2024 | Forum
Empathisch, vielfältig, solidarisch: Das Forum 2024
Zwischen Generationen, zwischen Genres, zwischen Menschen – das Forum lädt auch dieses Jahr dazu ein, an und über die Ränder des filmisch Gewohnten zu gehen. Erstmals unter der Leitung von Barbara Wurm verbindet die Sektion Genrevielfalt mit kritischem Kino und gibt jenen Stimmen eine Plattform, die anderswo übertönt, belächelt oder verdrängt werden. Die Filme erzählen mal langsam und mal actiongeladen, mal singend und mal schweigsam.
Du hast im letzten Sommer die Leitung vom Forum übernommen. Worauf hast Du Dich besonders gefreut, als Du die Position angetreten hast?
Die Freude war von Anfang an mit einer gewissen Ehrfurcht verbunden. Das Forum ist eine Sektion mit großer Tradition. Bevor ich die Leitung übernommen habe, war ich vier Jahre im Auswahlkomitee der Berlinale und kannte dadurch das Festival. Besonders gefreut habe ich mich darauf, mit den Mitarbeitenden der Berlinale und des Arsenals direkt zusammenzuarbeiten.
Das Sichtungsteam zusammenzustellen, war wahrscheinlich mein größtes Experiment für diese Edition. Mir war es wichtig, dass es verschiedene Altersgruppen abbildet und dass die Leute so offen wie möglich an die Filme herangehen, ohne sie gleich in eine Festivalschublade zu stecken.
Was verändert sich in der kommenden Edition?
Die Sektion ist jetzt offener für populäre Formen. Ich nehme Filme, die Unterhaltungswert haben, ästhetisch trotzdem ernst. Das führt auch dazu, dass das Programm auf den ersten Blick weniger homogen wirkt. Ein Film wie Reas von Lola Arias ist experimentell und gleichzeitig charmant, ein hybrides Musical mit unkonventionellen Elementen, dessen Story trotzdem zugänglich ist.
Die Sektion hat manchmal den Ruf, etwas sperrig zu sein. Welche Forumsfilme würdest Du Leuten empfehlen, die dieses Jahr neugierig sind, aber bisher wenig Erfahrungen mit dem Forum gemacht haben.
Pa-myo (Exhuma) aus Korea ist ein typischer Genrefilm, der auch auf Netflix laufen könnte – nicht zuletzt, weil er Stars hat, den Old Boy-Darsteller Choi Min-sik zum Beispiel. Actionfilme haben ja eine schöne Tradition im Forum, es gab mal eine Zeit mit Genrekino aus Hongkong, etwa von Johnnie To. Pa-myo hat soziale, politische und historische Elemente, was ihn spannend macht. Inhaltlich schließt er an das Thema der Ausgrabung an, was wir intern als „opening the boxes“ bezeichnet haben. Das ist ein Thema, das sich auch in anderen Filmen des Programms findet.
Welche Filme graben denn sonst noch Dinge aus oder öffnen Kisten?
Il cassetto segreto (The Secret Drawer) hat Archivcharakter, ein klug montierter Film von Costanza Quatriglio, einer sizilianischen Regisseurin. Sie begann, ihren Vater – einen berühmten Journalisten und Fotografen – zu filmen, als er 90 war. Die beiden öffnen gemeinsam Boxen, auch solche, die bisher geheim waren. In Spuren von Bewegung vor dem Eis (Traces of Movement Before the Ice) begleitet René Frölke die Erben des Schweizer Pendo Verlags. Das ist ein medial experimenteller Film, mit Bildern von verschweißten Büchern und Buchstabenreihen, der aber auch große Fragen stellt – zum Archiv, zu Zeitkapseln, zum Umgang mit der Vergangenheit.
Resonance Spiral von Filipa César und Marinho de Pina porträtiert die Mediateca Onshore in Guinea-Bissau, wo das Archiv zum Begegnungsort wird. Oder eine echte Entdeckung, ein Film, auf den wir aus den vielen Einreichungen stießen: L’homme-vertige (Tales of a City) von Malaury Eloi Paisley, einer Künstlerin aus Guadeloupe. Sie begleitet fünf Jahre lang verschiedene Menschen in Pointe-à-Pitre, die obdachlos sind oder in prekären Situationen leben. Der Film hat Momente, in denen die Gesichter dieser Menschen plötzlich groß auf der Leinwand zu sehen sind – wie Porträtfotos. Das ist eine empathische Art, Armut zu filmen.
Ein Thema vieler Forumsfilme in diesem Jahr ist die Familie. Aber nicht klassisch als Kernfamilie, sondern als Beziehung zwischen den Generationen. War das ein Trend bei den eingereichten Filmen?
