2023 | Wettbewerb
Die Fesseln sprengen
Einen stark emotionalen Wettbewerb 2023 versprechen der Künstlerische Leiter Carlo Chatrian und der Leiter des Programms Mark Peranson. Im Interview sprechen sie außerdem über das Gewicht der Realität, das notwendige Gleichgewicht zwischen etablierten Regisseur*innen und neuen Gesichtern und krisenhafte Vaterfiguren in der diesjährigen Auswahl.
Die Welt befindet sich im Wandel. Krisen, Konflikte, der Zerfall autoritärer Regime und ein ungebrochener Wille, sich durchzusetzen und Widerstand zu leisten, bestimmen häufig das Bild. Wie spiegelt sich dieser Sicherheitsverlust in Programm und Festival wider?
Die Pandemie hat das Gefühl der Isolation verstärkt und bewegte Bilder haben uns dabei geholfen, miteinander und mit der Welt da draußen in Verbindung zu bleiben. Dann hat plötzlich der Krieg mit der Wucht eines Hurrikans Einzug gehalten. Doch – und wir sagen das wirklich ungern – das ist nach wie vor ein Bild. Er ist lediglich näher an uns herangerückt und wir sind deswegen betroffener, bewegter – aber wir würden nicht sagen, unsicherer. Wir besuchen immer noch Restaurants, planen unseren Urlaub, gehen ins Kino... Mehr als sonst haben die Filme, die wir im vergangenen Jahr gesehen haben, das Gewicht der Realität transportiert. Oder vielleicht haben einfach genau diese Filme unser Interesse geweckt. In beiden Fällen ist das diesjährige Programm, und das betrifft nicht nur den Wettbewerb, sondern das gesamte Festival, enger mit Filmen verbunden, die sich auf tatsächliche Ereignisse beziehen – sei es auf die jüngste Vergangenheit oder die Gegenwart.
Das Programm überzeugt vor allem durch seine Genrevielfalt: Dokumentar-, Spiel- und Animationsfilme konkurrieren gemeinsam um die Bären. Wie kommt diese Vielfalt zustande?
Im Wettbewerb und im gesamten Berlinale-Programm sind seit jeher sehr unterschiedliche Filme vertreten. Daher überrascht uns die eklektische Auswahl in diesem Jahr nicht. Wenn wir das Programm mit den vorherigen Editionen vergleichen, sind wir in diesem Jahr sicherlich breiter aufgestellt. Wir zeigen etliche Filme aus Ostasien, aus Ländern, die im vergangenen Jahr fehlten, und die USA sind präsenter; auch das führt zu einer Genrevielfalt, da die Produktionssysteme dieser Länder auf populärer Unterhaltung basieren und ein größeres Publikum ansprechen.
Letztes Jahr habt Ihr das Programm als einen permanenten Dialog mit dem Publikum beschrieben und dabei betont, wie wichtig es sei, weiterhin die Entwicklung erfahrener Regisseur*innen zu verfolgen, die schon mehrmals bei der Berlinale dabei waren. Wie sieht es mit dem Verhältnis zwischen „alten Bekannten“ und neuen Gesichtern in diesem Jahr aus?
In diesem Jahr geben wir aktuellen, neuen Stimmen mehr Raum: mit drei Spielfilmdebüts und anderen jungen Filmschaffenden, die zum ersten Mal im Wettbewerb dabei sind. Das haben wir nicht vorab geplant, sondern es ist das Ergebnis des Auswahlprozesses und dessen, wie die Filme auf uns gewirkt haben. Etablierte Filmemacher*innen wie Christian Petzold, Philippe Garrel, Margarethe von Trotta und Rolf de Heer schaffen eine gute Balance. Das ist wichtig, denn sie sind das Bindeglied zur Geschichte des Kinos, für das die Berlinale steht. Es ist unmöglich, sich weiterzuentwickeln, ohne ein Gefühl dafür zu haben, woher wir kommen. Wenn wir uns darüber freuen, dass die Berlinale mit jungen Regisseur*innen in Verbindung gebracht wird, sollte dies immer auch im Rahmen einer ausgewogenen Auswahl passieren.
Mit Angela Schanelec, Christian Petzold und Christoph Hochhäusler sind drei Protagonist*innen der „Berliner Schule“ im Programm vertreten. Wie hat sich diese Bewegung im Laufe der Jahre verändert? Haben ihre Vertreter*innen immer noch Gemeinsamkeiten?
