg ist 25 Jahre her, ein Wimpernschlag, wenn man die zugefügten Traumata sieht.

Basel Adra und Yuval Abraham in No Other Land von Basel Adra, Hamdan Ballal, Yuval Abraham und Rachel Szor

Der Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und der Krieg, der seitdem in der Region tobt, haben eine aufgeheizte, komplett polarisierte Stimmung voller Anfeindungen auf beiden Seiten, auch in Deutschland, erzeugt. Mit No Other Land von Basel Adra, Hamdan Ballal, Yuval Abrahamund und Rachel Szor zeigt ihr einen Film aus der Region, der sich dezidiert mit der israelischen Siedlungspolitik auseinandersetzt. Wie habt ihr den Mut gefunden, den Film ins Programm zu nehmen?

Ich hätte den Film in jedem anderen Jahr gezeigt, das war für mich der ausschlaggebende Grund. Es wäre falsch gewesen, den Film nicht einzuladen aufgrund der aktuellen politischen Spannungen. Zudem haben Filme aus Palästina und Israel eine Tradition im Panorama.

Der Film wird getragen von der Freundschaft zwischen einem palästinensischen Aktivisten und einem israelischen Journalisten. Hättet ihr den Film auch gezeigt, wenn er nicht aus diesem palästinensisch-israelischen Kollektiv heraus entstanden wäre?

Der Vermittlungsprozess über diese Freundschaft ist ein eminent wichtiger Aspekt des Films. Aber genauso von Bedeutung ist die politische Allianz der beiden in ihrem Kampf, ihrem friedlichen Aktivismus. Sie erheben ihre Stimme kritisch gegen die israelische Siedlungspolitik und das Displacement der Communities. Die nicht zu leugnenden Ungleichheiten zwischen Basel und Yuval werden dabei immer mitreflektiert. Diese Brüche sind so bedeutsam, weil sie die Frage aufwerfen, wie man überhaupt auf die Idee kommen kann, sich die grundlegenden menschlichen Rechte nicht zuzugestehen. Da bietet der Film viel Diskussionsstoff, aber auch das Potenzial, einen friedlichen und zukunftsorientierten Diskurs zu führen. Als Panorama sehen wir uns in der Rolle, diese Plattform anzubieten. So wie wir es auch in der Vergangenheit getan haben. Deshalb ist es wichtig, No Other Land in diesem Jahr zu zeigen. Wir freuen uns, dass alle vier Regisseur*innen nach Berlin kommen werden.

A Bit of a Stranger von Svitlana Lishchynska

Ein anderes Verhältnis voller Gewalt zwischen zwei Staaten beleuchtet A Bit of a Stranger...

Der Film ist eine sehr intime Reflexion und Aufarbeitung eines jetzt noch jungen und wachsenden Traumas, verursacht durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Er erzählt über drei Generationen von Frauen einer Familie hinweg. Die Regisseurin Svitlana Lishchynska repräsentiert die mittlere Generation, sie ist Ende der 1960er geboren, ihre Mutter Ende der 1940er und ihre Tochter Anfang der 1990er. Überraschend dabei ist, dass es für die ältere Generation, die der Mutter, am einfachsten war, sich von der russischen Identität, die sie sehr lange geprägt hat und die Folge des russischen Imperialismus und der Kolonialisierung der Ukraine war, zu lösen. Je jünger die Generation, desto schwieriger wurde dieser Prozess. Denn die Russifizierung wurde auf Sprach- und auf kultureller Ebene über Jahrzehnte weitergegeben. Und so braucht die Tochter der Regisseurin am längsten, um ein kritisches Bewusstsein zu entwickeln. Erst als der Angriffskrieg beginnt, setzt langsam ein Perspektivwandel bei ihr ein. Als sie die Ukraine in Richtung London verlässt, kann sie dem Trauma dann nicht mehr entkommen. Auch in einem sicheren Land sind Geist und Körper noch mit dem Krieg beschäftigt. Krieg wird ja oft in sehr männlicher Perspektive erzählt. Deswegen finde ich es umso wichtiger, in diesem Jahr eine dezidiert weibliche und generationenübergreifende Sicht zeigen zu können.

Jürgen Baldiga in Baldiga – Entsichertes Herz von Markus Stein

Lebensläufe

Einen tiefen Einblick in die queere Subkultur Westberlins der 1980er Jahre bietet Baldiga – Entsichertes Herz von Markus Stein. Wie war es für Dich, diesen Blick zurück zu erleben?