Transgenerationale Beziehungen und alternative Gemeinschaften sind uns dieses Jahr von Anfang an begegnet. Beim Thema „alternative communities“ ist der chinesische Dokumentarfilm Republic von Jin Jiang interessant. Das ist ein typischer Undergroundfilm, anarchisch. Die Protagonist*innen kreieren eine alternative Welt, in der sie Zuflucht finden.
Was die transgenerationalen Beziehungen angeht, so ist das in der Tat ein Leitfaden unserer Auswahl. Der Dokumentarfilm Reproduktion von Katharina Pethke etwa untersucht die (Un-)Vereinbarkeit von Mutterschaft und künstlerischem Beruf entlang dreier Generationen von Frauen in Deutschland. Als Ausgangspunkt dient der Gebäudekomplex Hamburger Kunsthochschule und Geburtsklinik, der Pethke selbst mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter verbindet.
Darüber hinaus haben wir zwei (post-)migrantische Projekte von deutsch-iranischen Filmschaffenden im Programm, die sich auf eigene Weise mit dem transgenerationalen Thema auseinandersetzen. Shahid von Narges Kalhor geht dabei draufgängerisch-doppelbödig vor, ein autofiktionaler Film, der sich mit der Last des patriarchalen Erbes auseinandersetzt. Bei Was hast du gestern geträumt, Parajanov? ist es spannend, wie Faraz Fesharaki, der Regisseur, VHS-Material aus seiner Kitazeit im Iran mit jenem Videomaterial verwebt, das er über zehn Jahre lang von seinen virtuellen Familientreffen gesammelt hat. Die Trennung von Archivmaterial, footage und found footage wird immer schwerer.
In Voices of the Silenced treten die Regisseurinnen auch selbst vor die Kamera.
Voices of the Silenced zeigen wir im Forum Special gemeinsam mit Deda-Shvili on rame aris arasodes bolomde bneli (Mother and Daughter, or the Night is Never Complete). Beide Filme handeln von Müttern und Töchtern, die Filmemacherinnen sind und ihr eigenes Werk reflektieren. Trotzdem sind sie unterschiedlich. Mother and Daughter ist von Lana Gogoberidze, einer bekannten georgischen Filmemacherin, die schon als sowjetische Regisseurin international bekannt war und auf allen Filmfestivals lief. Später war sie sogar Kulturministerin. Bis heute ist sie eine der wichtigsten Stimmen der Kultur in ihrem Land. Park Soo-nam auf der anderen Seite kommt aus einfachen Verhältnissen und hat mit 50 Jahren entschieden, die Leute aus ihrem Umfeld zu portraitieren. Sie zeigt die verdrängte und verschwiegene Geschichte der koreanischen Bevölkerung in Japan auf. Ein mutiges, dekoloniales Projekt. Beide Filme sind dabei nicht schreiend oder wütend, sondern empathisch, leise und solidarisch.
Welche Filme zeigt ihr neben den Arbeiten von Lana Gogoberidze und Park Soo-nam noch im Forum Special?
Wir zeigen Diese Tage in Terezín (Those Days in Terezín) von Sibylle Schönemann, der auch gut zum Thema Widerstand und transgenerationale Beziehungen passt. Er lief schon 1997 im Forum und wir freuen uns, diesen wichtigen Film als 35mm Kopie vorführen zu können. Oder Techqua Ikachi, Land – mein Leben aus dem Jahr 1989. Das Arsenal hat den Film digital restauriert, auch das ist ein Archiv-Film, der die Super 8-Aufnahmen des Hopi James Danaqyumtewa in den Film integriert und damit das Archivmaterial, die Kunst, das Gedächtnis und die Kultur der Hopi aufbewahrt und gleichzeitig lebendig hält.
Darüber hinaus findet ein besonderes Screening von Kaddu Beykat statt. Anlässlich des ersten Todestags der senegalesischen Regisseurin Safi Faye, deren Filme auch im Forum gezeigt wurden. Am 22. Februar veranstalten wir gemeinsam mit dem HKW für sie einen Gedenkabend. Dazu kommen Safi Fayes Tochter, Zeïba Monod und der Filmemacher Raoul Peck. Er hat sich des Werks von Safi Faye angenommen und es freut mich, dass er bei der Veranstaltung dabei sein wird.
Ein weiterer Schwerpunkt im Forum Special sind die Kurzfilme der österreichischen Künstlerin Maria Lassnig. Im regulären Forumsprogramm läuft dazu noch das Biopic Mit einem Tiger schlafen.