Wir wissen ehrlich gesagt nicht, was mit diesem Begriff gemeint sein soll. Die genannten Filmschaffenden haben jeweils ganz unverkennbare Stile und komplett unterschiedliche Vorstellungen davon, wie sie Filme machen und das Kino begreifen. Es ist interessanter, sie einzeln zu betrachten und sich anzusehen, wie sich ihre Arbeit im Laufe der Jahre entwickelt hat. In dieser Hinsicht gehören sie wohl zu den besten Beispielen für „Auteurs“ – da die Elemente, die all ihre Filme durchziehen, stärker sind als das, was sie jeweils voneinander unterscheidet. Die neuen Filme von Schanelec, Hochhäusler und Petzold sind ein weiterer Schritt in einem Prozess, bei dem es darum geht, ästhetische Kriterien dafür festzulegen, was einen Film ausmacht und wie wir in der heutigen Zeit Geschichten erzählen können.
Letztes Jahr habt Ihr auch den Humor in den Filmen hervorgehoben. Wie würdet Ihr die Tonalität des diesjährigen Wettbewerbs beschreiben?
Es ist immer schwierig vorauszusehen und eine Momentaufnahme, wie die Filme beim Publikum ankommen werden. Außerdem kann sich die Gefühlslage bei den einzelnen Zuschauer*innen im Laufe des Festivals verändern. Die emotionale Dimension in den Filmen scheint dieses Jahr recht stark ausgeprägt zu sein und es ist zu vermuten, dass im Berlinale Palast so manche Träne fließen wird! In einer sehr eklektischen Auswahl zieht sich das Melodram vermutlich am ehesten als roter Faden durchs Programm. Außerdem zeigen wir mehr Filme als sonst, in denen Kinder vorkommen; in drei von ihnen – Suzume, 20.000 especies de abejas und Tótem – spielen junge Mädchen die Hauptrolle.
Coming-of-Age-Filme sind ein bestimmendes Thema der diesjährigen Berlinale – ganz besonders in der Retrospektive. Die Geschichte von Lucia/Aitor in 20.000 especies de abejas klingt wie eine sehr spezielle CoA-Story. Gleichzeitig erzählt der Film von Frauen aus drei Generationen. Beschränkt sich CoA für Euch auf einen bestimmten Lebensabschnitt – wie Kindheit oder Jugend? Oder können ältere Generationen auch noch diese speziellen Momente erfahren, die ein Leben bzw. eine Persönlichkeit prägen?
Es stimmt, dass alle Frauen in 20.000 especies de abejas ihre Probleme selbst lösen müssen und dabei in der Tat ihren persönlichen „Coming-of-Age-Prozess“ durchleben. Wir sehen auch in den Filmen der Retrospektive, dass sich dieser Prozess nicht auf Kinder oder gar Teenager beschränkt (wie beispielsweise in Emily Atefs Irgendwann werden wir uns alles erzählen), sondern viele Figuren ihn jederzeit – ausgelöst durch persönliche oder gesellschaftliche Einschnitte – durchlaufen können. In Art College 1994 von Liu Jian, der an einer Universität spielt, versuchen die Protagonist*innen infolge der Öffnung Chinas für westliche Einflüsse in den 1990er Jahren neue persönliche und politische Identitäten zu finden. In Philippe Garrels Le grand chariot treten die erwachsenen Mitglieder eines Puppentheaters für Kinder auf, müssen aber private und berufliche Krisen bewältigen und gehen daraus als kultiviertere Erwachsene hervor. Und obwohl der Protagonist/Autor in Christian Petzolds Roter Himmel bereits einen Roman geschrieben hat, macht ihn das, was er im Laufe des Films durchlebt, sicherlich zu einem reiferen, facettenreicheren Menschen.
Räume, also der gebaute Raum, ist ein zentraler Aspekt im Programm: das Tageszentrum für psychisch erkrankte Erwachsene in Sur l'Adamant, das Hotel in Mal Viver, das Haus in Tótem . Gibt es noch weitere Beispiele?
Interessant. Darüber haben wir bisher noch nicht nachgedacht. Auch das Ferienhaus am Meer in Roter Himmel hat eine entscheidende Funktion, das Hotel in Limbo von Ivan Sen spielt für die Psychologie des Ermittlers eine wichtige Rolle und die Auseinandersetzung mit Architektur – wie bei Hochhäusler üblich – ist äußerst zentral in Bis ans Ende der Nacht. Dennoch scheint es so, dass – von Mal Viver einmal abgesehen – der gebaute Raum kein Ort der Sicherheit, sondern eher des Austauschs ist. Das Tageszentrum (Sur l'Adamant), die Häuser (Tótem, Irgendwann werden wir uns alles erzählen) und die Büros (BlackBerry) werden zu Orten, die Menschen von außerhalb betreten. Das ist auch der Ausgangspunkt von Roter Himmel, als der Protagonist feststellt, dass das Haus, das er als Rückzugsort zum Arbeiten nutzen wollte, schon besetzt ist. Der private Raum existiert nicht mehr, sondern es ist vielmehr ein Raum, den es auszuhandeln gilt. Das ist jedoch kein schlechtes Zeichen – zumindest nicht in den von uns ausgewählten Filmen.