Ich habe ich mich sehr auf diesen Film gefreut, Jürgen Baldiga war auch kein ganz Unbekannter für mich. Sein Erbe und sein Leben waren für mich nicht so richtig durchdrungen. Es gibt eine Fülle an Fotografien und Tagebucheinträgen im Nachlass, die noch nicht aufgearbeitet worden waren. Aber genau das macht jetzt Markus Stein auf eindrucksvolle Art und Weise. Er erzählt von einer Zeit, die ich selbst nicht erlebt habe, die aber immer eine große Faszination auf meine Generation ausgeübt hat. Baldiga ist ein großartiger Trip zurück in die Vergangenheit mit sehr vielen bekannten Protagonist*innen, die in Westberlin Geschichte geschrieben haben. Diese Erinnerungen zelebriert der Film. Zugleich macht er die Lebenslust dieser Zeit spürbar, die sexuelle Freiheit und das Niederreißen von so vielen gesellschaftlichen Grenzen. Ein durch und durch politisches Leben, geprägt vom Begreifen des eigenen Körpers, seiner Selbstbestimmtheit und Sexualität. Baldiga erinnert meine Generation und auch viele noch jüngere Generationen, die den Film hoffentlich sehen werden, dass viele Menschen vor uns gekommen sind auf dessen Schultern wir stehen. Dieser Blick in die Vergangenheit ist wichtig, um die Gegenwart zu verstehen und eine mögliche Zukunft zu entwerfen. Ein weiteres großes Thema des Films ist AIDS, weil Baldiga nach seiner Infektion äußerst furchtlos zum Chronisten der Krankheit und des nahenden Todes wurde. Die Ehrlichkeit, die er dabei an den Tag legt, die seinen Alltag so unmittelbar erfahrbar macht, habe ich selten gesehen. Es entsteht das Bild einer Reise, einer Entwicklung. Und eine Dokumentation der Menschen um Baldiga herum, seiner queeren Wahlfamilie, der Solidarität und der Unterstützung.

Libuše Jarcovjáková in Ještě nejsem, kým chci být (I’m Not Everything I Want to Be) von Klára Tasovská

Eine zweite Fotografin, Libuše Jarcovjáková, die Klára Tasovská in Ještě nejsem, kým chci být (I’m Not Everything I Want to Be) porträtiert, war fast zur gleichen Zeit in Westberlin unterwegs. Man könnte fast vermuten, dass sie und Baldigs irgendwann getroffen haben...

Stimmt, ja, sie hätten sich wirklich treffen können in den 1980er. Ještě nejsem, kým chci být und Baldiga passen natürlich sehr gut zusammen. Wobei ersterer wirklich zu 100 Prozent über die Fotografien aus dem Archiv von Libuše Jarcovjáková erzählt wird. Eine Zeitspanne von circa 1968 bis Anfang der 1990er, in der sie uns auf ihrer Lebensreise von Prag über Tokio zurück nach Prag und Berlin mitnimmt. Im Off liest sie selbst ihre Tagebucheinträge vor, was dem Film eine besondere persönliche Note verleiht. Er zeigt das Bild einer Identität, die nie zur Ruhe kommt, die nie erwachsen oder fertig geformt ist. Ihre Geschichte beginnt direkt nach der Niederschlagung des Prager Frühlings und den damit verbundenen restriktiven, rigiden Auswirkungen auf eine Gesellschaft, die gehofft hatte, freier leben zu können. Jarcovjáková arbeitet zu der Zeit in einer Fabrik, dokumentiert ihre Tage mit der Arbeiterschaft, von der sie fasziniert ist. Außerdem ist sie in der queeren Community unterwegs, hat eine Beziehung zu einer Frau, probiert viele Dinge aus.

Sol Carballo in Memorias de un cuerpo que arde (Memories of a Burning Body) von Antonella Sudasassi Furniss

Ein weiterer Film, der von einer Befreiung erzählt, ist Memorias de un cuerpo que arde (Memories of a Burning Body) von Antonella Sudasassi Furniss. Und ein weiterer Beweis für die wirklich außergewöhnliche Formenvielfalt im diesjährigen Programm, oder?