Anja Salomonowitz, die Regisseurin von Mit einem Tiger schlafen, schätzt Maria Lassnig, sie kennt sie gut. Für Österreich ist Lassnig eine der wichtigsten Avantgardekünstlerinnen, und sie hat auch Filme gemacht, die damals in den 1970er Jahren über die Vorführung im Forum international bekannt wurden. Diese tollen filmischen Animationen und Zeichnungen handeln spielerisch immer auch von der eigenen Biografie, die nicht ins Laufen kommt, von der Karriere einer Frau inmitten einer Welt der Männer, von Geschlecht, von Sex, von Gender, vom Kreativ-Sein als Frau.
Mit einem Tiger schlafen ist zwar ein Biopic, aber eben auch ein ungewöhnlicher Film. Birgit Minichmayr spielt Maria Lassnig in allen Altersgruppen, als Kind wie im Alter. Der Film greift die Doppelung von Innen- und Außenperspektive auf, die für das Werk von Maria Lassnig so zentral ist: Sie schaut von außen auf sich, auf ihren Körper und auf sich als Objekt.
Ihr habt das Forum Special unter das Motto „Relations & Resistance“ gestellt. Der Blick auf verdrängte Geschichte hat also etwas widerständiges. Da lässt sich ein aktueller Bezug sehen.
Ich glaube, dass die genaue, ehrliche Auseinandersetzung mit Geschichte heute per se etwas Widerständiges hat. Mit mehr Komplexität und der Revision von bis heute nicht restlos „aufgeklärten“ ideologischen Inhalten. Insofern würde ich viele unserer Filme als politisch bezeichnen, aber es gibt zwei Dokumentarfilme, die das auch auf den ersten Blick sind. Intercepted von Oksana Karpovych zeigt auf der Bildebene die zerstörten Städte und Straßen in der Ukraine, während auf der Tonebene vom ukrainischen Sicherheitsdienst abgefangene Telefongespräche russischer Soldaten mit ihren Frauen oder Müttern zu hören sind. Es wird klar, dass das nicht einfach Männer sind, die von Putin in den Krieg gezwungen werden, sondern Menschen, die bewusst plündern und töten.
Außerdem ist da Oasis von Tamara Uribe und Felipe Morgado. Das ist ein komplexer Film, der von den landesweiten Protesten 2019 in Chile handelt. Dort sollte eine neue Verfassung etabliert werden, was am Ende gescheitert ist. Das Regieduo filmt die Demonstrierenden ohne Kommentar und Einordnung. Dadurch wird nie explizit gemacht, wer gerade spricht und ob es ein eher linker oder rechter Diskurs ist. Der Film handelt vom Politischen als Aushandlungsprozess, er fragt, wieviel Protest Demokratie braucht und wieviel Demokratiepotenzial im Protest steckt.
Wollt ihr mit dem Programm dazu ermutigen, gewaltlos widerständig zu sein?
Ich glaube nicht, dass man am Ende mit dem Filmprogramm einen Ratgeber zusammenstellt. Aber wenn sich jene Haltung, die wir beim Auswählen und Diskutieren der Filme gemeinsam entwickelt haben, auch in der Filmvermittlung fortsetzen ließe, wäre das schon toll. Die Filme machen dabei den Anfang und stehen im Zentrum.
In den Filmen des Forums geht es dieses Jahr viel um Frauen und ihre Beziehungen untereinander. Generell habt ihr weniger Filme von Männern im Programm. Im Mainstream sind Männer aber weiterhin überpräsent. Zeigt euer Programm, dass es anders geht?
Einerseits lege ich natürlich Wert darauf, von Anfang an zu schauen, wer hinter der Kamera bzw. dem Film steht. Andererseits muss ich zugeben, dass das ab einer gewissen Produktionsgröße ziemlich schwierig wird. Das Tolle am Forum ist ja, dass wir uns nicht darum scheren müssen, ob die Filme teuer, groß oder knallig sind, es geht immer auch um den Blick auf den Independentfilm, nicht um Verkaufszahlen. Aber bei Spielfilmen mit einer gewissen Größe und einem höheren Budget wird die Luft, was Frauen in der Regie betrifft, dünn. Bei Dokumentarfilmen ist das anders. Das lässt sich beobachten und abbilden, und dagegen müssen wir Festivalmacher*innen genauso aktiv werden wie die Filmförderpolitik. Deshalb war es uns wichtig, Regisseurinnen erneut einzuladen – etwa Lola Arias mit Reas oder Anja Salomonowitz – aber auch Filmemacherinnen einzuladen, die zwar im Forum neu sind, aber schon etliche Filme gemacht haben, erfahren sind, wie Costanza Quatriglio, Eva C. Heldmann oder Keren Cytter, die allerdings schon bei Forum Expanded war.