Im Programm wimmelt es von Vaterfiguren. Philippe Garrel holt seine Kinder vor die Kamera, in Music geht es um einen Vatermord, in Bai Ta Zhi Guang begibt sich der Protagonist auf die Suche nach seinem Vater, eine VATER-Figur in einer ausweglosen Krise sehen wir sehr eindrücklich in Manodrome. Welche Tendenzen lassen sich in dieser Vielfalt erkennen?
Vaterschaft ist seit jeher ein sehr präsentes Thema im Kino. In allen genannten Filmen – sowie in Tótem, Suzume, Disco Boy, Limbo – fehlt die Vaterfigur oder sie ist unvollständig. Sie ist abwesend, entweder bereits weg oder gerade im Begriff zu gehen. Zu denken wäre auch an die Rückkehr des Vaters in Wu Langs Debütfilm Xue yun, der in Encounters zu sehen sein wird. Der Vater ist nicht mehr die Säule, auf der man seine Identität aufbauen kann, sondern ganz im Gegenteil etwas, mit dem man sich herumschlagen muss – wie in 20.000 especies de abejas. Ähnlich symbolisch verhält es sich mit der Vaterfigur in BlackBerry von Matt Johnson. Ich denke, das ist ein roter Faden, der sich merklich durch das 21. Jahrhundert zieht. Da ist dieser unbewusste Wunsch, mit unserer Vergangenheit zu brechen, neu anzufangen.
Kunst spielt im Leben der Protagonist*innen eine besondere Rolle. In Disco Boy und Music ist es die Musik, in Roter Himmel, Irgendwann werden wir uns alles erzählen und Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste die Literatur, in Le grand chariot das Puppenspiel. Kann sie ein stabiler, sicherer Gegenentwurf zur Außenwelt sein?
Wir haben einen Film, der das Wort „Kunst“ im Titel trägt. In Art College 1994 geht es um Kunst und die Rolle, die sie in unserem Leben einnehmen kann und sollte. Ganz allgemein gesprochen: In den ausgewählten Filmen kommen sehr viele Figuren vor, die einen Bezug zur Kunstwelt haben, so wie in von Trottas Film über Ingeborg Bachmann und Max Frisch – und selbst einige, die überhaupt nichts mit Kunst zu tun haben, legen eine künstlerische Attitüde an den Tag. Die Nerds in BlackBerry sind verrückt nach Filmen, die jugendliche Protagonistin aus Irgendwann werden wir uns alles erzählen liest Dostojewski und ihr junger Liebhaber ist Fotograf, die Mutter in 20.000 especies de abejas ist Künstlerin, die unter der Last des väterlichen Erbes leidet, die Hauptdarstellerin in Past Lives studiert Dramaturgie... Dafür gibt es viele Gründe. Kunst kann therapeutisch sein, wie in einer wunderbaren Szene in Nicolas Philiberts Dokumentarfilm Sur l’Adamant. Selbst wenn sie nicht so eindeutig strukturiert ist, ist es dennoch ganz natürlich und wichtig, dass die Kunst den Menschen hilft, sich von den Abläufen des täglichen Lebens zu lösen.
Das Motiv des Gefangenseins taucht in mehreren Filmen auf, ganz deutlich in The Survival of Kindness. Der Protagonist in Music landet im Gefängnis, die Figuren in Roter Himmel sitzen wegen einer Feuersbrunst in der Falle. Andere suchen verzweifelt nach Auswegen, wie Aleksei in Disco Boy oder Ralphie in Manodrome – beide scheinen sich in eine rauschhafte Dissoziation zu flüchten. Wie seht Ihr diese Beziehung? Können wir diese beiden Zustände überhaupt zueinander in Beziehung setzen?
Neben dem Käfig, in dem die Frau am Anfang von The Survival of Kindness buchstäblich gefangen ist, wird in Encounters ein Film mit dem Titel The Cage Is Looking for a Bird gezeigt (Originaltitel: Kletka ishet ptitsu). In den erwähnten Filmen ist jedoch genau das Gegenteil der Fall: Wir sehen das Verlangen, auszubrechen. Aleksei (Franz Rogowski) in Disco Boy ist wahrscheinlich das beste Beispiel dafür. Aber eigentlich ist die diesjährige Auswahl voller Figuren, die ständig in Bewegung sind: Der junge Vater in Manodrome und die Teenager in Suzume. Ingeborg Bachmann, die Studierenden in Art College 1994 und die Femme fatale in Bis ans Ende der Nacht, sogar der ermittelnde Protagonist in Limbo... All diese Menschen kämpfen darum, die Fesseln zu sprengen, die ihnen die Gesellschaft angelegt hat.