Der Film hat tatsächlich eine wirklich interessante inszenatorische Ebene. Und ja, er thematisiert auch, wenn nicht ausschließlich, Sexualität und die Selbstbestimmtheit über den eigenen Körper, die eigene Lust. Zugleich erzählt er von den persönlichen und gesellschaftlichen Traumata, die sich in das Sein der porträtierten Frauen, die in einer patriarchal und religiös geprägten Kultur aufgewachsen sind, eingeschrieben haben. Im Off sind die wahren Lebensgeschichten von drei Frauen zu hören, die man nie sieht. Parallel entspinnt sich auf Bildebene der Spielfilm über eine Frau, der die Texte im Off inszeniert. Man sieht sie vom Kindesalter an bis sie verheiratet wird, eine unglückliche Ehe mit einem gewalttätigen Mann eingehen muss. Heute sind die drei Protagonistinnen in ihren später 60ern, frühen 70ern und geben sich alles andere als geschlagen, sondern finden in ihrem dritten Lebensabschnitt eine neue Lust am Leben. Sie feiern eine neue Selbstbestimmtheit und eine späte Sexualität. Diese Frauen sind ein starker Ausdruck eines feministischen Blicks, indem sie selbst und niemand sonst ihre Geschichte erzählen.

Anschließend an Afterwar stellt sich also erneut die Frage, wer welche Geschichte erzählt und wer zum Darsteller oder zur Darstellerin seiner selbst wird?

Absolut. Es gibt wirklich eine riesige Bandbreite an Inszenierungsformen im diesjährigen Programm. In Sayyareye dozdide shodeye man (My Stolen Planet) verwendet Farahnaz Sharifi Found Footage um die eigene Biografie und eine alternative Geschichte des Irans aus einer weiblichen Sicht, die in der iranischen Öffentlichkeit im Iran nicht vorhanden ist, zu schreiben. In dieser Formenvielfalt kommunizieren die Filme sehr stark untereinander.

Saoirse Ronan in The Outrun von Nora Fingscheidt

Zufluchtsorte

In vielen Filmen sind die Orte ein wichtiger Teil der Narration. Die spanische Touristenhochburg Benidorm in Les Paradis de Diane (Paradises of Diane) von Carmen Jaquier und Jan Gassmann, die raue Küste Schottlands in The Outrun von Nora Fingscheidt, Lençóis Maranhenses im Norden Brasiliens in Marcelo Bottas Betânia oder der kolumbianische Dschungel in Yo vi tres luces negras (I Saw Three Black Lights). Welche Beziehungen bestehen zwischen diesen besonderen Orten und den Charakteren?

In The Outrun und Betânia sind es Zufluchtsorte oder Orte der Rückkehr, Orte, an denen sich die Figuren mit ihren Traumata auseinandersetzen. Benidorm in Les paradis de Diane ist anders, die Stadt ist für die Protagonistin mit keiner Erinnerung verbunden, bietet ihr aber die Möglichkeit, komplett unterzutauchen und zu verschwinden. Diese Radikalität ist bewundernswert. Sie katapultiert sich komplett aus der extrem bürgerlichen aber sicheren schweizerischen Gesellschaft, indem sie nach der Geburt ihres Kindes einfach abhaut. Und ihr Körper rennt der Psyche hinterher, fängt sie immer wieder ein. Der Ort lässt diese Abkehr und die Einsamkeit noch besser zur Geltung kommen. Die einzige Person, zu der Diane eine Verbindung aufbaut, ist bereits am Verblassen, existiert nur noch als Geist. The Outrun erzählt von einer Rückkehr, von einer Suche nach sich selbst und einer Konfrontation mit den Wunden der Vergangenheit, die sich die Hauptfigur zum Teil selbst zugefügt hat, die ihren Ursprung aber auch in ihrer Kindheit haben. Der Film verwebt viele Zeitebenen. Betânia und Yo vi tres luces negras von Santiago Lozano Álvarez handeln von der Auseinandersetzung mit Trauer. In Yo vi tres luces negras auch von der Trauer über den eigenen Tod und das Ritual, das damit einhergeht. Verwebt mit einer Kriminalgeschichte voller paramilitärischer und blutiger Kämpfe. Was die beiden Arbeiten verbindet, ist die Musik, das gesungene Lied, das die Geschichten anreichert. In Betânia löst dieser Ort, Lençóis Maranhenses, eine unglaubliche Faszination aus. Die Seen und das Salz und dieses permanente Bewegen ist auch ein Spiegelbild für die brasilianische Gesellschaft.