Gibt es Filme im Programm, die man vielleicht nicht im Forum erwarten würde?
Wir haben im Forum ein paar Filme, von denen sicherlich – ich hoffe das zumindest – nachher gesagt wird, sie hätten durchaus auch in einer anderen Sektion laufen können. Shô Miyake etwa war zwar mit seinem Erstling im Forum, dazwischen bei Encounters, und ist nun mit seinem Film Yoake no subete (All the Long Nights) wieder im Forum. Dieser äußerst poetische Film handelt von zwei Angestellten, sie hat dauernd PMS und er Panikattacken – im Grunde zwei Loser der industrialisierten Stressgesellschaft, die sich da einander annähern. Sie entwickeln eine große Nähe, ohne dass es eine romantische Liebesgeschichte wird.
Săptămâna Mare ist auch so ein Film, der aufgrund seiner narrativen, dramaturgischen Geschlossenheit auf den ersten Blick untypisch für einen Forumsfilm ist. Der rumänische Regisseur Andrei Cohn hat hier eine Novelle verfilmt, die kurz vor 1900 spielt, während der Pessachzeit. Es geht um den jüdischen Betreiber eines Gasthofs, in dem alle Konfessionen und Ethnien des Dorfes zusammenkommen. Sukzessive wachsen aber die Spannungen zwischen Christen und Juden. Der Film ist im Grunde eine faszinierende psychologische Analyse davon, wie Gewalt, wie Antisemitismus und Rassismus funktionieren und sich auf Menschen auswirken.
Gibt es einen Film im Programm, der dir besonders am Herzen liegt?
Ihre ergebenste Fräulein (Well Ordered Nature) von Eva C. Heldmann ist einer meiner diesjährigen Lieblingsfilme: ein Essay in der wunderbaren Sprache des 18. Jahrhunderts gehalten, das die Biografie der heute vergessenen Botanikerin und Pädagogin Catharina Helena Dörrien erzählt. Ihr Leben wird in den Kontext der Aufklärung, der damaligen gesellschaftlichen Normen gestellt. Die Sprache ist wirklich besonders – und die Freiheit, die die gefilmten Blumen in diesem Film zum Ausdruck bringen. Für mich erbaulich.
Ist das Forum eine besonders politische Sektion?
Das Forum stellt die Frage, was ein politischer Film eigentlich ist, wie er formal aussieht, wie komplex die Frage Form und Inhalt ist. Wir zeigen dieses Jahr extrem politische Filme, denen man das auf den ersten Blick überhaupt nicht ansieht. Kottukkaali (The Adamant Girl) von Vinothraj PS zum Beispiel. Der ist feministisch und erzählt von einer misogynen, patriarchalen Gesellschaft, aber eben verkleidet als Roadmovie.
Oder La piel en primavera (Skin in Spring) von Yennifer Uribe Alzate, der wie harmloses Arthousekino daherkommt, weil es um eine alleinstehende Mutter geht, die sich und ihren Körper neu entdeckt. Aber gleichzeitig vermittelt der Film die Emanzipation dieser Frau als innere Verwandlung – inmitten ihres Alltags.
Oasis of Now von Chee Sum Chia ist anders von der Form, sehr distinguiert und schön, stellt aber ebenfalls eine Frau ins Zentrum. Sie ist eine Vietnamesin in Malaysia, also eine Migrantin, die ganz selbstverständlich fünf Sprachen spricht. Sie putzt und wischt und kümmert sich um Kinder und um Alte. Es war uns wichtig, dass wir im Programm einen starken Bezug zu gelebten Realitäten haben und nicht nur zu unserem Inseldasein, hier in Berlin.
Was zeichnet diese Forumsedition aus?
Dieses Jahr zeichnet sich das Forum meiner Meinung dadurch aus, dass die Filme für sich alleine stehen und gemeinsam trotzdem ein stimmiges Programm ergeben, das von Haltung zeugt. Wir haben uns geöffnet, und gleichzeitig haben die kleinen, dokumentarischen Filme noch einen Platz. Es sind insgesamt 30 Filme aus 32 Produktionsländern im Hauptprogramm, eine gewisse Breite und Größe, was mir wichtig ist. Jetzt hoffen wir, dass sich unsere Begeisterung auf das Publikum überträgt. Ich bin gespannt auf diese Edition!
Übrigens: Ausführliche Interviews mit Filmschaffenden und weitere Infos zu den Forumsfilmen gibt es auf der Website des Arsenals!